Die Geschichte der Lindauer Nobelpreisträgertagungen
Seit 1951 bieten die Lindauer Nobelpreisträgertagungen ein einzigartiges internationales Forum, das den wissenschaftlichen Dialog zwischen den Generationen und Kulturen fördert.
(Video auf Englisch)
Eine vielfältige, internationale Gemeinschaft, über Generationen hinweg
Wie die Corona-Pandemie gezeigt hat, ist die internationale Zusammenarbeit von Wissenschaftler*innen von entscheidender Bedeutung. Aber das ist nichts Neues. Die Lindauer Nobelpreisträgertagungen bringen seit 1951 Wissenschaftler*innen aus aller Welt zusammen – eine vielfältige, internationale Gemeinschaft, über Generationen hinweg, mit dem Ziel, Lösungen für die anspruchsvollsten Probleme unserer Zeit zu finden. Immer wieder gab es in der 70-jährigen Geschichte Impulse für die Vernetzung von Wissenschaft und Gesellschaft. Damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, war die Idee, dass Wissenschaftler*innen zusammenarbeiten sollten, keine Selbstverständlichkeit – viele befürchteten sogar das Gegenteil.
1950: Die Idee
Zwei Lindauer Ärzte hatten die Idee, Wissenschaftler und Nobelpreisträger aus ganz Europa zusammenzubringen. Sie zielten darauf ab, die wissenschaftliche Isolation Deutschlands zu beenden. Franz Karl Hein und Gustav Wilhelm Parade wandten sich mit der Bitte um Unterstützung an Graf Lennart Bernadotte auf der Insel Mainau, Mitglied des schwedischen Königshauses, der von ihrer Idee begeistert war und wertvolle Kontakte beitrug. Sein Großvater hatte 1901 die ersten Nobelpreise an die Preisträger überreicht. Ziel der Tagung war, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wieder zusammenzubringen und den Dialog neu zu beginnen.
„Max Born kam nach dem Krieg zurück und trifft hier in Lindau auf seinen früheren Schüler Werner Heisenberg, der hier geblieben ist und versucht hat, eine deutsche Atombombe zu entwickeln. Und sie sprechen friedlich miteinander.“
Anders Bárány, ehemaliger stellvertretender Direktor des Nobelpreis-Museums
1951: Die erste Tagung
Zur ersten Europa-Tagung der Medizin-Nobelpreisträger versammelten sich sieben Nobelpreisträger und rund 400 Wissenschaftler in Lindau. Der schwedische König Gustaf VI Adolf sandte seine Grüße.
1953: Ursprung des Markenkerns –
Nobelpreisträger & Nachwuchswissenschaftler
„Und dann kam diese geniale Idee [von Graf Lennart Bernadotte] auf: Wir sollten junge Menschen einladen, Studenten, junge Forscher.“ Anders Bárány
Graf Lennart wurde Präsident des Kuratoriums. Er beeinflusste die Tagungen der folgenden Dekade maßgeblich. 1987 folgte ihm seine Frau Gräfin Sonja, die die Internationalisierung der Teilnehmer anstieß. Und 2008 wurde ihre Tochter Gräfin Bettina Präsidentin.
1954: Albert Schweitzer in Lindau
Albert Schweitzer war der erste Friedensnobelpreisträger, der die Tagung besuchte.
Albert Schweitzer umgeben von Nachwuchswissenschaftlern auf der Nobelpreisträgertagung im Jahr 1954.
1955: Mainauer Erklärung
Preisträger vor allem aus der Nuklearforschung haben das Mainau-Manifest verabschiedet, das die Entwicklung und den Einsatz von Atomwaffen anprangert. Der Name der Erklärung hat Bezug zur Mainau, weil der letzte Tag der Tagung traditionell auf der Heimatinsel der Familie Bernadotte stattfindet.
60er Jahre: Tagungsroutine – Interdisziplinarität antizipiert
Von Anfang an wechselte das Treffen jedes Jahr zwischen Physik, Chemie sowie Physiologie/Medizin, wie dies Sir William Lawrence Bragg (Physik, 1915), 1968 in Lindau beobachtete: „Von den jungen Leuten, die in meinem Physiklabor arbeiten, teilten sich zwei den Nobelpreis für Chemie und zwei den Nobelpreis für Medizin. Es gibt also keinen Grund, Graf Bernadotte, warum Sie mich nicht jedes Jahr einladen sollten – d. h. natürlich, wenn Sie das wollen.“
1971: Über Europa hinaus
Seit 1959 entwickelte sich die Tagung zunehmend zu einer internationalen Konferenz, weit über Europa hinaus. Im Jahr 1971 begann der Deutsche Akademische Austauschdienst, die Lindauer Nobelpreisträgertagungen zu unterstützen.
1972: Umweltschutz als politisches Thema
Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger Willy Brandt hielt seinen Vortrag mit dem Titel „Umweltschutz als internationale Aufgabe“. Ein Jahr zuvor hatte Graf Lennart Bernadotte den Umweltschutz in den Mittelpunkt der Tagung gestellt.
