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Veröffentlicht 16. November 2023 von Ben Skuse

Physiknobelpreis 2023: Von null auf drei Preisträger*innen in einer Milliarde mal eine Milliarde Attosekunden

Elektronen kreisen mit Höchstgeschwindigkeit um ein Atom. Photo/Credit: Pobytov/iStockphoto

Pierre Agostini, Ferenc Krausz und Anne L’Huillier teilen sich den Nobelpreis für Physik 2023 für Experimente, die „der Menschheit neue experimentelle Methoden zur Erforschung von Elektronenbewegungen in Atomen und Molekülen gegeben haben.“ Kürzer gesagt, dafür dass sie den Grundstein für die Ultrakurzzeitphysik, auch Attosekundenphysik genannt, gelegt haben.

Die Attosekundenphysik ist die Wissenschaft der ultraschnellen [als Leser*in hier ein beliebig übertreibendes Adjektiv einfügen] Geschwindigkeiten. Zum Vergleich: Nachdem L’Huillier die Nachricht von ihrer Auszeichnung erhalten hatte, dauerte ihr erstes Telefonat mit Adam Smith (in Stockholm verantwortlich für Öffentlichkeitsarbeit rund um die Nobelpreise) 3 Minuten und 48 Sekunden – also exakt 228.000.000.000.000.000.000 Attosekunden. Ihr erster Herzschlag während dieses Anrufs dauerte eine Sekunde oder eine Milliarde Mal eine Milliarde Attosekunden. Eine Attosekunde ist eine unvorstellbar winzige Zeitspanne, die sich kaum beschreiben lässt. Für den Tanz von Elektronen ist dies jedoch die natürliche Zeitskala.

Die Möglichkeit, einen Blick auf die unglaublich winzige Größenordnung von Elektronen im unfassbar schnellen Attosekundenbereich zu werfen, öffnet die Tür zu einer direkten Messung und vielleicht sogar zur Kontrolle von Quantenprozessen. Und dies wiederum bietet ein enormes Potenzial, um die Forschung voranzutreiben – nicht nur auf dem Gebiet der Quantenphysik, sondern auch in der Biologie, Chemie, Medizin, Elektronik und vielen anderen für Wissenschaft und Gesellschaft wichtigen Bereichen.

Von Millisekunden zu Attosekunden

Nach der Erfindung des Lasers durch die Physik-Nobelpreisträger von 1964, Charles Townes, Nicolay Basov und Aleksandr Prokhorov, war der Vorstoß in den Attosekundenbereich über Jahrzehnte hinweg mit zahlreichen Durchbrüchen in der Photonik verbunden – insbesondere mit der Entwicklung von kurzwelligem, leistungsstarkem, gepulstem Laserlicht, das zum „Einfrieren“ und zur Untersuchung schneller Prozesse in Aktion verwendet werden kann.

Einige der größten Fortschritte wurden in den 1980er Jahren erzielt. In diesem Jahrzehnt entwickelte Ahmed Zewail eine Technik zur Erzeugung von ultrakurzen Laserblitzen, die Pulse mit einer Dauer von wenigen Femtosekunden – tausende von Attosekunden – erzeugen. Für diese Leistung wurde ihm 1999 der Nobelpreis für Chemie verliehen. Mitte der 1980er Jahre war auch die Einführung der „Chirped Pulse Amplification“ (CPA) von entscheidender Bedeutung. Die von Donna Strickland und Gérard Mourou eingeführte und mit einer Hälfte des Nobelpreises für Physik 2018 gewürdigte CPA-Technik streckt, verstärkt und komprimiert ultrakurze Laserpulse, womit extreme optische Intensitäten erzeugt werden können. Dies liefert zwar die notwendige Leistung, führt aber nicht zur Erzeugung kurzer Pulse, die im Attosekundenbereich liegen.

Ende der 1980er Jahre, kurz nach dem Durchbruch von Zewail, Strickland und Mourou, begannen L’Huillier und ihre Kolleg*innen an der französischen Universität Paris-Saclay, das Phänomen von der Erzeugung (ungerader) harmonischer hoher Ordnung (high-harmonic Generation, HHG) also von Oberschwingungen bei Bestrahlung von Edelgasen, zu entschlüsseln. Dabei wird ein von der CPA erzeugter intensiver Infrarotlaserpuls auf ein Ziel fokussiert und verursacht starke nichtlineare Wechselwirkungen, die dazu führen, dass ein winziger Teil der Laserleistung in sehr hohe Obertöne oder Oberwellen der optischen Frequenz des Pulses umgewandelt wird. Unter den richtigen Bedingungen können diese Obertöne phasengleich sein, so dass eine Reihe von extrem kurzen Pulsen, möglicherweise sogar Attosekundenpulse, erzeugt werden.

