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Published 6 April 2017 by Susanne Dambeck

Michael Levitt: Pionier der Computerbiologie

Chemische Reaktionen laufen mit unvorstellbarer Geschwindigkeit ab, beispielsweise springen Elektronen in Bruchteilen von Millisekunden von einem Atom zum anderen. Die experimentelle Chemie stößt hier an ihre Grenzen, sie kann nicht jeden einzelnen Reaktionsschritt nachzeichnen. Und selbst die klassische Physik kommt an ihre Grenzen, wenn mit ihrer Hilfe versucht wird, diese komplizierten Reaktionen Schritt für Schritt zu simulieren. Dank der Pionierarbeit von Michael Levitt, zusammen mit Arieh Warshel und ihrem Harvard-Kollegen Martin Karplus, kann seit den 1970er Jahren die klassische Physik gemeinsam mit quantenphysikalischen Modellen benutzt werden, um die Reaktionen an großen Molekülen im Detail zu modellieren.

Davor waren Chemiker gezwungen, sich bei Simulationen zwischen der klassischen und der Quantenphysik zu entscheiden. Die Vorteile der ersteren liegen auf der Hand: Die Modelle sind einfach und es können große Moleküle dargestellt werden. Der Nachteil: Chemische Reaktionen dieser Moleküle konnten nicht simuliert werden, auch nicht mit den leistungsstärksten Rechnern vor über vierzig Jahren. Hierfür braucht man die Quantenphysik, mit deren Hilfe jedes Elektron, jeder Atomkern usw. modelliert werden kann. Die vergleichsweise geringe Rechnerleistung ließ damals jedoch nur Kalkulationen mit kleinen Molekülen zu.

Die Arbeiten von Levitt und anderen ermöglichen es Forschern, diese quantenphysikalischen Modelle nur dort anzuwenden, wo sie gebraucht werden, nämlich im Herzen der chemischen Reaktion, im sogenannten Reaktionszentrum. Alle übrigen Moleküle werden mit den Modellen der klassischen Newtonschen Physik berechnet. Aus Rücksicht auf die damaligen Rechnerkapazitäten vereinfachten Levitt und Warshel ihr Modell noch weiter, indem sie mehrere Atome in ihrem Modell zusammenfassten. „Woher wir allerdings den Mut nahmen, neunzig Prozent der Atome schlicht wegzulassen, ist schon eine interessante Geschichte“, erinnert sich Michael Levitt in seinen autobiografischen Ausführungen auf Nobelprize.org. Offensichtlich haben die beiden jungen Forscher „das richtige Maß an Vereinfachung“ getroffen: Ihr Modell war nicht so kompliziert, dass sie damit nicht mehr arbeiten konnten, aber auch nicht so stark vereinfacht, dass es nutzlos geworden wäre.

Doch wie entwickelte sich ein kleiner, schüchterner Jungen aus Südafrika zu einem Weltklasse-Forscher? An allererster Stelle muss hier natürlich sein außergewöhnliches intellektuelles Talent genannt werden, doch seine eiserne Beharrlichkeit half ebenfalls, sowie etliche glückliche Zufälle, von denen ich drei hier beschreiben möchte.

 

Michael Levitt hält eine Rede in dem Park um das 'Museum of Natural History' in New York City. Dort steht eine Marmorsäule, in die alle Namen der amerikanischen Nobelpreisträger eingraviert werden. Dieses Foto entstand während der Eingravierungs-Zeremonie für Levitt im Jahr 2014. Foto:  Consulate General of Sweden in New York City, 2014, CC BY-SA 2.0
Michael Levitt hält eine Rede in dem Park um das ‘Museum of Natural History’ in New York City. Dort steht eine Marmorsäule, in welche die Namen aller amerikanischen Nobelpreisträger eingraviert werden. Dieses Bild entstand während der Eingravierungs-Zeremonie für Levitt im Jahr 2014. Foto: Consulate General of Sweden in New York City, 2014, CC BY-SA 2.0

 

Zunächst einmal hatte er eine Tante und einen Onkel in London, Tikvah Alper und Max Sterne, die beide angesehene Forscher waren. Die Ärztin Alper entdeckte, dass die Erreger von Scrapie, einer Schaf- und Ziegenseuche, keine Nukleinsäure enthielt. Dies war ein wichtiger Schritt, um die Übertragungswege von spongiformen Enzephalopathien („schwammförmigen Hirnleiden“) zu verstehen, zu denen auch die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit beim Menschen gehört. Ihr Mann Max Sterne entwickelte in Südafrika einen sicheren und zuverlässigen Impfstoff gegen Milzbrand, der heute noch verwendet wird. Als der junge Michael Levitt beide Ende 1963 in London besuchte, war es also kaum zu vermeiden, dass sein Interesse an Lebenswissenschaften geweckt wurde. Heute gilt er als Pionier der Computerbiologie – das Programmieren in Fortran lernte er während eines Praktikums in Berkeley, das ihm seine Tante Jahre später vermittelt hatte.

Obwohl Levitt 1963 gerade einmal 16 Jahre alt war, hatte er schon mehrere Monate an der Pretoria University studiert. Die ersten Monate in England verbrachte er jedoch „wie gebannt vor dem Fernseher [seines] Onkels und [seiner] Tante sitzend“: Ihn faszinierte die Winterolympiade Anfang 1964, weil er noch nie Schnee gesehen hatte. Und weil es damals in Südafrika kein Fernsehen gab, konnte er gar nicht genug von diesem neuen Medium bekommen. Am liebsten schaute er die BBC-Serie „The Thread of Life“, in der Nobelpreisträger John Kendrew die neuesten Entwicklungen der Lebenswissenschaften erklärte; Kendrew hatte den Chemienobelpreis erst ein Jahr zuvor erhalten. Diese Serie war „eine hervorragende Einführung in die Molekularbiologie“, weil erst kurze Zeit klar war, dass „das Leben zeitlich und räumlich exakt strukturiert ist, wie ein Uhrwerk, aber milliardenfach kleiner und unendlich komplizierter“. Schon damals faszinierte Levitt die Vorstellung, welchen Beitrag die Physik leisten könnte, um diese winzigen und super schnellen Prozesse zu entschlüsseln.