Willy Brandt hält seine Rede auf der Nobelpreisträgertagung im Jahr 1972.
1980: Netzwerk von akademischen Partnern
Seit 1980 arbeitet die Alexander von Humboldt-Stiftung mit den Tagungen zusammen. Heute gibt es rund 200 akademische Partner weltweit, die „Best Talents“ ihrer Länder oder Organisationen für den Auswahlprozess vorschlagen.
1982: Verbindung nach Stockholm
In den 1980er Jahren wurden die Beziehungen der Lindauer Tagungen zu Stockholm gestärkt, als der Sekretär des Nobel-Komitees für Physik, Professor Bengt Nagel (1982), und der Direktor der Nobel-Stiftung, Baron Stig Ramel (1983), Lindau besuchten. Heute ist es eine Verbindung, die auf Vertrauen und Freundschaft basiert und sich in Kooperationsprojekten wie der Ausstellung „Sketches of Science“ widerspiegelt. Die Kuratoriumspräsidentin besucht die Nobelstiftung in Schweden regelmäßig und das Kuratorium wurde auch schon zu seiner Mitgliederversammlung nach Stockholm eingeladen. Außerdem besteht zwischen den Lindauer Nobelpreisträgertagungen und der schwedischen Krone seit jeher eine enge Beziehung.
Königin Silvia zu Besuch in der Geschäftsstelle des Kuratoriums für die Tagungen der Nobelpreisträger.
2000: Stiftung Lindauer Nobelpreisträgertagungen und Interdisziplinarität
Das neue Jahrtausend brachte mehrere Meilensteine: Die erste interdisziplinäre Tagung fand statt, und die Stiftung Lindauer Nobelpreisträgertagungen wurde von 50 Nobelpreisträgern zu Ehren von Graf Lennart gegründet. Nach Wolfgang Schürer ist Jürgen Kluge seit 2016 Vorstandsvorsitzender der Stiftung.
2007: Erweiterung der Geschäftsstelle
Im Jahr 2007 wurde die ständige Geschäftsstelle erweitert, sodass das Tagungsteam das ganze Jahr über weiterarbeiten konnte. Das Angebot reicht heute vom Lindauer Wissenspfad, der sich auch an den wissenschaftlichen Nachwuchs richtet, die Lindauer Mediathek mit kostenlosen Online-Bildungsmaterialien, dem Lindauer Alumni-Netzwerk, der Plattform Mentoring Hub bis zu den Lindauer Ausstellungen, darunter die „Nobel Portraits“ und die „Sketches of Science“. Dank der finanziellen Unterstützung der Stiftung können die Tagungen ihren roten Faden weiter entwickeln und weit über eine Woche im Jahr hinaus eine nachhaltige Wirkung entfalten, z.B. durch die Entwicklung internationaler Beziehungen und die Weiterentwicklung von Kooperationsprojekten.
2015: Mainauer Erklärung zum Klimawandel
Eine neue Vereinbarung auf Mainau: 76 Nobelpreisträger*innen unterzeichneten eine weitere Mainauer Deklaration – initiiert von Brian P. Schmidt –, um Staats- und Regierungschefs der Welt vor der Dringlichkeit des Klimawandels zu warnen. Sie wurde den politischen Entscheidungsträger*innen im Vorfeld von COP21 der Vereinten Nationen präsentiert, der Konferenz, die zum Pariser Klima-Abkommen führte.
Hamilton O. Smith unterzeichnet die Mainauer Erklärung zum Klimawandel 2015.
2018: Neue Inselhalle und Lindau Guidelines
Die Inselhalle wurde seit 2015 komplett renoviert, um auch künftig Tagungen und Veranstaltungen in Lindau zu ermöglichen. Und hier initiierte Nobelpreisträgerin Elizabeth H. Blackburn 2018 die Lindau Guidelines für eine offene, kooperative Wissenschaft im 21. Jahrhundert.
2020: Online Science Days
Und dann brach COVID-19 über die Welt herein. Erstmals in der Geschichte der Lindauer Tagungen wurde eine Tagung verschoben, Nobelpreisträger*innen und Nachwuchswissenschaftler*innen trafen sich nicht persönlich in Lindau, sondern virtuell zu den Online Science Days 2020. Neue Konzepte und interaktive Formate boten den Studierenden und Nobelpreisträger*innen eine Plattform, um weiterhin Freude am Austausch zu erleben – auch in außergewöhnlichen Zeiten.
2021: 70 Jahre und darüber hinaus
Im Zeitalter globaler Herausforderungen lebt die Mission der Lindauer Nobelpreisträgertagungen weiter. Educate. Inspire. Connect. – das Motto der Tagungen – ist wichtiger und relevanter denn je. Vor 70 Jahren hatten die Gründer einen Traum und dieser Traum lebt in den Wissenschaftler*innen und Nobelpreisträger*innen der Zukunft weiter.
Abschlussfahrt zur Insel Mainau am letzten Tag der Lindauer Nobelpreisträgertagung.