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Veröffentlicht 25. Februar 2016 von Susanne Dambeck

Finnland: seltene Krankheiten, exzellente Forschung

Am 29. Februar, zweifellos der seltenste Tag im Kalender, wurde der Rare Disease Day eingerichtet, der Tag der Seltenen Erkrankungen. Es gibt weltweit unterschiedliche Definitionen, wie selten eine Krankheit sein muss, um als ‚rare disease‘ zu gelten: mal ist es ein Betroffener pro 1.500 Einwohner, mal pro 2.500 Einwohner. Unterscheiden muss man sie von sogenannten ‚orphan diseases‘, um die sich weder Forschung noch Pharmafirmen in ausreichendem Maße kümmern, weil die Gewinnerwartung für die passenden Medikamente zu gering scheint; hierzu zählen viele Tropenkrankheiten.

Forscherin mit einer Genkarte aus den typischen DNA-Bandenmustern, die mit Hilfe von Gelelektrophorese erstellt werden. Solche Muster werden für Vaterschaftstests verwendet, für genetische Fingerabdrücke in der Forensik, und für Studien an seltenen Erbkrankheiten wie den FHD. Foto: PeopleImages
Forscherin mit einer Genkarte, die aus DNA-Bandenmustern besteht, solche Muster sind bei jedem Menschen einzigartig. Sie werden für Vaterschaftstests und für genetische Fingerabdrücke in der Forensik verwendet, ebenso für Studien zu seltenen Erbkrankheiten wie den FHD-Krankheiten. Foto: PeopleImages

Viele seltene Krankheiten können auf Genmutationen zurückgeführt werden – manche sind Spontanmutationen, andere werden vererbt. Gerade bei spontanen Mutationen durchlaufen Kinder und Eltern häufig einen Diagnose-Marathon, bevor deutlich wird, dass es sich um eine seltene genetisch bedingte Erkrankung handelt. Das Problem ist: Wenn ein Kind an keiner bekannten Krankheit leidet, können die Ärzte es nicht heilen, höchstens die Symptome lindern. Durch den sinkenden Preis von Genomanalysen und mit Hilfe der sich rapide entwickelten Gentechnolgie wird es jedoch hoffentlich künftig möglich sein, immer mehr solcher Gendefekte etwa durch gentechnisch hergestellte Proteine zu behandeln.

Eine hierzulande wenig bekannte Gruppe seltener Krankheiten ist die sogenannte ‚Finnish Heritage Disease‘, kurz FHD. Erstmals wurden Ärzte auf sie aufmerksam, als in den 1950er Jahren ungewöhnlich viele Neugeborene in finnischen Krankenhäusern an einem plötzlichen Nierenversagen starben. In den Jahrhunderten zuvor wurden die meisten Kinder zuhause geboren und kein Arzt bekam sie vor ihrem frühen Tod zu Gesicht. Daher blieb lange Zeit unerkannt, dass diese knapp vierzig seltenen Erbkrankheiten, die in Finnland gehäuft auftreten, eine gemeinsame Ursache haben.

Genetiker schätzen, dass jeder fünfte Finne Träger einer dieser Mutationen ist. Doch weil die allermeisten dieser Krankheiten rezessiv vererbt werden, sind diese Menschen symptomfrei. Nur wenn zwei Träger desselben rezessiven Gens ein Kind haben, besteht bei diesem Kind eine Gefahr von 25 Prozent, dass es erkrankt (siehe Schaubild unten). Heutzutage können die betroffenen Neugeborenen oft mit einer Nierentransplantation geheilt werden. Eine weitere FHD-Erkrankung ist das Usher-Syndrom, hierbei kann es zu Ertauben oder Erblinden kommen, manchmal auch zu Taubblindheit. Drei verschiedene FHD führen zu Kleinwuchs, ein prominentes Beispiel ist der amerikanische Schauspieler Billy Barty, der wegen seiner geringen Körpergröße häufig Kinderrollen bekam. Andere FHD-Erkrankungen sind schwere Stoffwechselstörungen, manche haben eine Beeinträchtigung der geisten Entwicklung zur Folge, und ein paar enden immer noch tödlich, beispielsweise das GRACILE-Syndrom.