Bereits in den 1990er Jahren verstanden Physiker*innen die zugrundeliegende Theorie, doch erst im Jahr 2001 wurde durch Agostini und sein Team ein „Attosekunden-Pulszug“ experimentell erzeugt. Diese sogenannten Pulszüge bestanden aus Einzelpulsen, die jeweils gerade einmal 250 Attosekunden kurz waren. Etwa zur gleichen Zeit hatten Krausz und seine Kolleg*innen an der Technischen Universität Wien,  eine andere Methode entwickelt: Durch das spektrale Filtern gelang es ihnen, einzelne Pulse von einem Pulszug zu isolieren. Im gleichen Jahr wie Agostinis bahnbrechendes Ergebnis, schaffte es Krausz, einen einzigen Lichtpuls mit einer Dauer von 650 Attosekunden zu erzeugen. Zwei Jahre später setzte L’Huillier, die inzwischen an die Universität Lund in Schweden gewechselt war, neue Maßstäbe, indem sie einen Laserpuls von nur 170 Attosekunden Dauer generierte.

Fundamentale Einblicke in Höchstgeschwindigkeiten

Heute liegt der Rekord für den kürzesten jemals generierten Lichtpuls – tatsächlich das kürzeste kontrollierte Ereignis, das jemals von der Menschheit erzeugt wurde – bei 43 Attosekunden, aufgestellt im Jahr 2017 vom Team um Hans Jakob Wörner an der ETH Zürich, Schweiz. Aber die Attosekundenphysik ist viel mehr als ein Rennen um den Guiness-Weltrekord. Sie ermöglicht vielmehr, grundlegende Erkenntnisse über die physikalische Welt zu gewinnen.

So haben sowohl Krausz als auch L’Huillier Attosekundenpulse verwendet, um die Dauer zu messen, die ein Elektron braucht, um aus einem Atom herausgerissen zu werden. Dadurch untersuchten sie den Photoelektrischen Effekt – ein Phänomen das erstmals 1905 von Albert Einstein erklärt wurde und wofür ihm 1921 der Nobelpreis für Physik zugesprochen wurde.

Zudem begann Krausz, biologische Anwendungsmöglichkeiten zu untersuchen. Sein Team am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching bei München hat, teilweise auf der Grundlage von präzisen Attosekundentechnologien, ein Verfahren für den molekularen Fingerabdruck entwickelt, mit dem sich Veränderungen in der molekularen Zusammensetzung von Bioflüssigkeiten genau nachvollziehen lassen. Diese Methode könnte zur Erkennung von Spuren von Krankheiten in Blutproben weiterentwickelt werden. Es hat sich bereits gezeigt, dass damit schon in einem frühen Stadium festgestellt werden kann, ob eine Person an Krebs erkrankt ist und auch, um welche Art es sich handelt.

Andere Forscher*innen haben die ultrakurzen Wechselwirkungen von Elektronen z.B. in organischen photovoltaischen Materialien untersucht, die zwar als neue Materialien für Solarzellen oder als Katalysatoren geeignet scheinen, sich aber derzeit noch als zu instabil oder ineffizient erweisen.

Auch das Fachgebiet der Elektronik ist eine vielversprechende Anwendung, an der intensiv geforscht wird. In modernen elektronischen Schaltungen treiben Mikrowellenspannungen Elektronen an, die den Strom in weniger als einer Nanosekunde ein- und ausschalten. Dies ist jedoch eine Ewigkeit verglichen mit der Zeitspanne, die ein Elektron benötigt, um sich zwischen benachbarten Atomen zu bewegen – ein Prozess, der im Attosekundenbereich stattfindet. Die Attosekundenphysik könnte zur Realisierung der Petahertz-Elektronik beitragen, bei der kleinere Strukturen die Elektronenbewegung zwischen Atomen nutzen, um den Strom mehrere Billionen Mal pro Sekunde zu schalten – das wäre etwa 100.000-mal schneller als bislang möglich.

Bislang haben Forscher*innen nur an der Oberfläche der Möglichkeiten gekratzt, die die Attosekundenphysik für ein breites und ständig wachsendes Spektrum von Anwendungen eröffnet. Doch die Technologie, die sich die Attosekundenphysik zunutze macht, beginnt bereits, unser Verständnis der Materiephysik und von ultraschnellen chemischen und biologischen Prozessen zu verändern, indem sie Abläufe in Aktion einfach „einfriert“. In nicht allzu ferner Zukunft, wenn die Menschheit einen Schritt weiter geht und die Fähigkeit erlangt, ultraschnelle Prozesse zu manipulieren und zu gestalten, wird die Attosekunden-Revolution – ausgelöst durch die Arbeit von Agostini, Krausz und L’Huillier – wirklich beginnen.

Ben Skuse

Benjamin Skuse ist professioneller freiberuflicher Autor für vielfältige Wissenschaftsbereiche. Zuvor promovierte er in Angewandter Mathematik an der Universität Edinburgh und erhielt einen MSc in Wissenschaftskommunikation. Heute lebt er in West Country/Großbritannien. Er hat sich zum Ziel gesetzt, verständliche, fesselnde und überzeugende Artikel für alle Leser zu schreiben - unabhängig von der Komplexität der Themen. Seine Artikel sind bereits in New Scientist, Sky & Telescope, BBC Sky at Night Magazine, Physics World und vielen anderen Publikationen erschienen.