Veröffentlicht 26. Juni 2017 von Susanne Dambeck
Ben Feringa: die molekularen Maschinen der Zukunft
Der Chemienobelpreisträger 2016 hielt den Eröffnungsvortrag von #LiNo17 am 26. Juni 2017 mit dem Titel ‚The Joy of Discovery’. Feringa wuchs als zweites von zehn Kindern auf einem Bauernhof in der Nähe von Groningen auf, wo er heute lehrt und wo er seine akademischen Abschlüsse erlangte. Als Kind genoss er die Natur um den elterlichen Bauernhof, heute erfreut er sich an der Schönheit der Moleküle. In seinen eigenen Worten: “Uns Menschen gefällt der Aufbruch ins Unbekannte.” Vor Beginn des eigentlich Vortrags hat er ein paar Ratschläge für die anwesenden Nachwuchsforscher parat: „Suche die Herausforderung, und finde Lehrer, die dich fordern. Folge deiner Intuition und deinen Träumen, aber bleibe dabei realistisch. Und finde stets eine gute Balance zwischen Leben und Arbeiten.“ Wenn man seine eindrucksvolle wissenschaftliche Karriere bedenkt und seine offensichtliche Begeisterung für seine Arbeit sieht, dann wird schnell klar: Er hat sich wohl an seine eigenen Ratschläge gehalten.
Ben Feringa und sein Team nehmen unbelebte Materie und erschafft damit beispielsweise synthetische Moleküle, die sich autonom bewegen können, die also nicht angeknipst werden müssen. Es ist faszinierend zu sehen, wie solch kleine ‚Spinnen‘ unter dem Mikroskop herumkrabbeln, die sich auch noch selbstständig aus diesen Molekülen gebildet haben. Sie krabbeln so lange herum bis ihnen der Treibstoff, in diesem Fall Zucker, ausgeht. Die Wahl dieses Treibstoffs ist kein Zufall, schließlich sollen sie eines Tages Medikamente im menschlichen Körper an die richtige Stelle transportieren – und Zucker ist im menschlichen Blut stets vorhanden. (Man kann die ‚Spinne‘ auf seiner Website beobachten, sowie am Ende seines Lindau-Vortrags.) Andere Moleküle hat seine Forschungsgruppe ‚Molekulare Nanowissenschaft‘ an der Universität Groningen mit einem Lichtschalter ausgestattet, sodass man sie mit einer bestimmen Wellenlänge ein- und ausschalten kann.
Feringa erklärt selbst, dass es für Chemiker im Prinzip ein Leichtes sei, statische Moleküle zu erschaffen, dass es aber unverhältnismäßig schwerer ist, ihre ‚dynamischen Funktionen‘ zu kontrollieren, also Tätigkeiten wie sich drehen, an- und ausschalten, reagieren, sich zusammenballen, Ziele suchen und finden, usw. Die bislang bekannteste ‚molekulare Maschine‘ aus Feringas Werkstatt ist sein ‚Nanocar‘, ein Fahrzeug im Nanometer-Maßstab. Für einen molekularen Antrieb braucht man zunächst ein Molekül, dass sich nur in eine Richtung dreht. Zufällig entdeckten die Forscher, dass sich ein Alken, mit dem sie experimentierten, nach einer Vierteldrehung nicht zurückgedreht, sondern sich weitergedreht hatte – und damit eine 180-Grad-Drehung schaffte. (Alkene sind nicht-aromatische Kohlenstoff-Wasserstoff-Moleküle, die mindestens eine Kohlenstoff-Kohlenstoff-Doppelbindung besitzen.) Nun fragten sie sich natürlich: Wenn das geht – kriegen wir auch 360 Grad hin? Die Vierteldrehung wurde durch eine sogenannte Isomerisierung erreicht, das ist die Umwandlung eines Moleküls durch die Änderung der Atomanordnung oder -folge, wobei die Zahl der Atome gleich bleibt.
Schließlich erreichte Feringas Team eine volle Umdrehung durch zwei Doppelbindungs-Isomerisierungen und zwei Helix-Inversionen durch Hitze (siehe Grafik oben). Der Jubel war groß – allerdings war die Drehung noch zu langsam, das Molekül bequemte sich gerade mal zu einer Umdrehung pro Stunde. Ungefähr sechzig molekulare Motoren später schafften sie die unglaubliche Geschwindigkeit von 10 Millionen Umdrehungen pro Sekunde. Doch das ist eher ein theoretischer Wert, denn meist bekommt man gar nicht genug Energie in diese klitzekleinen Systeme, um mit Spitzengeschwindigkeit fahren zu können; und die ‚Straßen‘, meist Metalloberflächen, verlangsamen das Nano-Auto zusätzlich. Realistischer sind daher Werte von 4 000 Umdrehungen pro Sekunde. Als nächstes wurden vier solcher Moleküle mit zwei Achsen und einem Fahrgestell zu einem echten Vierradantrieb-Nano-Auto zusammengebaut – endlich konnte der kleine Flitzer über seine eigene Straße aus purem Gold fahren.