Die am stärksten von den FDH-Krankheiten betroffenen Finnen lebten im Südosten von Finnland. Ab dem 16. Jahrhundert gründeten sie Dörfer weiter im Norden, wodurch die genetische Viefalft weiter abnahm. Bild: findis.org
Die am stärksten von FHD-Krankheiten betroffenen Finnen lebten ursprünglich im Südosten von Finnland. Ab dem 16. Jahrhundert gründeten sie Dörfer weiter im Norden: Durch diese zusätzliche Isolation nahm die genetische Viefalft weiter ab. Image: findis.org

Die meisten Betroffenen leben im östlichen und nördlichen Finnland. Schwedische Einwanderer, von denen über die Jahrhunderte viele nach Finnland übersiedelten, und die Samen im hohen Norden weisen kaum FHD-Mutationen auf. Forscher nehmen an, dass vor Tausenden von Jahren die Zahl der damaligen Finnen derartig dezimiert wurde, dass nur noch sehr wenige Gen-Varianten übrig blieben. In der Fachsprache heißt dieser Vorgang ‚population bottleneck‚, übersetzt etwa Flaschenhalseffekt. Was genau damals geschah, werden vielleicht Archäologen irgendwann herausfinden. Womöglich handelte es sich aber auch um eine Kombination aus Missernten, Infektionskrankheiten und kriegerischen Auseinandersetzungen – Ereignisse, die mit der aufkommenden Landwirtschaft häufiger auftraten. Vor einigen hundert Jahren folgte dann noch ein sogenannter Gründereffekt: Aus dieser genetisch recht homogenen Gruppe zogen wenige Individuen los, um abgelegene Regionen zu besiedeln. Dadurch wurde die Konzentration bestimmter Mutationen noch einmal verstärkt.

In den 1950er und 1960er Jahren wurde das Phänomen FHD weiter erforscht, unter Einbeziehung der Familien und Vorfahren der betroffenen Kinder. Allerdings blieb es meist bei Statistiken und Dokumentationen, weil die genauen Auslöser der Krankheiten nicht bekannt waren. In den 1990er Jahren war die Analyse des menschlichen Genoms endlich so weit fortgeschritten, dass nun die auslösenden Mutationen gefunden werden konnten. Leena Peltonen-Palotie, die Grande Dame der finnischen Molekularbiologie, hat mit ihren Teams ingesamt 18 FHD-Erkrankungen genetisch entschlüsselt. Sie hat das Genetik-Institut von UCLA in Los Angeles gegründet, in Großbritannien arbeitete sie am Wellcome Trust Sanger Institute; außerdem hatte sie Arbeitsgruppen in Harvard und MIT. In einer finnischen Fernsehshow wurde Peltonen-Palotie 2004 als eine der 100 wichtigsten Finnen ausgewählt.

Mitter der 1990er Jahre bot ihr Ehemann Aarno Palotie, ebenfalls Genforscher, allen Schwangeren einen kostenlosen Gentest an, die das Gesundheitszentrum vom Kuopio zur Vorsorge besuchten. Gesucht wurde nur nach zwei speziellen FHD-Erkrankungen. Das Team um Palotie fand insgesamt 61 Schwangere mit den entsprechenden Mutationen. Als nächstes wurde den Vätern der ungeborenen Kinder ebenfalls ein Gentest angeboten. Nur in einem Fall hatte der Vater eine identische Mutation, und die anschließende Fruchtwasseruntersuchung ergab, dass das Kind nicht erkrankt war. Heute ist Palotie Forschungsdirektor des Human-Genomikprogramms am Finnischen Institut für Molekulare Medizin FIMM, und Projektleiter der ‘Sequenzier-Initiative Suomi’, kurz SISu.

