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Veröffentlicht 11. September 2014 von Susanne Dambeck

Einbahnstraße in Richtung Interdisziplinarität?

Für ein erfolgreiches interdisziplinäres Team – braucht man richtige Experten!
Interdisziplinarität wird als das Überschreiten von Disziplin-Grenzen definiert, und zwar mit dem Ziel etwas Neues zu schaffen, beispielsweise ein Forschungsprojekt, das auf die Methoden der Biologie, der Chemie und der Physik zurückgreift. Das Beispiel beschreibt recht treffend die Arbeit von Hartmut Michel, Johann Deisenhofer und Robert Huber, die sich 1988 einen Nobelpreis für Chemie teilten. Diese drei Forscher beschrieben die dreidimensionale Struktur eines Membranprotein-Komplexes mit der Hilfe der Röntgenstrukturanalyse. Ein kurzes Resümee aller benötigten Disziplinen: Die Fragestellung kam aus der Biologie (Membranproteine lassen sich schwer kristallisieren, deshalb kann man die Anordnung der Atome nur mühsam bestimmen), die Röntgenstrukturanalyse stammt aus der Festkörperphysik, der Nobelpreis wurde im Fach Chemie verliehen, und praktische Anwendungen wird es wohl in der Medizin, der Botanik oder in anderen Fächern geben.

Hartmut Michel bekam den Nobelpreis für Chemie 1988 für die Beschreibung eines membranproteins mit Hilfe der Röntgenstrukturanalyse. #lnlm14, Foto: Ch. Flemming/LNLM
Hartmut Michel bekam den Nobelpreis für Chemie 1988 für die Beschreibung eines Membranproteins mit Hilfe der Röntgenstrukturanalyse. #lnlm14, Foto: Ch. Flemming/LNLM

Wenn man sich die preisgekrönten Arbeiten der Nobelpreisträger in den Naturwissenschaften genauer anschaut, dann haben sehr viele von ihnen die Methoden aus anderen Disziplinen verwendet, um etwas Neues zu entdecken. Peter Agre konnte ebenfalls mit Hilfe der Röntgenstrukturanalyse die genaue Struktur eines Proteins beschreiben, dessen Funktion er noch nicht einmal kannte. Auch er erhielt den Nobelpreis für Chemie, und die Ergebnisse seiner Arbeit wendet er heute in der medizinischen Malariaforschung an. Insbesondere die Medizinforschung, aber auch die Biologie und Molekularbiologie sind heute massiv auf bildgebende Verfahren aus der Physik angewiesen. Ein weiteres Beispiel: Hamilton Smith hätte niemals die Restriktionsenzyme gefunden, für deren Entdeckung er den 1978er Medizinnobelpreis erhielt, wenn er nicht zuvor eine solide Grundausbildung in Mathematik genossen hätte.

Peter Agre hat ebenfalls mit der Röntgenstrukturanalyse Proteine charakterisiert. #lnlm14, Foto: Ch. Flemming
Peter Agre hat ebenfalls mit der Röntgenstrukturanalyse Proteine charakterisiert. #lnlm14, Foto: Ch. Flemming

Gleichzeitig trifft immer noch zu, dass man für eine wissenschaftliche Karriere in einem einzigen Fach erfolgreich sein sollte, selbst wenn man in interdisziplinären Projekten arbeitet. Denn als Experte gilt nach wie vor, wer „sehr viel über sehr wenig weiß“, und ein erfolgreiches Team besteht oft aus einer Gruppe solcher Experten. Alle oben genannten Forscher hatten eine sehr gründliche Ausbildung in einer Disziplin durchlaufen. Aber wenn man nach vielen Jahren Studium endlich ein echter „Experte“ ist – wird man dann noch offen auf andere Disziplinen zugehen, die ihre eigene Sprache, ihre eigenen Methoden und Forschungsdesigns haben? Die bereits genannten, sehr erfolgreichen Wissenschaftler waren dazu offenbar in der Lage.

Johann Deisenhofer erhielt den Nobelpreis für Chemie 1988 zusammen mit Hartmut Michel und Robert Huber. #lnlm14, Foto: Ch. Flemming/LNLM
Johann Deisenhofer erhielt den Nobelpreis für Chemie 1988 zusammen mit Hartmut Michel und Robert Huber. #lnlm14, Foto: Ch. Flemming/LNLM

Wenn Interdisziplinarität der unumstrittene Königsweg zum wissenschaftlichen Erfolg wäre  – warum möchten dann die meisten Inter-Disziplinen nichts lieber werden als eine „richtige“ Disziplin? Nanotechnologie, Umweltstudien und diverse Minderheitenstudien sind ein paar Beispiele für sich entwickelnde Disziplinen, die Neurowissenschaft und die Biochemie haben es bereits geschafft. Ganz einfach: Eine eigene Disziplin hat viele Vorteile, wie volle Professorenstellen, ein eigenes Budget innerhalb der Universitätsverwaltung, Fachzeitschriften usw. Außerdem kann man mit einer eindeutigen Disziplin im Rücken leichter Karriere machen – Gutachter sowohl für Artikel als auch in Besetzungsgremien kommen häufig aus einer einzigen akademischen Tradition. Aus deren Sicht könnten jüngere Kollegen, die vor allem mit interdisziplinären Ansätzen arbeiten, „unwissenschaftlich“ erscheinen. Interdisziplinarität hat also auch ein paar Nachteile. Und ein Fach wie Nanotechnologie wird sich wahrscheinlich leichter etablieren lassen wegen seiner mannigfaltigen Anwendungen, als zum Beispiel interdisziplinäre Studiengänge, die sich mit kulturellen Minderheiten befassen.

Wenn Interdisziplinarität ins Spiel kommt, geht es meist um etwas Neues: neue Fragestellungen, neue Lösungen oder neue Technologien. Manchmal geht es auch um vernachlässigte Fragen (wie beim Thema Umwelt) oder um wenig beachtete gesellschaftliche Gruppen. „Die Methode sollte zum Problem passen, nicht umgekehrt“ – so könnte das Motto der Verfechter interdisziplinärer Ansätze lauten. Bewiesenermaßen können dadurch kreative Energien in der Forschung freigesetzt werden. Gleichzeitig werden zurzeit in den USA viele interdisziplinäre Studiengänge für Bachelor-Studenten wieder geschlossen. Seit längerem gibt es eine Debatte darüber, ob solche Studien für Studenten im Grundstudium nicht zu anspruchsvoll sind – oder wehren sich hier die akademischen Disziplinen? Gibt es gar eine „Hegemonie der Disziplinen“? Andererseits muss etwas Neues immer erst kämpfen und sich bewähren, bevor es seinen Platz findet. Es macht also Sinn, gegenüber „fremden“ Disziplinen aufgeschlossen zu sein – und es sieht so aus, als könnten wir uns auf viele neue Disziplinen freuen!

Susanne Dambeck

Susanne Dambeck is a science writer in English and German, and author of several nonfiction childrens' books. A political scientist by training, she has worked in politics, television and as a biographer. Apart from scientific findings, she is interested in people and in storytelling in different languages.