Veröffentlicht 8. Dezember 2017 von Susanne Dambeck
Gestochen scharfe Bilder von Molekülen
Die Nobelpreise werden traditionell am 10. Dezember verliehen, dem Todestag von Alfred Nobel. Entsprechend findet die Nobel-Woche in Stockholm um dieses Datum herum statt. Auch die drei Chemienobelpreisträger werden dort erwartet: Jacques Dubochet, Richard Henderson und Joachim Frank. Sie werden für ihre Beiträge zur Entwicklung der Kryo-Elektronenmikroskopie (Kryo-EM) geehrt. Auch wenn die drei Preisträger sehr verschieden sind, so haben sie doch, neben ihrer erstklassigen Forschung, eines gemeinsam: Alle sind im Laufe ihrer Karriere von zahllosen Kollegen gefragt worden, weshalb sie sich mit einem aussichtslosen Thema wie der Kryo-EM für Moleküle befassen – doch manchmal zahlt sich Beharrlichkeit eben aus.
Der Schweizer Jacques Dubochet bezeichnet sich auf seiner Website als „erster offizieller Legastheniker des Kanton Vaud – was mir erlaubte, in allen Fächern schlecht zu sein“. Während seiner Schulzeit wurden die Folgen seiner Leseschwäche wohl so gravierend, dass seine Eltern ihn schließlich auf ein Internat schickten, damit er die Matura bestand. Auf einer spontanten Pressekonferenz am 4. Oktober 2017, an dem die Chemienobelpreise verkündet wurden, fragte er die anwesenden Journalisten: „Ich war ein sehr schlechter Schüler (…) und jetzt habe ich also den Nobelpreis gewonnen. Noch irgendwelche Fragen?“ Alle lachten. Man merkt schnell: Dubochet ist immer für Scherze zu haben.
Noch eine kleine Begebenheit: Mitte November nahm Dubochet an einer Konferenz des EMBL in Heidelberg teil. An diesem Institut hatte er alle entscheidenden Schritte auf dem Weg zur Herstellung von ‚amorphem Eis‘ entdeckt. Dieses Eis ist nicht-kristallin und verhält sich damit wie Glas. Eine Vorbereitung der Proben hiermit ist sein Beitrag zur Kryo-EM. Als Dubochet nun eines der EMBL-Labore betrat, stand dort ein Kryo-Elektronenmikroskop. Der frischgebackene Nobelpreisträger scherzte: „Das hier ist eine wundervolle Maschine, aber ich habe vergessen, was sie tut.“ Alle lachten, schließlich sprach hier einer der Pioniere dieser Technik.
Eine der größten Herausforderungen der Kryo-EM war die Tatsache, dass die natürliche Umgebung der meisten Biomoleküle Wasser ist, Wasser aber im Vakuum des Elektronenmikroskops verdampft. Wenn man die Probe nun gefriert, um das zu vermeiden, entstehen Eiskristalle, die sowohl die Probe verändern als auch das Bild verzerren. Dubochet entwickelte nun einen Trick: Er gefror seine Proben so schnell, dass sich darin keine Kristalle bilden konnten. Damit wurde es möglich, Moleküle in ihrer natürlichen Umgebung und ihrer normalen Ausrichtung darzustellen.
Nun ist Dubochet fraglos ein exzellenter Forscher, er hat jedoch noch viele andere Interessen und Stärken. „Er hat ein unglaubliches Talent, das Publikum in seinen Bann zu ziehen“, sagt sein ehemaliger EMBL-Kollege und langjähriger Freund Marek Cyrklaff. „Und er hat seine ganz eigene Denkstruktur, fast als wohnten zwei völlig verschiedene Denker in einem einzigen Körper“, fährt Cyrklaff fort. „Einerseits ist er ein beinharter Physiker, andererseits ein Weltklasse-Philosoph. Letzterer erlaubt ihm, kühne Visionen zu entwickeln, der Erstere wiederum ermöglicht ihm, diese Ziele auch zu erreichen.“
Außerdem ist er spontan, unkonventionell und „er lehnt alle Dogmen ab, egal ob in der Forschung oder in der Politik.“ Während seiner zwanzig Jahre an der Universität Lausanne hat er, in seinen eigenen Worten, „eine Menge Mühe in den Studienplan des neuen Fachs ‚Biologie und Gesellschaft‘ gesteckt. Das ist nicht irgendein Zusatzangebot: Das ist ein eigenes Kernprogramm“, erklärt er am Telefon Adam Smith von der Nobelstiftung. „Es ging darum sicherzustellen, dass unsere Absolventen ebenso gute Bürger wie Biologen werden.“ Dubochet unterrichtet das Studienfach weiterhin, und es liegt ihm sehr am Herzen. Er sitzt auch im Gemeinderat seines Wohnortes Morges; und am 4. Oktober, nachdem sich die erste Aufregung ein wenig gelegt hatte, ging er zur Gemeinderatssitzung.
