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Veröffentlicht 21. Oktober 2019 von Judith M. Reichel

Das Mikrobiom – Wir sind nicht allein

Sie fühlen sich einsam? Das brauchen Sie gar nicht, denn es gibt Billionen von Mikroorganismen, die immerzu auf oder in Ihnen herumkrabbeln. Ein Erwachsener, der 100 Kilo wiegt, trägt zum Beispiel ein bis zweieinhalb Kilo Bakterien mit sich herum. Das klingt vielleicht erst einmal etwas beunruhigend, aber diese ‚Wohngemeinschaft‘ ist eine wichtige Grundlage für die Gesundheit des Menschen. Bakterien produzieren bestimmte Vitamine, helfen uns dabei, Nährstoffe zu verwerten, und zeigen unserem Immunsystem, wie gefährliche Eindringlinge erkannt werden.

Die Gesamtheit der Mikroben, die in oder auf uns leben, nennt man das ‚Mikrobiom‘ – ein Begriff, der von Nobelpreisträger Joshua Lederberg im Jahr 2001 geprägt wurde, im Kontext des Humangenomprojekts. Wobei die Anzahl der Gene dieser Mikroorganismen die Anzahl unserer körpereigenen Gene um das 150fache übertrifft! Lederberg verwendete den Begriff ursprünglich, um ein „ökologisches System aus kommensalen, symbiotischen und vielleicht auch pathogenen Mikroorganismen, die sich im menschlichen Körper befinden“ zu beschreiben. Aber ein solches System gibt es nicht nur beim Menschen, und mittlerweile wissen wir, dass wir alle nicht nur ein „System aus Mikroorganismen“ beherbergen. Wenn wir also heute vom Mikrobiom sprechen, dann bezieht sich das auf eine „Sammlung von Genomen von Mikroorganismen, die in einer spezifischen Nische leben“, während die Gruppe von Mikroben als solche als „Mikrobiota“ bezeichnet werden. Wir bewirten also mehrere Mikrobiome und die Mikrobiota sind auf ein bestimmtes Umfeld spezialisiert, zum Beispiel auf das Innere unseres Mundes oder unserer Nase, auf das Rachensystem, den Darm oder unsere Haut, und auf viele weitere Nischen überall in unserem Körper.

Als Lederberg im Jahr 1958 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin zusammen mit George Wells Beadle und Edward Lawrie Tatum erhielt, gab es das Konzept des Mikrobioms noch gar nicht. Damals teilten sich Beadle und Tatum die Hälfte des Preises für ihre Entdeckung, „dass die Gene wirksam werden, indem sie bestimmte chemische Vorgänge regulieren“, während Lederberg die andere Hälfte „für seine Entdeckungen über genetische Neukombinationen und Organisation des genetischen Materials bei Bakterien“ erhielt. Heute wissen wir, dass es genau diese spezifische genetische Zusammensetzung von bestimmten Bakterien ist, die es uns ermöglicht, unsere Nahrung aufzuspalten und uns mit bestimmten Vitaminen zu versorgen.

Seit dieser Zeit haben wir viel mehr über die Funktion von Bakterien und spezifischen Mikrobiomen herausgefunden. Sie wurden mit ganz unterschiedlichen Erkrankungen in Zusammenhang gebracht, von psychiatrischen Problemen bis hin zu Diabetes, entzündlichen Darmerkrankungen, Krebs und sogar AIDS. Umgekehrt scheint das Mikrobiom auch von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst zu werden – wie z.B. durch den Lebensstil, mit Faktoren wie Ernährung, Sport oder Stresslevel, oder auch durch unser individuelles Erbgut und die Medikamente, die wir einnehmen. Außerdem konnten Wissenschaftler nachweisen, dass den Babys, die durch Kaiserschnitt entbunden wurden und nicht durch eine vaginale Geburt, bestimmte Mikrobiota fehlen. Noch sind die spezifischen Auswirkungen auf die Gesundheit unklar, aber das Fehlen dieser Mikroben kann das Risiko erhöhen, später im Leben Allergien zu entwickeln.

Das Mikrobiom, das bis heute wahrscheinlich am meisten untersucht wurde, ist das „Darmmikrobiom“. Die Beschreibung deutet schon darauf hin, womit dieses Mikrobiom vorwiegend befasst ist – mit der Verdauung. Aber das Darmmikrobiom trägt nicht nur dazu bei, die Nahrung zu verwerten; es kann sich auch auf unseren Appetit auswirken: Mikrobiota, die daran gewöhnt sind, industriell hergestellte Nahrungsmittel zu verdauen, wecken auch wieder ein Verlangen nach genau diesen Lebensmitteln – ein Teufelskreis, der schwierig zu durchbrechen ist. Außerdem beeinträchtigt die Behandlung mit Antibiotika nachweislich die Funktion des Darmmikrobioms. In extremen Fällen können diese Fehlfunktionen nur durch Stuhltransplantationen behoben werden.

