Veröffentlicht 24. November 2017 von Susanne Dambeck
Erforschung des Urknalls mit Gravitationswellen
Die allerersten Gravitationswellen, die jemals direkt gemessen wurden, stammten ausgerechnet von zwei verschmelzenden, massiven Schwarzen Löchern. Für dieses lang ersehnte Messergebnis vom 14. September 2015 erhielten drei leitende Physiker des LIGO-Interferometers in den USA den Physiknobelpreis 2017.
Eigentlich dachten die Forscher, dass massive Schwarze Löcher mit mehr als 30 Sonnenmassen, wie bei diesem Ereignis beobachtet, absolute Ausnahmen wären, außerdem nahm man an, dass die Verschmelzung solcher Objekte sehr selten sei. Und nun war das verbesserte LIGO-Interferometer gerade mal im Testlauf, noch vor dem eigentlich Start der Messkampagne, da ging den Physikern ein derart seltenes Signal ins Netz. Zufall? Oder steckt etwas ganz anderes dahinter?
Bislang vermuteten die Astronomen, dass sogenannte „stellare Schwarze Löcher“ die häufigsten im Universum seien. So werden Schwarze Löcher genannt, die das Resultat einer Supernova-Sternexplosion mit anschließendem Kollaps sind. Man nimmt an, dass diese Objekte in der Regel weniger als zwanzig Sonnenmasse aufweisen, weshalb die zwei Objekte von GW150914 ungewöhnlich groß ausfallen. Darüber hinaus waren sie auch ungewöhnlich nahe beieinander, sonst hätten sie nicht verschmelzen können. Und es kommt noch besser: Innerhalb von weniger als zwei Jahren seit der Messung des ersten Signals wurden bereits fünf solche Ereignisse aufgezeichnet, und die Hälfte der beteiligten Schwarzen Löcher hatte eine Masse oberhalb von zwanzig Sonnenmassen.
Beudetet die gemesse Häufigkeit, die Nähe zu einander und die unerwarteten Größen, dass die Physiker ihre Vorstellungen über Schwarze Löcher an die neuen Erkenntnisse anpassen müssen? Eine interessante Theorie aus dem Jahr 2015, publiziert Monate vor der ersten Messung von Gravitationswellen, beschreibt eine solche angepasste Variante des Standardmodells der Kosmologie. Der spanische Professor Juan Garcia-Bellido und der Aachener Postdoktorand Sebastien Clesse schreiben, dass das Universum möglicherweise mit unzähligen Schwarzen Löchern ganz unterschiedlicher Größe erfüllt ist. Sie argumentieren, dass diese aus Dichteschwankungen während der sogenannten Inflationsphase des Urknalls entstanden sein könnten und damit so alt seien wie das Universum selbst.
Laut Standardmodell ereignete sich direkt nach dem Urknall eine gewaltige Ausdehnung des Universums. Wie Physiknobelpreisträger Brian Schmidt auf der Lindauer Nobelpreisträgertagung 2016 erklärt: „Quantenfluktuationen wurden auf den Maßstab des Universums aufgebläht. Das klingt zunächst verrückt, aber es erklärt ganz gut die Dinge, die wir über das Universum wissen und herausfinden.“ Diese Phase des extremen Ausdehnens wird kosmische Inflation genannt.
Bereits 1971 formulierte der berühmte britische Physiker Stephen Hawking die Theorie der Primordialen Schwarzen Löcher: Objekte, die seit dem Urknall existieren. Laut des Modells von Garcia-Bellido und Clesse entstanden solche Schwarzen Löcher in Gruppen, sogenannten Clustern. Das würde es ihnen natürlich erleichtern, sich zu umkreisen und schließlich zu verschmelzen. In ihrem aktuellen Artikel in Spektrum der Wissenschaft argumentieren die Autoren erneut, dass diese häufigen Schwarzen Löcher einen Teil der geheimnisvollen Dunklen Materie sein könnten.
Laut Standardmodell besteht das Universum aus ungefähr 69 Prozent Dunkler Energie, 26 Prozent Dunkler Materie – und alles was wir kennen, von Sternen über Galaxien bis hin zur Erde und den Menschen, macht weniger als 5 Prozent der Gesamtsumme aus. Ohne die (theoretische) Dunkle Materie könnten die Galaxien, die wir beobachten, nicht existieren, da sie sich derartig schnell drehen, dass sie eigentlich die meisten ihrer Sterne ins All schleudern müssten. Doch gewaltige Gravitationskräfte halten die Sterne zurück. Dass man die Dunkle Materie nicht beobachten kann, gilt zwar seit Jahrzehnten als Dogma, aber Forscher mögen nun mal keine Theorien, die sie nicht überprüfen können.