Heutzutage arbeiten mehrere Teams auf der ganzen Welt an Nano-Autos. Und obwohl Feringa und sein Team eine Menge Anerkennung für ihr ‚Auto‘ bekamen, forschen sie darüber hinaus an vielen weiteren interessanten Nano-Maschinen. Zum Beispiel haben sie einen Lichtschalter für Moleküle entwickelt, mit dem diese ein- und ausgeschaltet werden können. Wenn nun gängige Medikamente mit diesem Lichtschalter ausgestattet würden, dann könnten sie im Körper mit der entsprechenden Licht-Wellenlänge eingeschaltet werden und ausschließlich an diesem Ort wirken. Da alle anderen Körperzellen verschont blieben, ließen sich viele Nebenwirkungen vermeiden. In seinem Nobelpreis-Vortrag in Stockholm beschreibt Feringa ausführlich zwei mögliche Anwendungen: lichtgesteuerte Antibiotika und ebensolche Chemotherapeutika. Den Forschern gelang es bereits, in jeweils ein Medikament aus jeder dieser beiden Wirkstoffgruppen ihren Lichtschalter einzufügen. Mittlerweile funktioniert dieser Schalter sogar mit nahem Infrarotlicht, das in der Lage ist, tief in das Körpergewebe einzudringen.
Solche neuartigen, lichtgesteuerten Antibiotika sollen in Zukunft die Zielstrukturen im Körper eines Patienten selbst finden können. Als nächstes wird ihre Aktivität mit einem Infrarotlicht punktgenau am Entzüdungsherd angeschaltet. Hierbei bleiben alle anderen Körperzellen oder Bakterien im Körper unbehelligt, wodurch nicht nur die Nebenwirkungen geringer werden, sondern auch die Gefahr der Resistenzbildung deutlich verringert wird. Außerdem sorgt eine vorher festgelegte und eingefügte Halbwertszeit des Wirkstoffs dafür, dass auch nach dem Verlassen des Körpers Resistenzbildung in der Umwelt unwahrscheinlich wird: Der Wirkstoff ist bereits wirkungslos, wenn er die Umwelt erreicht.
Ähnliches gilt auch für lichtgesteuerte Chemotherapeutika: Der Wirkstoff wird erst angeknipst, wenn er die Zielregion erreicht hat, beispielsweise einen kleinen Tumor. Das bedeutet gleichzeitig, dass alle anderen Körperzellen von den häufig schwerwiegenden Nebenwirkungen verschont bleiben. In seinem Nobelpreisvortrag beschreibt Feringa, wie er sich die Krebstherapie der Zukunft vorstellt: Mit Hilfe bildgebender Verfahren wie der Magnetresonanztomographie werden solche kleinen Tumoren aufgestöbert. Diese Daten werden automatisch an einen Laser weitergeleitet, der nun den Wirkstoff aktiviert, der vorher dem Patienten injiziert wurde. Hier kann nun das Chemotherapeutikum seine Wirkung entfalten – und sonst nirgends.
Dies sind nur zwei Beispiele der „grenzenlosen Möglichkeiten“ der molekularen Maschinen, wie Feringa sich ausdrückt, und diese sind keineswegs auf Medikamente begrenzt. Feringa forscht auch zum Thema ‚Smart Coatings‘: Das sind Lacke oder Wandanstriche, die sich selbst reparieren können und dadurch extrem haltbar werden. Und wenn man bedenkt, dass eine immer größer werdende Weltbevölkerung mit Waren versorgt werden muss und möchte, die Rohstoffe auf der Erde aber begrenzt sind, dann wird schnell klar, warum es wichtig ist, an haltbareren Produkten zu forschen. Solche neuartigen Anstriche können auch mit Sensoren versehen werden und so eine Schnittstelle mit anderen Geräten bieten. Andere Experten befassen sich mit den Möglichkeiten, die Infrastruktur einer Stadt, wie beispielsweise die Abwasserrohre, so zu entwerfen, dass sie sich selbst reparieren können. Fraser Stoddart, Feringas schottisch-amerikanischer Nobelpreis-Kollege, hat sich einer anderen Forschungsrichtung zugewandt und baut mit molekularen Maschinen nun Hochleistungsdatenspeicher.
„Den Anbruch einer neuen industriellen Revolution des 21. Jahrhunderts“, basierend auf molekularen Maschinen, wurde von der Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaften im Oktober 2016 anlässlich der Preisverkündung ausgerufen. In diesem Zusammenhang betont Feringa gerne, dass er Grundlagenforschung betreibt. Und alle Elektro- oder Kommunikations-Geräte, die für uns heute selbstverständlich sind, konnten erst durch die entsprechende Grundlagenforschung entwickelt werden – doch häufig veringern bis zur massenhaften Anwendung dieser Erfindungen etliche Jahre oder gar Jahrzehnte. Er schätzt heute, dass es vielleicht fünfzig Jahre dauert, bis Ärzte ihre Patienten tatsächlich mit lichtgesteuerten Medikamenten behandeln werden.
Wir durften Jean-Pierre Sauvage, Feringas französischen Nobelpreis-Kollegen, ebenfalls in Lindau begrüßen. Er hielt am 29. Juni 2017 den Vortrag „From Chemical Topology to Molecular Machines“.