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Veröffentlicht 2. Dezember 2021 von Hanna Kurlanda-Witek

Nobelpreis für Physiologie/Medizin 2021: Was man durch Chili, Wasabi und Menthol lernen kann

Wodurch spüren wir Berührungen? Photo/Credit: Torredesign/iStockphoto

Schon im Vorschulalter lernen Kinder, dass es fünf Sinne gibt: Sehen, Fühlen, Riechen, Schmecken und Hören. Allerdings haben alle Lebewesen, angefangen bei Bakterien bis hin zum Menschen, nur einen Sinn gemeinsam: den Tastsinn. Er ist auch das einzige Sinnesorgan, das an jedem Bereich unseres Körpers aktiviert werden kann. Nicht zuletzt ist die Fähigkeit zu fühlen auch essenziell für unser Überleben. Wir nehmen Temperatur und Druck wahr, weil unser Nervensystem auf diese physischen Reize reagiert. Aber wie werden diese Vorgänge von unserem Körper auf molekularer Ebene kommuniziert?

Den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 2021 teilen sich David Julius und Ardem Patapoutian „für ihre Entdeckungen von Rezeptoren für Temperatur und Druck“. Beide Wissenschaftler stellten fest, dass die Wahrnehmung von Druck und Schmerz als selbstverständlich angesehen wird, dass dieses wichtige Merkmal der Physiologie aus chemischer Sicht allerdings unbekannt war. Es war „der Elefant im Raum“, sagte Patapoutian in einem Interview.

Von der Chilischote zum Schmerzmittel

Transiente Rezeptor-Potential-Kationenkanäle (TRP, gesprochen „trip“) sind Proteine, die in Zellmembranen eingebaut als Sensoren fungieren. TRP wurde erstmals 1969 in Fruchtfliegen entdeckt, aber erst über zwei Jahrzehnte später richtig identifiziert. Mitte der 1990er Jahre beschlossen David Julius und seine Kollegen, nach dem Rezeptor für Capsaicin zu suchen – der chemischen Verbindung, die Chilischoten Schärfe verleiht. Es war bekannt, dass Capsaicin die für die Schmerzwahrnehmung verantwortlichen Nervenzellen aktiviert, indem es das Kalzium in ihren Membranen erhöht. Der Rezeptor für Capsaicin wurde aus Nervenzellen in der Wurzel eines Spinalnervs geklont; später stellte man fest, dass er auch durch schmerzverursachende Hitze (über 43 °C) aktiviert wird.  Dieser neue Rezeptor wurde der TRP-Familie von Ionenkanälen zugeordnet und TRPV1 genannt. Indem sie die für TRPV1 verantwortlichen Gene in Mäusen ausschalteten, konnten Julius und sein Team zeigen, dass Mäuse ohne TRPV1-Rezeptoren gegen hitzebedingte Schmerzen resistent waren.

How do we sense that chili peppers are hot?
Scharfe Lebensmittel wie Chilischoten oder auch Wasabi spielten bei der Forschung der neuen Medizinnobelpreisträger eine entscheidende Rolle. Foto/Credit: Torresigner/iStockphoto

Julius setzte die Identifizierung weiterer TRP-Kanäle mithilfe von natürlichen Substanzen fort. Beispielsweise aktiviert das Menthol aus der Pfefferminze den Kälterezeptor TRPM8. (Diese Entdeckung wurde unabhängig davon ebenfalls von Ardem Patapoutian und seinem Team gemacht). Das als Wasabi-Rezeptor bekannte TRPA1 wird durch eine Reihe von Pflanzenchemikalien stimuliert, vor allem durch Senf und Meerrettich. „Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir die Ursprünge der natürlichen Substanzen erhalten“, sagte Julius in einem Telefoninterview kurz nach der Bekanntgabe des Nobelpreises. Viele Medikamente zur TRP-Modulation sind mittlerweile in die Phase der klinischen Studien übergetreten; darunter nicht nur diejenigen, die sich auf Schmerzen konzentrieren, sondern auch solche, die auf die Behandlung einer Vielzahl von Krankheiten abzielen.

Experimente mit Mäusen

Chemische Signale sind eine Form der Kommunikation zwischen Zellen. Physischer Druck hingegen war als Signalmechanismus lange Zeit „ein Rätsel“, sagt Ardem Patapoutian. Im Jahr 2009 entwickelten Patapoutian und sein Doktorand Bertrand Coste ein Experiment mit Zellen, die ein elektrisches Signal erzeugten, wenn sie mit einer Mikropipette angestochen wurden. Die Kandidatengene für Ionenkanäle wurden in jeder Charge dieser Zellen ausgeschaltet. Anschließend begann die Suche nach der Zelle, die nicht auf Berührung reagierte. „Es war ein zermürbendes und schwieriges Projekt“, erinnert sich Patapoutian. Es dauerte über ein Jahr, bis das Gen mit dem Namen Piezo1 identifiziert war. Kurz darauf wurde ein ähnliches Gen, Piezo2, gefunden, was darauf hindeutet, dass die Piezo-Proteine wie TRP eine Familie von Ionenkanälen bilden. Um die realen Auswirkungen der Eliminierung von Piezo-Genen zu sehen, führte die Forschungsgruppe eine Reihe von Experimenten durch, bei denen Mäuse mit dem Piezo2-Gen und ohne verglichen wurden. Dabei wurde den Mäusen mit einem Wattestäbchen über die Pfoten gestrichen oder ein Stück Klebeband auf den Rücken geklebt (Mäuse mit Piezo2 versuchten, das Klebeband von ihrem Rücken abzuschütteln).

Was als langwieriges Zellexperiment in der Grundlagenforschung begann, hat sich zu einer Reihe von potenziellen Anwendungen ausgeweitet. Menschen, denen Piezo-Gene fehlen, leiden an verschiedenen Krankheiten, die vor der Entdeckung von Piezo möglicherweise falsch diagnostiziert wurden. Eine solche Funktionsstörung ist das Fehlen der Propriozeption – des Bewusstseins, wo sich unsere Gliedmaßen im Verhältnis zum Rest unseres Körpers befinden. Beispielsweise kann eine Person mit verbundenen Augen ohne Propriozeption nicht richtig gehen. Eine Behandlung für diese Krankheiten ist vielleicht noch nicht in Sicht, aber die Kenntnis ihrer Ursache ist ein wichtiger Schritt dafür.

Hanna Kurlanda-Witek

Hanna Kurlanda-Witek ist Wissenschaftsautorin und Beraterin zu Umweltthemen in Warschau/Polen. Sie hat einen Doktortitel in Geowissenschaften von der Universität Edinburgh, für den sie viel Zeit im Labor verbrachte. Als Expertin für sowohl Forschung als auch industrielle Anwendung schlägt sie durch die Vereinfachung von Wissenschaftskommunikation eine Brücke zwischen diesen beiden Welten.