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Veröffentlicht 29. November 2018 von Judith M. Reichel

Nobelpreis für Chemie 2018 – Die Evolutionäre Geschichte von Enzymen und Antikörpern

Dieser Blogbeitrag ist Teil einer Reihe von Artikeln über die Forschungen, die in diesem Jahr mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Die offizielle Nobelpreiszeremonie wird am 10. Dezember in Stockholm stattfinden.

Evolution und natürliche Selektion sind die treibenden Kräfte, die aus einzelligen Lebewesen komplexe Lebewesen mit Billionen von Zellen gemacht haben, die wir heute sind. Aber wie könnte der Mensch tatsächlich jemals die ‚Kraft der Evolution‘ für sich nutzbar machen? Den diesjährigen Nobelpreisträgern in Chemie ist genau dies gelungen.

Der Nobelpreis für Chemie 2018 ging an drei äußerst renommierte Wissenschaftler: zur einen Hälfte an George P. Smith, emeritierter Professor der University of Missouri-Colombia, sowie Sir Gregory Winter, Professor an der University of Cambridge, Großbritannien, und zur anderen Hälfte an die Biochemikerin Frances H. Arnold vom California Institute of Technology (Caltech). Laut Nobelkomitee erhielt Frances Arnold den Preis „für die gerichtete Evolution von Enzymen”, während George P. Smith und Sir Gregory Winter „für das Phagen-Display von Peptiden und Antikörpern” mit dem Preis gewürdigt wurden.

Anfang der 1990er Jahre entwickelte die 1956 in Pittsburgh geborene Frances Arnold die Methode, für die sie jetzt mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde: die sogenannte „gerichtete Evolution“. Dieses Verfahren wird verwendet, um Proteine herzustellen, die nicht in der Natur vorkommen. Proteine sind die Bausteine des Lebens. Und Enzyme, die an so gut wie jeder biochemischen Reaktion beteiligten Katalysatoren, bestehen aus Proteinen. Folglich hängt die Funktion eines Enzyms und somit einer biochemischen Reaktion von den beteiligten Proteinen ab. Struktur und Funktion von Proteinen beruhen wiederum auf der zugrunde liegenden DNA-Sequenz. Zur Erzeugung eines spezifischen Proteins oder einer Enzymfunktion induziert Arnold DNA-Mutationen in eine spezifische DNA-Sequenz eines Proteins mit einer Funktion, die ihrem Zielprodukt entspricht. Diese veränderte Sequenz wird dann in einen Wirtsorganismus oder eine Zellkultur zurückgeführt, wo sie in ein neues Protein mit geänderter Funktion übersetzt wird. Diese geänderten Funktionen werden dann zweckorientiert getestet und der gleiche Zyklus aus Mutation und Selektion solange wiederholt, bis das Protein und damit das Enzym mit den gewünschten Merkmalen und Funktionen erzeugt wurde. Die Besonderheit der Methode von Arnold besteht darin, dass sie weder versucht, von Grund auf eine neue Enzym-DNA-Sequenz oder Proteinstruktur zu erzeugen, noch auf Zufallsmutationen wartet, um Änderungen zu realisieren, die hilfreich sein können oder nicht (wie im Evolutionsfall). Statt spezielle Mutationen zu induzieren, die sie besonders interessieren, nutzt sie die Zufallskraft der Evolution zu ihrem Vorteil. Und weil sie darüber hinaus als Wirtsorganismen für ihre neu synthetisierten DNA-Sequenzen rasch proliferierende Bakterien wählt, kann sie schnell feststellen, ob die Proteine tatsächlich die gewünschten Funktionen aufweisen – ohne die komplexe Co-Abhängigkeit der Proteinstruktur und ihrer Funktion im vollen Umfang nachvollziehen zu müssen. Die Methode wurde seit ihren Anfängen 1993 mehrmals verfeinert und gilt heute als Standardmethode für die Entwicklung neuer Katalysatoren.

