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Veröffentlicht 14. April 2016 von Susanne Dambeck

Enrico Fermi und der Beginn des Atomzeitalters

Chicago 1942: An einem kalten Dezembermorgen versammelten sich 49 Forscher und einige Gäste unterhalb der Zuschauertribüne eines stillgelegten Footballstadions. Eigentlich bot der Haufen aus Graphit und Uran keinen besonders aufregenden Anblick, alle Augen starrten jedoch gebannt auf die Anzeigen der Messgeräte. Leona Woods, die einzige Forscherin im ‚Chicago Pile-1‘ Team, übernahm mit lauter Stimme den Countdown, doch kleine technische Probleme verzögerten das eigentliche Experiment immer wieder, bis in den Nachmittag hinein. Dann endlich zeigte das Messinstrument eine ausreichend große Menge freier Neutronen an: Erstmals war es Menschen gelungen, eine selbsterhaltende Kernspaltungs-Kettenreaktion in Gang zu setzen. Mit Hilfe der Cadmium-Kontrollstäbe konnte sie von den Physikern auch wie geplant wieder gestoppt werden. Nobelpreisträger Eugene Wigner hatte eine Flasche Chianti mitgebracht, den die Anwesenden zur Belohnung aus Papierbechern tranken. Zwar hatte es keinen großen Knall gegeben, trotzdem wurde an diesem Tag Geschichte geschrieben: der Beginn des Atomzeitalters.

Der erste Atomreaktor der Welt besaß weder Strahlenschutz-Vorrichtungen noch ein Kühlsystem, weil er nur eine sehr geringe Leistung hatte. Der 'pile', also 'Haufen' wurde nach dem Experiment außerhalb von Chicago wieder aufgebaut, dort entstand in Folge das Argonne National Laboratory. Heute erinnert eine Statue von Henry Moore an die erste nukleare Kettenreakton. Zeichnung: Melvin A. Miller of the Argonne National Laboratory, public domain
Der erste Atomreaktor der Welt besaß weder Strahlenschutz-Vorrichtungen noch ein Kühlsystem, weil er nur eine sehr geringe Leistung hatte. Der ‚pile‘, also ‚Haufen‘, wurde nach dem Experiment außerhalb von Chicago wieder aufgebaut, dort entstand in Folge das Argonne National Laboratory. Heute erinnert eine Statue von Henry Moore auf dem Uni-Campus an die erste nukleare Kettenreakton dort. Zeichnung: Melvin A. Miller of the Argonne National Laboratory, public domain

Nach diesem Erfolg rief Physikprofessor Arthur Compton, ebenfalls Nobelpreisträger, den Vorsitzenden des NDRC, also des National Defense Research Committee an, James Conant. Beide unterhielten sich in einem improvisierten Code. Compton: „Der italienische Steuermann ist in der Neuen Welt gelandet.“ Conant: „Wie verhielten sich die Einheimischen?“, die Antwort lautete: „sehr freundlich“. Der ‚italienische Steuermann‘ war Enrico Fermi, Chef des Pile-1 Teams und ein italienischer Physiker, der sowohl im theoretischen als auch im experimentellen Fach glänzen konnte. Seine bahnbrechende Forschung in Rom über den Beschuss von chemischen Elementen mit Neutronen, insbesondere seine Entdeckung, dass abgebremste Neutronen reaktionsfreudiger sind als schnelle, wurde 1938 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet. Die Preisverleihung in Stockholm nutzte er, um mit seiner ganzen Familie Italien zu verlassen. Seine Frau Laura Capon war jüdischer Herkunft, wegen der neuen Rassegesetze konnte sie nicht im faschistischen Italien bleiben. Also bestieg die ganze Familie Fermi in Stockholm ein Schiff nach New York – amerikanische Elite-Universitäten überschlugen sich mit Angeboten für dieses Ausnahmetalent.