Faszinierend an der Theorie von Garcia-Bellido und Clesse ist die Tatsache, dass man sie überprüfen kann, und zwar sowohl mit den heutigen als auch mit künftigen Messinstrumenten. Wenn nun diese künftigen Daten zeigen, dass Schwarze Löcher groß, zahlreich und nahe beieinander sind, so wird das ihre Theorie der Primordialen Schwarzen Löcher stärken. Die beiden Autoren schlussfolgern: Schon „nach den ersten Beobachtungen treten Paare von Schwarzen Löchern häufiger auf als erwartet, und sie besitzen höchst divers verteilte Massen.“
Doch das wäre immer noch kein Beweis, dass diese erstaunlichen Objekte aus der Zeit des Urknalls stammen. Ein entscheidender Hinweis wäre der Fund eines kleinen Schwarzen Lochs mit weniger als 1,45 Sonnenmassen: Dieses könnte nämlich nicht das Resultat einer Sternexplosion sein, sondern müsste auf anderem Weg entstanden sein (Chandrasekhar-Grenze), möglicherweise sogar während der Inflationsphase. Doch leider geht man davon aus, dass viele der besonders kleinen Schwarzen Löcher aufgrund der sogenannten Hawking-Strahlung schon lange verdampft sind.
In kommenden Jahren werden viele neue Instrumente nach Gravitationswellen und Schwarzen Löchern suchen. Zwei prominente Beispiele: Das Radioteleskop SKA, Square Kilometre Array, wird den Himmel nach der charakteristischen Strahlung von neutralem Wasserstoff absuchen. Man nimmt an, dass dieses ursprüngliche Element in der Nähe Primordialer Schwarzer Löcher sehr häufig vorkommt, und dass dessen Atome durch die intensive Röntgenstrahlung der Schwarzen Löcher, die beim „Verzehr“ von Materie entsteht, ionisiert werden und dadurch strahlen. Ein Jahrzehnt später sollen die Weltraumteleskope der LISA-Mission die diffuse Hintergrundstrahlung von Gravitationswellen aufspüren.
Doch unabhängig davon, ob die beobachteten Schwarzen Löcher nun primordial sind oder nicht, helfen sie uns beim fundamentalen Verständnis des Kosmos. „Wenn weitere Messungen mit LIGO zeigen sollten, dass Schwarze Löcher von diesem Format sehr häufig im Universum vorkommen, dann könnten sie die Dunkle Materie erklären“, meint auch Karsten Danzmann, Direktor des Max-Planck-Instituts für Gravitationsphysik und Mitglied der LIGO Scientific Collaboration. Also selbst wenn die Theorie von Garcia-Bellido und Clesse nicht bis ins letzte Detail bestätigt wird, könnte das Geheimnis der Dunklen Materie bald gelüftet werden.
Künftige Messungen werden viele dieser Fragen klären. Doch die Gravitationswellen-Astronomie ist auch in der Lage, Geheimnisse aus anderen astronomischen Disziplinen zu lüften. Beispielsweise zeichnete LIGO am 17. August 2017 das Signal von zwei verschmelzenden Neutronensternen auf. Sofort wurde die Fachwelt informiert, in Rekordzeit richteten über 70 Teleskope ihren Blick auf dieselbe Himmelsregion: eine der größten astronomischen Beobachtungskampagnen aller Zeiten. Dadurch konnte nicht nur der genaue Ort der Verschmelzung bestimmt werden, sondern ganz nebenbei wurde deutlich, dass Gammastrahlen-Ausbrüche von solchen Ereignissen stammen können. Das hatten Forscher schon lange vermutet, aber nun können sie ihre Theorien endlich empirisch überprüfen.
In Zukunft wird es also nicht nur mehr Daten über verschmelzende Schwarze Löcher geben. Weitere große Beobachtungskampagnen werden zudem viele astronomische Rätsel lösen können – wohl in einem Ausmaß, das wir heute nur schwer vorhersagen können.