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Veröffentlicht 10. Oktober 2019 von Forschungszentrum Jülich

Die 69. Lindauer Tagung: „Das kann mir keiner nehmen“

Unter den 580 Nachwuchswissenschaftler aus 89 Ländern der 69. Lindauer Nobelpreisträgertagung zur Physik war auch Sven Borghardt, Physiker und Doktorand am Peter Grünberg Institut, Bereich Halbleiterelektronik, des Forschungszentrums Jülich. In einem Interview spricht er über seine Erfahrungen von der Tagung und seinen Begegnungen mit Nobelpreisträgern. Der Beitrag erschien zuerst auf der Webseite des Forschungszentrums Jülich.

Warum haben Sie sich für eine Teilnahme an der Nobelpreisträgertagung beworben?

Sven Borghardt: Eine Motivation war die fachliche Überschneidung mit meinem Fachgebiet. Mein Forschungsthema basiert zu wesentlichen Teilen auf der Arbeit zweier Physiker aus Manchester, die beide 2010 den Nobelpreis erhalten haben: Konstantin Novoselov und Andre Geim. Einer der beiden – Novoselov – war auf der Tagung anwesend.

Was ist denn Ihr Forschungsthema?

Sven Borghardt: Mein Thema sind zweidimensionale Halbleiter. Unsere Materialien stellen wir mit der Methode her, die Novoselov und Geim entwickelt haben, um Graphen zu gewinnen – auch als Tesafilmmethode bezeichnet. Dabei verringern wir die Dicke von Halbleiterschichten auf nur eine atomare Lage. Zu den Zielen gehört es, die Eigenschaften der Materialien zu untersuchen. Diese sind im Nanometerbereich vollkommen anders als bei größeren Strukturen. Erforscht werden die Materialien mit optischen Methoden; langfristig wollen wir neue optische Geräte herstellen. Unter anderem möchten wir Quantenlicht erzeugen und für die optische Kommunikation nutzbar machen.

Sven Borghardt während des Laureate Lunchs mit Konstantin Novoselov. Photo/Credit: Patrick Kunkel/Lindau Nobel Laureate Meetings

Wie war denn Ihr erster Eindruck von der Konferenz?

Sven Borghardt: Was mir als erstes aufgefallen ist, war die schöne Umgebung. Der Ort ist perfekt gewählt und die Organisation war fantastisch sowohl von der inhaltlichen Gestaltung her als auch vom Rahmenprogramm. Besser könnte man es nicht machen. Ich bin sehr dankbar, dass ich diese Chance erhalten habe.

Gab es Vorträge, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?

Sven Borghardt: Interessant war für mich beispielsweise der Lebensweg von Konstantin Novoselov. Ich dachte immer, Nobelpreisträger hätten quasi ihr Leben lang zielstrebig ihr jeweiliges Forschungsvorhaben verfolgt; tatsächlich ist es so, dass zumindest einige eher über Umwege ans Ziel gelangt sind. Das ist deswegen für mich relevant, weil ich zurzeit selber überlege, wie es nach der Promotion weitergehen soll. Vielleicht könnte ich mal etwas anderes ausprobieren? Andererseits heißt es, wer die Wissenschaft einmal verlassen hat, kann nur schwer wieder zurückkommen. Bei dem aktuellen Tempo wissenschaftlicher Entwicklungen hat man in wenigen Jahren den Anschluss verloren. Novoselov ist ein sehr gutes Beispiel für einen Forscher, der auch über seinen wissenschaftlichen Werdegang hinaus Erfahrungen gesammelt hat. Als gebürtiger Russe hat er nach dem Zerfall der Sowjetunion sehr aktiv in der Baubranche gearbeitet und sich erst später völlig der Wissenschaft gewidmet. Sein Nobelpreis hat viel Kreativität verlangt und vielleicht war es gerade sein unkonventioneller Lebenslauf, der ihm zu diesem Erfolg verholfen hat. Hinzu kommt, dass er künstlerisch tätig ist; Malen ist eine Leidenschaft von ihm. Er versucht sogar, Forschung und Kunst zu verbinden, beispielsweise indem er als ein künstlerisches Projekt aus alten Gemälden Graphen extrahiert. Seine Empfehlung an uns lautete, uns andere Fachgebiete zu erschließen und auf diese Weise das eigene kreative Potenzial zu verstärken. Dieses kann dann wiederum in die Forschung einfließen. Auch sein Kollege Andre Geim ist ein gutes Beispiel für diesen Ansatz: Er ist der einzige Forscher, der außer dem Nobelpreis auch den Ig-Nobelpreis erhalten hat. Dabei handelt es sich um eine ironische Auszeichnung, mit der besonders schräge Forschungsergebnisse prämiert werden. Geim hat sie für den Nachweis erhalten, dass Frösche in Magnetfeldern schweben können.

Sie könnten sich vorstellen, nach der Promotion zunächst in die Wirtschaft zu gehen?

Sven Borghardt: Ich denke, auch eine Tätigkeit in der Wirtschaft hat das Potenzial, gesellschaftlichen Mehrwert zu schaffen und die Welt zu bewegen. Übrigens ist es auch schon vorgekommen, dass Firmen Nobelpreise erhalten haben, beispielsweise IBM für die Rastertunnelmikroskopie und die Bell Labs für Transistorforschung. Aber ich habe mich noch nicht endgültig entschieden.

Sven Borghardt mit Turingpreisträger Vinton Cerf, Photo/Credit: Sven Borghardt

Mit Novoselov haben Sie einen der führenden Köpfe auf Ihrem Fachgebiet getroffen. Haben Sie in Lindau weitere Preisträger erlebt, die Sie beeindruckt haben?