 

 

Ein weiteres Verfahren, mit dem sich große Mengen von Peptiden, Proteinen oder Antikörpern erzeugen lassen, ist das sogenannte ‚Phagen-Display‘. Diese Methode wurde von George Smith entwickelt, der 1941 in Connecticut geboren ist. Die Proteinhüllen von Bakteriophagen (oder kurz ‚Phagen‘), bei denen es sich um Viren handelt, die Bakterien infizieren können, lassen sich so verändern, dass sie bestimmte Proteine ‚präsentieren‘. 1985 führte Smith erstmalig eine Proteinsequenz in ein Phagen ein und das betreffende Protein ‚präsentierte‘ sich nachfolgend auf dessen Oberfläche. Solche Proteine auf den Phagen sind Bindungsstellen für Peptide und andere Proteine. Wenn sich solche Peptide oder Proteine daran binden, können ihre Bindungsdynamik und die Protein-Protein-Interaktionen untersucht werden. Zudem kann ein Phagen mehrere unterschiedliche Bindestellen aufweisen. So lassen sich riesige Proteinbibliotheken durchsuchen und nach ihren Funktionen und Interaktionen auswählen. Dieser Prozess verläuft in gewisser Weise analog zur natürlichen Selektion, bei der die ‚geeignetsten‘ Versionen mit den passendsten Funktionen überleben oder ‚selektiert‘ werden.

 

 

Wenn die DNA-Sequenz eines Proteins schließlich bekannt ist, kann sie auf die Phagen-Oberfläche aufgebracht werden. Bindet sich dann ein Peptid an dieses Oberflächenprotein, kann diese spezielle Bindungsstelle isoliert und ihr genetischer Code sequenziert werden; auf diese Weise lässt sich ein neuer Antikörper identifizieren, der nachfolgend im Labor erzeugt werden kann.

Zu guter Letzt hat Gregory P. Winter, 1951 in Leicester, Großbritannien, geboren, diese komplexe Phagen-Display-Methode für die Herstellung neuer Pharmazeutika weiterentwickelt. Aufgrund seiner Verbesserungen müssen viele Antikörper zur Verwendung beim Menschen nicht mehr in Mäusen oder anderen Wirtsarten synthetisiert werden. Dadurch konnte das Auftreten von Kreuzreaktivitäten und allergischen Reaktionen verringert werden. Winter war mit seinem neuen Tool für die Entwicklung von Antikörpern so erfolgreich, dass er 1989 die ‚Cambridge Antibody Technology‘ gründete – eines der ersten Biotechnologieunternehmen, das im Antibody-Engineering tätig war. Der erste mit dieser Methode hergestellte pharmazeutische Antikörper wurde 2002 zugelassen. Dabei handelt es sich um einen Antikörper gegen den Botenstoff TNF-alpha, der Bestandteil der Entzündungsreaktion ist. Der Antikörper wird zur Behandlung von rheumatoider Arthritis, Psoriasis und entzündlichen Darmerkrankungen eingesetzt. 2017 war er mit einem Umsatz von über $ 18 Mrd. das weltweit meistverkaufte Medikament

In der von Winter angewandten Weise ist das Phagen-Display aber nicht nur für eine ganze Reihe von chronischen Erkrankungen nützlich, die alle Patienten in ähnlicher Weise betreffen. Die Methode erweist sich auch zunehmend als vielversprechender Ansatz zur Behandlung von (metastasierenden) Krebserkrankungen: Mit dem Phagen-Display werden synthetische Antikörper erzeugt und ausgewählt, die auf die Oberflächenproteine des Tumors abzielen. Diese werden zu synthetischen Rezeptoren für dem Patienten entnommene T-Zellen verarbeitet – ein weiterer entscheidender Teil des Immunsystems. Dadurch wird das eigene Immunsystem des Patienten in die Lage versetzt, die Krebszellen zu erkennen und zu bekämpfen.

Zusatzinformation: Eine neue Serie von Mini Lectures zum Thema DNA und ihrer Reproduktion und Modifikation kann in unserer Mediathek angesehen werden.

Judith M. Reichel

Judith Reichel is a Neuroscientist by training, but during a two-year postdoc in New York she discovered her inner science advocate. She has been vocal as a science writer ever since, covering science policy issues as well as specific research topics. Now based in Berlin, Judith is working for the German Federal Ministry of Research and Education. However, her contributions for this blog solely reflect her own private opinions.