Veröffentlicht 13. Juni 2018 von Judith M. Reichel
Die unerträgliche Leichtigkeit der Neutrinos
Sie waren das Opfer vieler Science-Fiction-Witze und sind außerordentlich schwierig zu untersuchen: Neutrinos. Jetzt wurde in Südwestdeutschland ein neues Experiment gestartet, um ihre exakte Masse zu bestimmen.
Im Inneren des großen elektrostatischen Spektrometers des Karlsruher Tritium-Neutrino-Experiments KATRIN. Die langfristige Datenerfassungsphase begann am 11. Juni 2018. Photo/Credit: Michael Zacher
In der Welt der Physik enthält die Masse eines Teilchens eine wichtige Information, mit der sich das Verhalten des betreffenden Teilchen analysieren und vorhersagen lässt. Und im Gegensatz zum Gewicht, das von der Gravitationskraft eines Teilchen abhängt, ist seine Masse eine unveränderliche Konstante.
Ein hinsichtlich seiner Masse und seines Gewichts besonders schwer fassbares Teilchen ist das Neutrino. Neutrinos, die nach ihrer neutralen elektrischen Ladung benannt sind, erreichen nahezu Lichtgeschwindigkeit, interagieren kaum jemals mit Materie und können praktisch alles, unabhängig von der Dichte, durchdringen. Während einige Neutrinos aus der Zeit des Urknalls stammen, werden andere erst erzeugt, beispielsweise über explodierende Supernovae oder Reaktionen in Kernkraftwerken. Wiederum andere entstehen durch natürlich vorkommende radioaktive Zerfallsprozesse: Wenn ein Kaliumisotop zerfällt, werden in unserem Körper rund 5.000 Neutrinos pro Sekunde freigesetzt.
Die ruhende Masse dieser subatomaren Teilchen ist so gering, dass Wissenschaftler sie bis vor kurzem für masselos hielten. Für ihre Ende der 1990er Jahre und Anfang der 2000er Jahre in Japan bzw. Kanada durchgeführten Experimente wurden Takaaki Kajita und Arthur McDonald 2015 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet. Ihnen gelang der Nachweis, dass Neutrinos eine Masse haben. Es gibt drei Unterarten von Neutrinos: die Tau-, Myon- und Elektron-Neutrinos. Kajita und McDonald zeigten mit ihren Experimenten, dass Neutrinos zwischen diesen unterschiedlichen Formen wechseln oder oszillieren können. Diese Oszillation ist allerdings nur möglich, wenn die Teilchen eine Masse haben.
Kajita und McDonald konnten mit ihren Experimenten zwar nachweisen, dass Neutrinos eine Masse haben, es war ihnen aber nicht möglich, das Gewicht der Neutrinos exakt zu bestimmen. Am 11. Juni 2018 startete – im Beisein der beiden Nobelpreisträger – am Karlsruhe Tritium Neutrino (KATRIN) Experiment des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) eine langfristig angelegte Datenerfassung, die durch das erstmalige Injizieren von hochreinem molekularen Tritiumgas in die KATRIN Quelle initiiert wurde. Tritium ist ein radioaktives Wasserstoff-Isotop, das beim Zerfall in das Helium-3-Isotop ein Elektron und ein Neutrino freisetzt. Von KATRIN erhoffen sich die Wissenschaftler endlich eine Antwort auf die seit langem bestehende, grundlegende Frage der modernen Teilchenphysik: Was ist die absolute Masse von Neutrinos?