So funktioniert Kernspaltung: oben sieht man ein freies Neutron, das gleich vom Kern eines Uranatoms aufgenommen wird (U-235). In der Mitte haben die beiden ein instabiles Uran-Isotop gebildet (U-236).  Dieses teilt sich in zwei kurzlebige Barium- bzw. Krypton-Isotope (Ba-141 und Kr-92), zudem werden drei weitere freie Neutronen und eine Menge Energie freigesetzt. Grafik: Fastfission, public domain
So funktioniert Kernspaltung: oben sieht man ein freies Neutron, das gleich vom Kern eines Uranatoms aufgenommen wird (U-235). In der Mitte haben die beiden ein instabiles Uran-Isotop gebildet (U-236). Dieses teilt sich in zwei kurzlebige Barium- bzw. Krypton-Isotope (Ba-141 und Kr-92), zudem werden drei weitere Neutronen und eine Menge Energie freigesetzt. Grafik: Fastfission, public domain

Zurück nach Chicago: Der dortige erste Reaktor bestand aus 360 Tonnen Graphit, der als ‚Neutronenmoderator‘ die Aufgabe hatte, freigesetzte Neutronen abzubremsen, sowie aus 45 Tonnen Uranoxid plus 5,4 Tonnen Uranmetall. Graphit- und Uranschichten wechselten sich ab, beginnend mit Graphit, sodass schließlich das Uran komplett eingeschlossen wurde. Die Forscher nahmen an, dass die Neutronen, die durch den natürlichen Zerfall des Uran freigesetzt werden, mit anderen Uranatomen instabile Isotope bilden, die wiederum in zwei unterschiedliche Elemente zerfallen und durch diese ‚Kernspaltung‘ nicht nur weitere Neutronen, sondern auch eine große Energiemenge freisetzen (s. Grafik links). Das war jedoch alles nur graue Theorie – was wirklich geschehen würde, wenn die Kontrollstäbe fehlten, wusste kein Mensch. Um überhaupt zu erfahren, ob der Reaktor läuft, hatte Leona Woods einen Neutronenmesser entwickelt, der in die 15. Reaktor-Schicht eingebaut war.

Fast zwanzig Jahre zuvor hatte Fermi intensiv Einsteins Relativitätstheorie studiert und entdeckt, dass sich in dem Formelwerk eine enorme Energiequelle verbirgt: die Kernkraft der Atomkerne. Er schrieb 1923: „Es scheint nicht möglich, zumindest in naher Zukunft, einen Weg zu finden, diese schreckliche Energiemenge freizusetzen, weil die erste Wirkung eine solch fürchterliche Explosion wäre, dass sie den Physiker, der dies versucht, in tausend Stücke reißen würde.“ Als er dies schrieb, war er gerade mal 22 Jahre alt. Im Endeffekt war Fermi selbst derjenige, der diese schreckliche Energiemenge freisetzte, freilich ohne sich und seine Kollegen zu zerfetzen.

In den frühen 1920er Jahren befasste er sich außerdem mit der Statistik idealer Gase, das Ergebnis war die berühmte Fermi-Dirac-Statistik aus dem Jahr 1925. Im selben Jahr bekam er, im Alter von nur 24 Jahren, eine der ersten Professuren für theoretische Physik in Italien an der Sapienza Universität in Rom, wo er seine berühmten Neutronen-Versuche durchführte. Ausgehend von seiner Entdeckung, dass langsame Neutronen besser mit anderen Atomen reagieren als schnelle, entwickelte er die Fermische Altersgleichung. Damals glaubte er noch, er habe durch das Neutronenbombardement neue radioaktive Elemente geschaffen, unter anderem für dieses Ergebnis bekam er den Nobelpreis. Als er seinen Irrtum erkannte, ergänzte er seine Nobelpreisrede um eine entsprechende Fußnote.

Enrico Fermi in den 1940er Jahren in den USA. Er hatte seinen Universitätsabschluss 'laurea', das war der höchste akademische Abschluss in Italien zu seiner Zeit, bereits mit 20 Jahren geschafft, mit 37 folgte der Nobelpreis für Physik. Foto: US Department of Energy, public domain
Enrico Fermi (1901-1954) in den 1940er Jahren in den USA. Fermi hatte seinen Universitätsabschluss ‚laurea‘, das war der höchste akademische Abschluss in Italien zu dieser Zeit, bereits mit 20 Jahren geschafft, mit 24 war er ordentlicher Professor, den Nobelpreis erhielt er mit 37 Jahren. Foto: US Department of Energy, public domain