Um an einer guten britischen Universität studieren zu können, musste er das englische Abitur nachholen, denn sein Immatrikulations-Examen aus Pretoria reichte hierfür nicht. Gute Noten waren kein Problem für ihn, und nach dieser Extrarunde begann er am King’s College in London Biophysik zu studieren. Nach seinem Abschluss wollte er gerne eine Doktorarbeit am Laboratory of Molecular Biology (LMB) in Cambridge schreiben, am liebsten bei John Kendrew. Dieser lehnte sein Bewerbungsschreiben an – doch Levitt gab sich nicht geschlagen. Er schrieb erneut und bat, ein Jahr später als Doktorand anfangen zu dürfen. Hierauf erhielt er nur eine vage Antwort. Schließlich lieh er sich das Auto seiner Mutter, zog seinen Bar-Mitzvah-Anzug an und fuhr nach Cambridge, um Kendrew oder Max Perutz, dem zweiten Direktor, aufzulauern. Als erster ließ sich Perutz blicken. Er bat Levitt in sein Büro und versprach ihm, sein Anliegen zu prüfen. Schließlich bekam Levitt die Zusage, im darauffolgenden Jahr am LMB seine Doktorarbeit beginnen zu dürfen. Doch statt der erhofften Weltreise bekam er den Auftrag, ein Jahr nach Israel zu Shneior Lifson an das renommierte Weizmann-Institut zu gehen, um mehr über dessen Kraftfeld-Methode (Englisch „force field“) zu lernen. Diese Theorie wurde als Meilenstein zur Modellierung großer Moleküle gesehen, und ist nicht mit den Kraftfeldern der klassischen Physik zu verwechseln.

 

Die Verwandlung von
Die Verwandlung von “einem gewöhnlichen Sterblichen zu einem Nobelpreisträger” hat laut Michael Levitt viele Facetten, beispielsweise folgende: “Es ist nicht so einfach, wenn plötzlich jeder Unsinn, den man erzählt, von allen geglaubt wird.” Foto: Peter Badge/Lindau Nobel Laureate Meetings

 

Nach Israel geschickt zu werden, entpuppte sich als ein weiterer Glücksfall. Michael Levitt selbst beschreibt, dass sein erstes Jahr dort „einen echter Wendepunkt“ in seinem Leben bedeutete: In nur zehn Monaten legte er den Grundstein sowohl für eine erfolgreiche Wissenschaftskarriere als auch für ein glückliches Familienleben. In den ersten Wochen in Israel lernte er seine Frau Rina kennen, eine studierte Biologin, die später als Künstlerin Erfolge feierte. Das Paar heiratete noch vor der gemeinsamen Rückkehr nach England. Am Weizmann-Institut schrieb Levitt ein Computerprogramm zur Modellierung großer Moleküle unter Verwendung der Kraftfeld-Methode, zusammen mit Arieh Warshel; gemeinsam erhielten sie 2013 den Chemienobelpreis für diese bahnbrechende Entwicklung.

Der dritte glückliche Zufall ereignete sich Mitte der 1980er Jahre, also viele Jahre, zahlreiche Entdeckungen und viele Publikationen später. Die Familie Levitt war mehrfach von England nach Israel gezogen und zurück, es gab auch noch andere Zwischenstationen. Als sie nun in Cambridge, Massachusetts, an einer privaten Cocktailparty teilnahmen, rief zufällig an diesem Abend sein alter Freund Roger Kornberg an, Nobelpreisträger an der Stanford University. Als dieser hörte, dass die Levitts Israel verlassen wollten, schlug Kornberg sofort vor, sie sollten nach Stanford kommen: Seit 1987 forscht Michael Levitt dort, bis heute. „Mein erster Eindruck in Stanford war: Hier ist alles so einfach“, erinnert er sich. „Es war, als wären wir auf dem Jupiter aufgewachsen und würden nun zum ersten Mal die Erdanziehung spüren“, was so viel bedeutet wie: Alles fühlte sich total leicht an. Levitt gründete seine erste Forschungsgruppe und seine erste Firma, der älteste Sohn besuchte Berkeley. Nach ein paar Jahren zog seine Frau mit den Kindern zurück nach Israel, damit die Söhne dort ihren Militärdienst ableisten konnten. Danach kam sie nach Stanford zurück, zog dann aber wieder nach Israel, um dort mehr Zeit mit dem ersten Enkelkind verbringen zu können.

„Als ich dachte, mein Leben könne gar nicht mehr besser werden, erhielt ich am 9. Oktober 2013 um 02:16 Uhr einen Anruf aus Stockholm“, erinnert sich Levitt. In den Jahren zuvor hatte er sich häufig gesagt: „Kein Mensch darf damit rechnen, einen Nobelpreis zu bekommen.“ Deshalb war dieser Anruf mitten in der Nacht eine echte Überraschung. Wir haben uns damals mit ihm gefreut und hoffen, dass Michael Levitt in den kommenden Jahren an einer Nobelpreisträgertagung in Lindau teilnehmen wird.

 

Susanne Dambeck

Susanne Dambeck is a science writer in English and German, and author of several nonfiction childrens' books. A political scientist by training, she has worked in politics, television and as a biographer. Apart from scientific findings, she is interested in people and in storytelling in different languages.