Richard Henderson nahm im November 2017 an derselben EMBL-Konferenz in Heidelberg teil wie Dubochet. Zu Ehren der frisch gekürten Nobelpreisträger hielt Werner Kühlbrandt, Direktor am Max-Planck-Institut für Biophysik, eine Rede, in der er von der gemeinsamen Zeit mit Henderson am MRC Laboratory of Molecular Biology (LMB) in Cambridge berichtete. „Richard ließ keine Gelegenheit verstreichen, um sich zu treffen und auszutauschen“, erinnert sich der ehemalige LMB-Doktorand. „Diese Diskussionen wurden auch gerne über Mittag fortgesetzt, Richard kritzelte dann Schaubilder oder Gleichungen auf die umliegenden Papierservietten.“ Auch Marek Cyrklaff erinnert sich an häufige Debatten auf dem Flur: „Henderson war selten in seinem Büro anzutreffen, meist stand er vor seinem Büro auf dem Flur und diskutierte mit allen, die vorbeikamen, über ihre Arbeit.“
Wenn sich jetzt einer fragt, wann die LMB-Forscher ihre bahnbrechenden Entdeckungen gemacht haben, dann lautet die Antwort laut Kühlbrandt schlicht: „Fast den ganzen Tag haben sie miteinander über ihre Arbeit diskutiert. Doch anschließend arbeiteten sie richtig hart, über viele Stunden und weit in die Nacht hinein“, um ihre Projekte voranzubringen.
Früher dachte man lange, dass Elektronenmikroskope nur für tote Materie geeignet sei, weil der starke Elektronenstrahl lebende Proben zerstört, und weil alle biologischen Proben im Vakuum austrocknen. Bereits in den frühen 1970er Jahren begann Henderson, sich diesen Herausforderungen zu stellen: Er verwendete einen schwächeren Elektronenstrahl und präparierte seine Proben mit Glukosesirup, damit sie nicht austrockneten. 1975 konnte er endlich die Grobstruktur eines Membranproteins nachweisen, 15 Jahre später folgte dann ein dreidimensionales atomares Modell.
Als Richard Henderson vor wenigen Jahren nach der irrigsten Vorstellung gefragt wurde, die sich die Leute von seiner Arbeit machten, antwortete er spontan: „Dass Kryo-EM eine langweilige Technik sei – für mich ist sie so etwas ähnliches wie eine Kunstform.“
Apropos Kunstformen: Joachim Frank ist nicht nur ein Weltklasseforscher, sondern auch Autor und Fotograf. Auf seiner Website ‚Franx Fiction‚ kann man eine Auswahl seiner publizierten Gedichte und Kurzgeschichten finden, drei unveröffentlichte Romane liegen in der Schublade. Unter dem Blogbeitrag ‚Nobel Prize‚ beschreibt er beispielsweise, wie ihn kürzlich ein Fremder in der New Yorker U-Bahn erkannte und erstaunt fragte: „Warum fahren Sie denn noch U-Bahn?“ Doch der größte Vorteil des Nobelpreises ist aus Franks Sicht, dass er keine Übersichtsartikel mehr schreiben muss: „Im Grunde erledigt man solche Aufträge doch nur, um die Wahrscheinlichkeit, jemals einen Nobelpreis zu bekommen, minimal zu erhöhen. Doch den habe ich jetzt bereits.“
In einem ausführlichen Interview mit der österreichischen Zeitung Der Standard, das drei Tage vor der Bekanntgabe des Chemienobelpreises erschien, erklärt Frank, weshalb er gerne fiktionale Texte schreibt: „Es geht mir dabei darum, Balance in meinem Leben zu halten. Ohne das Schreiben würde ich mich sehr abgeschieden fühlen. Die Welt ist ein unglaublicher schöner und komplexer Ort, und die Wissenschaft bietet nur einen begrenzten Zugang zu diesem. Auch hat die Wissenschaft sehr strenge Regeln, die dafür sorgen, dass Gefühle herausgehalten werden. Ich würde nicht zulassen, dass Gefühle die Wissenschaft unterwandern, daher habe ich mich entschieden, mein Leben auszubalancieren, indem ich auch völlig andere Dinge tue wie fotografieren und fiktionale Texte schreiben.“
In seiner Forschungsarbeit entwickelte Frank eine innovative Bildbearbeitungsmethode, mit der es gelang, aus den damals noch recht verschwommenen, zweidimensionalen Elektronenmikroskop-Aufnahmen vieler gleicher Moleküle eine klare dreidimensionale Struktur abzuleiten. Hierfür entwickelte sein Team am Wadsworth Center das Computerprogramm SPIDER und erreichte damit unter anderem detaillierte Bilder von Ribosomen.
Joachim Frank erhielt 2014 die Benjamin-Franklin-Medaille für Lebenswissenschaft. In einem Video des Franklin-Instituts wird deutlich, dass seine wissenschaftliche Arbeit umgekehrt auch seine künstlerische Wahrnehmung schärft. Frank erzählt darin, wie er eines Tages durch den Wald fuhr und plötzlich dachte, „in jeder Zelle jedes Blattes an jedem Baum befinden sich Ribosomen, die gerade genau das machen“, und er zeigt mit den Händen eine Bewegung der Ribosomen, die er selbst entdeckt hatte. „Und mir wurde plötzlich klar, dass ich in diesem Moment der einzige Mensch auf der ganzen Welt war, der genau diese Erkenntnis hatte.“
Joachim Frank, Richard Henderson und Jacques Dubochet werden sich am 8. Dezember in Stockholm treffen, wo sie ihre Nobel-Vorträge halten, und zwei Tage später dann wieder bei der Nobelpreisverleihung – es wird eine unvergessliche Woche.