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Veröffentlicht 26. Juni 2023 von Andrei Mihai

Evolution, Editierung und Klicken: Nobelpreisträger*innen enthüllen die Revolution der Biochemie

Frances H. Arnold bei ihrer ersten Lecture vor Ort in Lindau.

„Ich wollte schon immer Bio-Ingenieurin werden und ich habe mich in Enzyme verliebt“, gestand Frances Arnold bei #LINO23. „Im Vergleich zu Menschen sind Enzyme die besseren Chemiker.“ Arnold, eine studierte Ingenieurin, erhielt im Jahr 2018 den Chemienobelpreis für ihre Arbeit an der gerichteten Evolution zur Entwicklung von Enzymen. Ihre Lecture war der Auftakt zu einer faszinierenden Vortragsreihe über Biochemie und darüber, wie wir die Möglichkeiten der Biochemie zum Wohle der Menschheit nutzen können.

Die Entwicklung von Enzymen

Proteine und Enzyme haben die bemerkenswerte Fähigkeit, sich an verschiedene Bedingungen anzupassen und diese zu optimieren, erläuterte Arnold in ihrem spannenden Vortrag. Diese Anpassungsfähigkeit zeigt sich zum Beispiel in der raschen Entwicklung von Antibiotikaresistenzen. Diese Eigenschaft stellt nicht nur ein Problem dar – sondern auch eine Chance.

Arnold wollte Enzyme erzeugen, die in der menschlichen Chemie nicht existierten. Wie viele ihrer Kolleg*innen war sie frustriert, weil ihre Arbeit nicht die Fortschritte machte, die sie sich erhofft hatte. Andere Forscher*innen entwickelten Enzyme, die zumindest minimal funktionierten – Frances Arnold produzierte jedoch gar nichts. Schließlich erkannte sie, dass es eine exzellente Chemikerin gab, der ihr helfen konnte: die Natur.

Die Natur hat bereits alles in der Chemie vollbracht und sie schafft dies durch Evolution, erklärte Arnold.

„Wie erzeugen Enzyme neue Chemie? Sie entsteht aus der Vielfalt heraus. Neuartigkeit ist bereits vorhanden, weil es in der natürlichen Welt eine enorme Diversität gibt. Man weiß nur nicht, wo genau sie existiert, aber die Natur ist in der Lage, sie zu finden und sie durch die natürliche Selektion zum Vorschein zu bringen.“

Folglich begann Arnold mit der Erzeugung neuer Proteine durch den Prozess der gerichteten Evolution. Dabei handelt es sich um eine Methode der Bioverfahrenstechnik, die die natürliche Evolution imitiert, um neue und verbesserte Enzymproteine zu erschaffen. Der Prozess umfasst sich wiederholende Runden von Genmutationen, Selektion oder Screening und Amplifikation.

Die gerichtete Evolution ist vergleichbar mit dem Erklimmen eines Hügels in einer „Adaptions-Landschaft“ (fitness landscape), wo die Höhe die gewünschte Eigenschaft darstellt. In jeder Selektionsrunde werden Mutanten auf allen Seiten der Ausgangsprobe untersucht, wobei die Mutante mit der höchsten Erhebung ausgewählt und letztlich der Hügel erklommen wird. Dieses Prozedere wird so lange wiederholt, bis ein lokaler Gipfel erreicht wird.

Biochemiker*innen nehmen dabei die Rolle des ‚Züchters‘ ein und mutieren Gene mit großer Sorgfalt. Anschließend untersuchen Chemiker*innen die Ergebnisse und suchen nach Verbesserungen für die gewünschte Funktion. Die vorteilhaften Mutationen werden selektiert und in den Prozess zurückgeführt, sodass sich dieser immer mehr der maximal gewünschten Funktion annähert.

Wenn man mit Hilfe der Evolution neue Enzyme erzeugt, durchdringt man nicht zwangsläufig alle genetischen Mechanismen, die dabei eine Rolle spielen. Aber auch das ist nicht neu. Man denke nur an die vielen verschiedenen Hunderassen, erläuterte Arnold. Sie sind das Ergebnis von Züchtung, ohne dass die Züchter*innen diesen Prozess wirklich verstanden haben. In jüngerer Zeit wurde das beschriebene Verfahren bei unterschiedlichen Produkten eingesetzt, unter anderem in Haargel und Reinigungsmitteln.