Es scheint allerdings so, als ob das Darmmikrobiom noch viel mehr kann: Ein Artikel, der vor kurzem in Nature erschienen ist, macht deutlich, dass zwei Drittel der geprüften Medikamente über die Darmmikrobiota metabolisiert und in ihrer Funktion signifikant verändert werden. Bisher wurde angenommen, dass Medikamente primär von der Leber verstoffwechselt werden und dass Unterschiede beim Ansprechen von Medikamenten bei einzelnen Patienten durch individuelle genetische Unterschiede der Patienten begründet sind. Zimmermann und seine Kollegen haben jetzt jedoch in ihrem Artikel festgestellt, dass spezifische mikrobielle Genprodukte die Medikamente metabolisieren – und dabei handelt es sich genau um das unverwechselbare genetische Material und die genetischen Eigenschaften, für die Lederberg den Nobelpreis erhalten hat.

Insbesondere im Kontext der personalisierten Medizin ist das eine wichtige Erkenntnis: Um individuell auf Patienten abgestimmte, persönliche Behandlungspläne bestimmen zu können, muss auch die Darmmikrobiota analysiert werden. Das ist besonders signifikant, da mehr und mehr Therapien oral verabreicht werden, und nicht mehr über Injektionen, wo die Darmmikrobiota möglicherweise umgangen wird. Die Pharmaindustrie hat diese Mikroben bereits als neues potenzielles Target für Arzneimittel identifiziert, und viele Unternehmen sind auf einem guten Weg, zielgerichtete, niedermolekulare Ansätze zu entwickeln.

Man kann leicht den Eindruck gewinnen, dass das Mikrobiom der neuste Schrei ist – nicht nur in der Wissenschaft, auch in Zeitungsartikeln oder sogar im Fernsehen. In der Werbung werden zahlreiche Joghurts und Pillen propagiert, die unsere Darmmikrobiota verbessern sollen, es gibt Cremes, die angeblich das Aussehen und die Widerstandskraft unserer Haut verbessern, indem sie die Mikrobiota der Haut beeinflussen. Ein Mikrobiom, so scheint es, ist auf jeden Fall etwas Gutes und es lohnt sich allemal, Geld in die Hand zu nehmen, um dessen Funktion zu verbessern.

Oder nicht? Neue Forschungsergebnisse deuten auf die Mikrobiome als Ursache oder zumindest als Beteiligte bei der Entwicklung von vielen Erkrankungen hin. Es wurden zum Beispiel erste Zusammenhänge zwischen Veränderungen des Mikrobioms im Darm und Fibromyalgie aufgezeigt, auch bei der amyotrophen Lateralsklerose (ALS), Alzheimer oder Morbus Parkinson ist das der Fall.

Was ist also die Antwort? Werden wir krank, weil Mikrobiome nicht richtig funktionieren oder funktionieren unsere Mikrobiome nicht richtig, weil wir krank sind? Bietet uns das Mikrobiom eine Quelle für neue Therapie-Targets oder ist es die Wurzel alles Bösen?

Wie bei vielen Dingen, liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte, ein gesunder Lebensstil trägt zu gesunden Mikrobiomen bei und umgekehrt. Alles was wir unserem Körper zuführen, betrifft nicht nur unsere Zellen, sondern auch die Mikrobiota – und unser Körper wird umgekehrt auch von diesen Mikroben beeinflusst. Genauso wie jeder Mensch einzigartige Gene hat, sind auch die Mikrobiota und das Zusammenspiel der beiden bei jedem Menschen anders. Beide sind für uns überlebenswichtig, aber es kann auch sein, dass sie ‚mutieren‘ und pathologisch werden. Wir leben in einer Symbiose, bis zu drei Prozent unseres Körpers bestehen aus Mikroben. Wir sind nie alleine und es braucht ein Dorf mit einem gut ausgewogenen Gleichgewicht von Mikroben, damit wir gesund bleiben.

Judith M. Reichel

Judith Reichel is a Neuroscientist by training, but during a two-year postdoc in New York she discovered her inner science advocate. She has been vocal as a science writer ever since, covering science policy issues as well as specific research topics. Now based in Berlin, Judith is working for the German Federal Ministry of Research and Education. However, her contributions for this blog solely reflect her own private opinions.