Die berühmte finnische Genetikerin Leena Peltonen-Palotie (1952-2010). Im Alter von zehn Jahren begann sie, sich für Medizin zu interessieren, als ihr Bruder eine Diabetes-Typ-1-Diagnose erhielt. Foto: Tampere University of Technology
Die berühmte finnische Genetikerin Leena Peltonen-Palotie (1952-2010). Im Alter von zehn Jahren begann sie, sich für ein Medizinstudium zu interessieren, als ihr Bruder mit Diabetes-Typ-1 diagnostiziert wurde. Foto: Tampere University of Technology

Nach den Ergebnissen solch früher genetischer Vorsorgeuntersuchungen sahen die Forscher offenbar keine Notwendigkeit für vergleichbare Screening-Programme für alle schwangeren Frauen in Finnland. Verglichen mit anderen Krankheiten und Syndromen der Kinderheilkunde erscheint die Zahl von ungefähr sechzig betroffenen Babys pro Jahr auch relativ klein. Außerdem kann eine immer größere Zahl dieser Kinder behandelt werden, andere wiederum erfreuen sich trotz ihrer Einschränkungen einer hohen Lebensqualität. Darüber hinaus nehmen Experten an, dass sich das Problem durch Landflucht und die Zuwanderung aus anderen Ländern mit der Zeit verringern wird.

Die genetische Homogenität vieler Finnen hat jedoch nicht nur Nachteile: Dadurch lassen sich genetische Risikofaktoren für weitverbreitete Krankheiten wie Diabetes oder Herzerkrankungen deutlich besser identifizieren als in einem sehr heterogenen Genpool. Durch diese genetische Besonderheit haben finnische Forscher einen viel größeren Einfluss auf die Genforschung, als man von einem Land mit 5,4 Millionen Einwohnern erwarten würde. Leena Peltonen-Palotie untersuchte nicht nur FHD-Mutationen, sondern fand auch die genetischen Grundlagen für weitere Erkrankungen, beispielsweise für das Marfan-Syndrom, sowie Gene, die zur Entstehung von Multipler Sklerose, Schizophrenie und Migräne beitragen. Und Aarno Palotie lädt im Rahmen seines Genomikprogramms ausländische Forscher ein, mit Hilfe der finnischen Gen-Datensätze vielfältige Krankheiten zu studieren: finnisches Big Data als Werkzeug, um häufige Krankheiten zu erforschen und Patienten auf der ganzen Welt zu helfen.

Der Rare Disease Day wurde 2008 zum ersten Mal ausgerufen. Erfunden hat ihn EURORDIS, ein Zusammenschluss von Patienten-Initiativen, deren Mitglieder an seltenen Krankheiten leiden oder auf diesem Gebiet tätig sind. EURORDIS wurde 1997 gegründet und hat sich zum Ziel gesetzt, die Belange von Patienten mit seltenen Krankheiten bekannter zu machen und außerdem die medizinische Forschung zu diesen Erkrankungen sowie die Medikamentenentwicklung anzustoßen. Begangen wird dieser Tag immer am letzten Februar-Tag.

Bei einem autosomal-rezessiven Erbgang besteht nur eine 25-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind von zwei Genträgern tatsächlich erkrankt. Credit: Kashmiri based on work of Domaina, Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license
Bei einem autosomal-rezessiven Erbgang besteht nur eine 25-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind von zwei Genträgern tatsächlich erkrankt. Credit: Kashmiri based on work of Domaina, Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license

Susanne Dambeck

Susanne Dambeck is a science writer in English and German, and author of several nonfiction childrens' books. A political scientist by training, she has worked in politics, television and as a biographer. Apart from scientific findings, she is interested in people and in storytelling in different languages.