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Veröffentlicht 3. August 2020 von Ben Skuse

Neurowissenschaften: Bottom-up und Top-down treffen sich in der Mitte

Das Gehirn stand im Mittelpunkt der Diskussion zwischen Edvard I. Moser und Erwin Neher während #LINOSD. Photo/Credit: piranka/iStock

Wie stellen unsere Gehirne die Welt um uns herum dar? Wie lernen wir? Was löst Erinnerungen in unserem Leben aus? Woher kommen Gedankengänge und Kreativität? Wie generiert das Hirn Bewusstsein?

Diese Fragen zu beantworten ist genauso grundlegend zum Verständnis, wo unser Platz im Universum ist, wie die Fragen nach Zeit, Weltall und dem Kosmos zu beantworten. Wie wir dieses Verständnis erlangen, ist allerdings noch gar nicht klar. Deswegen war es faszinierend, zwei Nobelpreisträgern während der Online Science Days 2020 zu My Brain & Me zuzuhören, die gegensätzliche Vorgehensweisen zu Neurowissenschaft verfolgen.

Buttom-up trifft Top-down

Erwin Neher, der in Buchloe in Bayern aufgewachsen ist – eine gute Stunde von Lindau entfernt – gewann 1991 den Nobelpreis in Physiologie oder Medizin zusammen mit Bert Sakmann für die „Entdeckungen hinsichtlich der Funktion von einzelnen Ionenkanälen in Zellmembranen“. In den 1980er Jahren entwickelten sie ein Verfahren zur Messung der extrem schwachen Ströme, die bei Ionenbewegungen durch Zelloberflächenschichten entstehen – ein Verfahren, das für die Übertragung von Signalen in Nerven und Muskeln von entscheidender Bedeutung ist, damit der Körper funktioniert.

„Später habe ich mich für das andere Element der Transduktion im Hirn interessiert – die Synapse,“ erklärte Neher. „Das beschäftigt mich seit Jahren, insbesondere das Problem, wie Neurotransmitter übertragen werden, und (…) wie diese Freisetzung reguliert wird?“ Nehers Studien, basierend auf dem physikalischen Verständnis von Biophysik und Molekülen als Ionenkanäle um die synaptische Übertragung und Regulierung zu durschauen, kann als Bottom-up-Ansatz betrachtet werden.

Edvard Mosers Studien folgen im Gegensatz dazu schon immer dem Top-down-Prinzip. „Ich begann als Psychologiestudent, mich für die komplexeren Hirnleistungen zu interessieren – alles von Gedächtnis, zu Sprache, über Aufmerksamkeit, Planung, Denken bis zu abstraktem Denken – sehr, sehr komplizierte Hirnleistungen, die Tausende oder Millionen von Neutronen einbeziehen, die im ganzen Hirn zusammenwirken“, erinnert er sich. „Als ich in den frühen 90er Jahren anfing, schien es fast unmöglich, sich an das Verständnis dieser Funktionen heranzutasten. Jedoch war es möglich, wenigstens zu versuchen, sie im Hirn oder Kortex einigermaßen zu lokalisieren und genau das taten wir.“

Was Moser und seine ehemalige Frau und langjährige Forschungspartnerin May-Britt Moser in der Tat erreichten, war eine neue Art neuronale Zellen genau zu bestimmen – Gitterzellen, die es Tieren inklusive Menschen ermöglicht zu verstehen, wo sie sich in ihrer Umgebung befinden. Für die Entdeckung unseres natürlichen GPS wurde den Mosers 2014 der Nobelpreis in Physiologie oder Medizin zusammen mit ihrem ehemaligen Mentor und Pionier John O’Keefe verliehen.

Edvard I. Moser und Erwin Neher im Gespräch mit Moderator Adam Smith.

Die Falsche Zeit für Großforschung?