Als Enrico Fermi samt Familie im Januar 1939 in New York landete, begann er sogleich in den Pupin Laboratories der Columbia Universität zu forschen. Im selben Monat erreichte die Nachricht von Otto Hahns erfolgreicher Uranspaltung die USA; Lise Meitner im schwedischen Exil hatte Hahns Versuche korrekt als Kernspaltung interpretiert. Plötzlich wurde die Physik politisch: Fermi gehörte zu den Ersten, die vor einem Deutschland mit Kernreaktoren und Atomwaffen warnte. Nur wenige Monate später schrieb Leó Szilárd den berühmten Brief an US-Präsident Roosevelt, unterschrieben von Albert Einstein, in dem er ebenfalls vor dieser Gefahr warnte. Fermi und Szilárd hatten bereits in New York erste gemeinsame Versuche zur Kernspaltung durchgeführt, doch Anfang 1942 wurden die verschiedenen Teams, die zu diesen Themen arbeiteten, nach Chicago verlegt und schließlich Teil des Manhattan-Projekts zum Bau einer amerikanischen Atombombe.

Enrico und Laura Fermi erhielten beide 1944 die amerikanische Staatsbürgerschaft. Im selben Jahr zog die ganze Familie nach Los Alamos, von dort betreute Fermi die verschiedenen Reaktoren des Manhattan-Projekts. Ende 1945 kehrte die Familie nach Chicago zurück, wo Fermi eine Professur annahm und Mitbegründer des Institut für Nuklearstudien wurde. Nach seinem frühen Tod im Jahr 1954 wurde es in Enrico-Fermi-Institut umbenannt. Dort befasst man sich nicht nur mit Teilchenphysik, sondern beispielsweise auch mit astrophysikalischen Themen. Zudem wurde einer der größten Teilchenbeschleuniger der Welt nach Fermi benannt, das Fermilab unweit von Chicago, ebenso das künstliche Element Fermium mit der Ordnungszahl 100. Auch der Enrico-Fermi-Award des US-Energieministerium und noch viele weitere Preise und Institute tragen seinen Namen.

Laura und Enrico Fermi im Jahr 1954, er starb am Jahresende an Magenkrebs. Das Paar hatte zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Nach dem Tod ihres Mann arbeitete seine Frau als Autorin und engagierte sich als Friedensaktivistin. Foto: Fotograf unbekannt, Copyright: Mondadori Publishers, public domain
Laura und Enrico Fermi im Jahr 1954, er starb am Ende desselben Jahres an Magenkrebs. Das Paar hatte zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Nach dem Tod ihres Mann arbeitete seine Frau als Autorin und engagierte sich als Friedensaktivistin. Foto: Fotograf unbekannt, Copyright: Mondadori Publishers, public domain

Heutzutage wird Fermi häufig im Zusammenhang mit dem Fermi-Paradox erwähnt, zumindest außerhalb von Physik-Vorlesungen. Dieses Paradox beschreibt den Widerspruch zwischen der geschätzten Vielzahl außerirdischer Zivilisationen und den fehlenden Belegen für deren Existenz. Dabei hat Fermi nie zu diesem Thema publiziert, das ‚Paradox‘ ist das Ergebnis einer Diskussion beim Mittagessen im Jahr 1950 mit Emil Konopinski, Edward Teller und Herbert York, allesamt ehemalige Forscher des Manhattan-Projekts. Dieses Thema war jedoch nicht völlig aus der Luft gegriffen, denn in seinen letzten Lebensjahren interessierte sich Fermi stark für astronomische Forschung, insbesondere für hochenergetische Strahlung im Sonnensystem und darüber hinaus. 2008 wurde deshalb das NASA-Gammastrahlenteleskop umbenannt in ‚Fermi Gamma-ray Space Telescope‘. Es beobachtet Gammablitze, die von den weit entfernten, aber gewaltigen Explosionen im Universum ausgesandt werden.

 

Falls Sie Teilnehmer des 66. Lindauer Nobelpreisträgertreffens diesen Sommer sein sollten: Verpassen Sie nicht Roy Glaubers Vortrag über seine Zeit im Manhattan-Projekt mit dem Titel ‘Recollections of Los Alamos – And the Nuclear Era’ am Donnerstag, den 30. Juni 2016 um 09:30 Uhr oder später als Video-on-Demand in der Mediathek. Das komplette Programm der Tagung erhalten Sie hier.

Susanne Dambeck

Susanne Dambeck is a science writer in English and German, and author of several nonfiction childrens' books. A political scientist by training, she has worked in politics, television and as a biographer. Apart from scientific findings, she is interested in people and in storytelling in different languages.