Sven Borghardt: Ja, die beiden Turingpreisträger Vinton Cerf und Martin Hellman. Der Turing-Award ist die höchste Auszeichnung in der Informatik, vergleichbar dem Nobelpreis. Beide haben zeitweise in der Industrie gearbeitet. Cerf gilt als einer der Urväter des Internet und Hellman hat die Auszeichnung für Leistungen in der Kryptographie erhalten. Darüber hinaus hat er sich viel mit Ethik beschäftigt und uns von einem Schlüsselerlebnis berichtet: In den frühen siebziger Jahren, in denen erstmals auch nichtmilitärische Einrichtungen Zugriff auf Verschlüsselungstechnologien erhalten sollten, entdeckte Hellman, dass der von IBM und der National Security Agency (NSA) der USA zur Verfügung gestellte Algorithmus zu schwach für eine ausreichende Verschlüsselung war. Damit war es Institutionen, die über die nötige Rechenleistung verfügten, nach wie vor möglich, Zugriff auf streng vertrauliche Nachrichten zu erlangen. Als er jedoch die NSA auf seine Entdeckung aufmerksam machte, stieß er auf wenig Interesse. Irgendwann hat er begriffen, dass der Bug in der Kryptografie Absicht war und der NSA selber die Arbeit erleichtern sollte. Heute bereut er sein Beharren darauf, diese Hintertür zu schließen, und betrachtet die nationale Sicherheit als Priorität. Als weiteres Beispiel für die Veränderung von Werturteilen hat er das Leben von Alan Turing selber genannt. Diesem war es während des Zweiten Weltkriegs gelungen, den Code zu entschlüsseln, mit dem die Nazis kommunizierten. Damit hat er eine große Leistung für die Verteidigung Englands erbracht. Trotzdem wurde er in der Nachkriegszeit strafrechtlich verfolgt, weil er schwul war. Er wurde vor Gericht zu einer ärztlichen Behandlung verurteilt, an deren Nebenwirkungen er sehr litt. Vermutlich als Folge davon bekam er Depressionen und hat sich schließlich das Leben genommen. Heute ist Homosexualität gesellschaftlich akzeptiert. Hellman hat uns dazu aufgefordert, unsere ethischen Einstellungen immer wieder zu überdenken und zu prüfen, ob Dinge, die wir heute als unethisch betrachten, es auch sind. Ich versuche jetzt, offener durch die Welt zu gehen.

Welches weitere Event auf der Tagung war in irgendeiner Form bemerkenswert?

Sven Borghardt: Sehr bewegend war der Vortrag der Friedensnobelpreisträgerin von 2011, Tawakkol Karman. Sie stammt aus dem Jemen und wurde für ihr Engagement als Journalistin gegen den dortigen Diktator geehrt. Die Menschen, die im arabischen Frühling auf die Straße gegangen sind, haben in Kauf genommen, im Kampf für die Freiheit ums Leben zu kommen. Karman hat auch dafür plädiert, den demokratischen Prozessen in den arabischen Staaten mehr Zeit einzuräumen.

Haben Sie noch weitere Forscher getroffen, die für Sie Vorbildcharakter hatten?

Sven Borghardt: Eine Anekdote von Steven Chu habe ich mir gemerkt. Als junger Wissenschaftler ist er von Stanford nach Berkeley gewechselt, um dort eine Stelle anzutreten. Er hatte jedoch noch eine Arbeit aus seiner Stanforder Zeit im Veröffentlichungsprozess. Da hat ihn sein Professor angesprochen und ihm nahegelegt, auf die Erstautorschaft zu verzichten. Stattdessen sollte ein Kollege als Erstautor genannt werden, der sehr viel weniger zu der Arbeit beigetragen hatte. Als Chu fragte, warum er das tun solle, lautete die Antwort: Du hast schon eine Stelle und er nicht. Da war Chu sofort einverstanden. Ein solches Verhalten ist für mich vorbildlich. Das findet man heute nicht mehr im Wissenschaftsbetrieb. Aber ich meine, man sollte Kennzahlen und Leistungsindikatoren nicht einen solchen Stellenwert einräumen. Es sollte meiner Meinung nach reichen, in der Forschung stets sein Bestes zu geben. Das sollte von der wissenschaftlichen  Community deutlich mehr Anerkennung erfahren als irgendwelche leicht zu manipulierenden Zahlen.

Haben Sie noch ein Fazit zu der Tagung?

Sven Borghardt: Mir ist in Lindau klar geworden, in welchem Ausmaß Wissenschaft Menschen unterschiedlicher Kulturen verbindet. Alle setzen sich mit ähnlichen Fragen auseinander und haben mit den gleichen Problemen zu kämpfen. Wissenschaft ist nicht immer planbar, aber ein großartiges Arbeitsfeld und Forscher haben der Gesellschaft gegenüber eine hohe Verantwortung. Sie sollten auf Risiken hinweisen und Lösungen aufzeigen. Insgesamt war die Veranstaltung ein einmaliges Erlebnis. Das kann mir keiner nehmen.

Die Fragen stellte Kristin Mosch vom Forschungszentrum Jülich. Videos und Hintergrundinformationen zur 69. Lindauer Nobelpreisträgertagung finden sich auf der Tagungsseite in der Mediathek.

Forschungszentrum Jülich

These two interviews were conducted by the Forschungszentrum Jülich, member of the Helmholtz Association of German Research Centres and nominating institution for the Lindau Nobel Laureate Meetings.