„Ich komme von oben und Erwin nähert sich von unten (…). An dem Punkt, wo wir uns treffen, wird es richtig interessant,“ sagte Moser. Bei diesen Aussagen könnte man meinen, dass Moser und Neher über die Perspektiven der riesigen nationalen und länderübergreifenden Initiativen, wie die US Brain Initiative (BRAIN), das Human Brain Project (HBP) der EU, Japans Brain/MINDS und anderen begeistert sind.

Viele dieser Projekte, inklusive das EPFL Blue Brain Projekt, zielen nicht nur auf das Verstehen, sondern auf die digitale Rekonstruktion des Gehirns. Beide Laureaten jedoch sind der Meinung, dass diese Vorgehensweise übermäßig ambitioniert sei und die Komplexität des Hirns unterschätze. „Meiner Ansicht nach zielt die beabsichtigte Datailliertheit beim Blue Brain Projekt (…) auf ein Niveau ab, das zu komplex, zu detailliert ist (…) und auf der anderen Seite Millionen von Freiheitsgraden nicht erfassen kann“, erklärte Neher. Moser fügte hinzu: „Ich glaube eine viel bessere Vorgehensweise zum Verstehen des Hirns besteht in Berechnungen und in der Neurowissenschaft, indem man Modelle erstellt, wie die Abläufe funktionieren könnten und man nur die Bestandteile berücksichtigt, die man für essenzielle Informationen hält und alles andere weglässt.“

Obwohl Big Science schon phänomenale Entdeckungen in anderen Bereichen der Wissenschaft erzielt, wie zum Beispiel in der Physik, wo große Mengen an finanziellen Ressourcen und Fonds in ambitionierten Projekten, wie das Laser-Interferometer Gravitationswellen-Observatorium (LIGO) und Large Hadron Collider (LHC), investiert werden, glauben Neher und Moser, dass die Neurowissenschaft als Disziplin noch nicht reif genug sei, um bei solchen Vorgehensweisen erfolgreich zu sein. „Vielleicht in 100 Jahren. Aber…ich glaube nicht, dass es zurzeit möglich ist, darüber zu entscheiden, was die richtigen Experimente sind oder wie sie durchgeführt werden sollen“, sagte Moser.

Zusammenfassung von Daten und Kreativität

Diese Nachricht kommt vielleicht enttäuschend für diejenigen, die ihre Hoffnung auf Big Science setzen, um eine Heilung für Hirnleistungsstörungen, wie z.B. Alzheimer, zu finden. Aber jetzt ist eine großartige Zeit, um in das Gebiet der Neurowissenschaft einzutauchen.

Heutzutage ist es möglich, Unmengen an Daten von tausenden Neuronen gleichzeitig zu sammeln. „Daran müssen wir arbeiten, wenn wir das menschliche Hirn verstehen wollen“, erklärte Moser. „Es handelt sich um Interaktionen zwischen großen Gruppen von Zellen (…), die zeitgleich parallel zusammenarbeiten.“

Infolgedessen sucht die Neurowissenschaft dringend nach Experten in Datenwissenschaft, Machine Learning, und Künstlicher Intelligenz. „Aber wir brauchen Menschen, die Theorien zu der Frage entwickeln können, wie Sachen funktionieren, und das ist etwas anderes als Daten zu analysieren – beide sind aber notwendig,“ sagte Moser. Grundsätzlich ist menschliche Kreativität gefragt, um faszinierende Hirnleistungen wie Kreativität zu verstehen!

Ben Skuse

Benjamin Skuse ist professioneller freiberuflicher Autor für vielfältige Wissenschaftsbereiche. Zuvor promovierte er in Angewandter Mathematik an der Universität Edinburgh und erhielt einen MSc in Wissenschaftskommunikation. Heute lebt er in West Country/Großbritannien. Er hat sich zum Ziel gesetzt, verständliche, fesselnde und überzeugende Artikel für alle Leser zu schreiben - unabhängig von der Komplexität der Themen. Seine Artikel sind bereits in New Scientist, Sky & Telescope, BBC Sky at Night Magazine, Physics World und vielen anderen Publikationen erschienen.