Das KATRIN-Experiment repräsentiert im Hinblick auf die damit verbundene Technik, die dafür abgeschlossenen Partnerschaften sowie den Zeit- und Kostenaufwand ein gigantisches Kollaborationsprojekt. Für den Bau und den Anschluss der einzelnen Geräte, die sich jetzt unterirdisch auf dem Campus des Karlsruher Instituts für Technologie im Südwesten Deutschlands befinden, wurden fast 15 Jahre benötigt. Derzeit wirken über 150 Wissenschaftler, Ingenieure, Techniker und Studenten aus zwölf Institutionen aus aller Welt am Projekt mit. Die Messzeit ist auf mindestens fünf bis zehn Jahre angesetzt. Die gesamte Anlage hat mehr als € 60 Millionen gekostet. 75% dieser Summe wurden vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung beigesteuert. Auch die USA, Russland, Tschechien und Spanien haben sich beteiligt. Das KATRIN-Messgerät weist eine Gesamtlänge von 70 Metern auf und besteht aus den folgenden sechs Teilabschnitten:
- Hinterer Abschnitt, in dem die Überwachungs- und die Kalibriertechnik untergebracht ist
- Tritiumquelle, die auch die Neutrino-Quelle ist und deren Temperatur gleichmäßig auf 30 °C über dem absoluten Nullpunkt gehalten werden muss
- Transportabschnitt, um den herum supraleitfähige Magnetspulen ein Magnetfeld erzeugen, das 70.000 Mal stärker ist als das Magnetfeld der Erde
- Vorspektrometer, das die Anzahl der Elektronen begrenzt und den Großteil der energieschwachen Zerfallselektronen herausfiltert, da diese keine Informationen über die Neutrinomasse enthalten
- Hauptspektrometer-Tank, in dem die kinetische Energie der Elektronen, die das Vorspektrometer passieren, gemessen wird und der als hochauflösendes Spektrometer (MAC-E-Filter) fungiert
- Detektor: Aufgrund der Anzahl der Elektronen, die den Weg zum Detektor schaffen, und ihrer Restenergie können Physiker die Masse der Neutrinos errechnen.
Das lange Messgerät von KATRIN. Credit: KIT
Auf einen kurzen Nenner gebracht handelt es sich bei KATRIN im Grunde genommen um eine gigantische Vakuumkammer – der Luftdruck in ihrem Innern ist mit dem auf der Mondoberfläche vergleichbar – mit einer stabilen Temperatur und einem gewaltigen Magnetfeld, das sie gegen Außeneinflüsse abschirmt. Das Ziel: die Energie des Elektrons zu messen, das vom Wasserstoffisotop Tritium emittiert wird. Daraus dürften die Wissenschaftler dann die Energie und damit die Masse der gleichzeitig abgegebenen Neutrinos ableiten und berechnen können. Diese Berechnung basiert auf der berühmten Einstein-Gleichung E = mc2, wobei Masse und Energie austauschbar sind.
Als letztes wurde die Tritiumquelle installiert. Aber spektakulärer ist wohl die Geschichte, die sich hinter dem Aufbau des Hauptspektrometer-Tanks verbirgt, der 2006 in Oberbayern aus Edelstahl hergestellt wurde und rund 200 Tonnen wiegt. Der Innendurchmesser beträgt fast 10 Meter, die Gesamtlänge erreicht mehr als 23 Meter und das Fassungsvermögen wird mit 1.400 m3 angegeben – in Form und Größe mit einem verankerten Zeppelin vergleichbar.
Aufgrund dieser massiven Ausmaße erinnert die Reise, die der Tank zurücklegen musste, an Homers Odyssee: Obwohl der Tank nur 400 km von Karlsruhe entfernt hergestellt wurde, konnte er aufgrund seiner Größe nicht auf direktem Wege nach Karlsruhe gebracht werden, sondern musste über die Donau durch Österreich, Ungarn, das Schwarze Meer, das Mittelmeer und schließlich über den Atlantik nach Rotterdam transportiert werden. Von dort ging die Reise über den Rhein bis zu einem Hafen in der Nähe von Karlsruhe weiter. Statt einer Distanz von rund 400 Kilometern legte das Spektrometer letztendlich auf seiner zweimonatigen Reise rund 9.000 Kilometer zurück. Am 29. November 2006 erreichte der Tank, bei dem es sich um den weltweit größten Ultrahochvakuum-Behälter handelt, seinen endgültigen Bestimmungsort.
Frühere Messungen in Deutschland und Russland haben die Masse eines Neutrinos auf höchstens 2 Elektronenvolt geschätzt – was bereits eine Milliarde Mal kleiner als die Masse jedes anderen bekannten subatomaren Teilchen ist. Aufgrund ihrer Ubiquität haben die Neutrinos sehr wahrscheinlich während oder direkt nach dem Urknall und bei der Entstehung des Universums eine entscheidende Rolle gespielt. Ebenso dürften sie die Zukunft des Universums beeinflussen. Wenn ihre exakte Masse bekannt ist, könnten Physiker die kosmologischen Auswirkungen der Neutrinos enträtseln.