„Die gerichtete Evolution funktioniert bereits seit vielen Jahren erstaunlich gut und es mag Sie womöglich überraschen, dass Waschmittel durch natürliche Evolution entstanden sind. Denn welches natürliche Enzym möchte schon in Ihrer Waschmaschine arbeiten?“, scherzte Frances Arnold.

Aber es wird noch interessanter: Die gerichtete Evolution kann nicht nur zur Schaffung von Dingen eingesetzt werden, sondern auch für deren Zerstörung. Dies ist von besonderer Relevanz, wenn man bedenkt, dass jedes Jahr weltweit 50 Millionen Tonnen Elektroschrott anfallen, von denen wir nur einen Bruchteil recyceln. Materialien wie diese bleiben, neben vielen Reinigungs- und Haushaltsprodukten, lange Zeit in der Umwelt erhalten und wir haben keine wirksamen Mittel, um sie abzubauen.

Arnold erklärte, dass sie in dieses Thema nicht mehr Einblick geben kann, da sie aktuell an einer wissenschaftlichen Publikation arbeitet – ein Beweis dafür, dass man auch als Nobelpreisträger*in noch viel Arbeit vor sich hat. Aber sie ist nicht die Einzige, die die Grenzen der Biochemie ausreizt.

‚Danke, Emmanuelle!‘

An einer Stelle ihres Vortrags erwähnte Arnold unsere Fähigkeit, DNA zu lesen und editieren, woraufhin sie mit Nachdruck sagte: „Danke, Emmanuelle!“ Damit meinte sie natürlich Emmanuelle Charpentier, die 2020 gemeinsam mit Jennifer Doudna den Nobelpreis für Chemie für die Entwicklung der Gen-Schere CRISPR/Cas9 erhielt.

Emmanuelle Charpentier nahm in ihrem Vortrag Bezug auf Frances H. Arnold.

Die Erfolgsgeschichte von CRISPR/Cas9 als Instrument für die Genome-Editierung beginnt mit einem außergewöhnlichen Protagonisten: dem Bakterium Streptococcus pyogenes. S. pyogenes ist ein Humanpathogen, mit dem sich bis zu 5% aller Menschen und rund 17% aller Kinder infizieren. Jedes Jahr kommt es zu etwa 700 Millionen Ansteckungen, wobei die Symptome von mild bis lebensbedrohlich reichen können. Jedoch ist das Bakterium S. pyogenes selbst anfällig für Infektionen – genauer gesagt für virale Infektionen.

Zahlreiche Forscher*innen haben sich bereits eingehend damit beschäftigt, wie Bakterien auf Virusinfektionen reagieren, erklärte Charpentier. Dadurch wurde der Grundstein für das Verständnis von CRISPR gelegt. CRISPR – ein Akronym für clustered regularly interspaced short palindromic repeats – ist ein Zusatzsystem in einigen Bakterien und in einzelligen Mikroorganismen, den Archaeen, das eindringende Viren und schädliche Plasmide abwehrt.

Zunächst, so Charpentier, wird das eindringende Virus identifiziert. Das CRISPR-System erkennt die invasive DNA, schneidet einen Teil davon heraus und fügt diesen in den in der bakteriellen DNA vorhandenen CRISPR-Anordnung ein. Dies ermöglicht letztlich die Wiedererkennung des Virus im Infektionsfall. Im Grunde genommen integriert das CRISPR/Cas9-Abwehrsystem Sequenzen der eindringenden DNA, um das invasive Element zu erkennen, zu speichern und zu zerstören.

Dafür muss das System äußerst präzise beim Schneiden und Einfügen von DNA sein – das ist es auch, woran Charpentier und Doudna am meisten interessiert sind. „Das Schöne an diesem Mechanismus ist, dass er einfach und dennoch vielseitig genug ist, um ihn zu einer leistungsstarken Methode der Genome-Editierung zu machen“, erklärte Charpentier dem Publikum in Lindau.

Der Weg dorthin war weder geradlinig noch einfach. Tatsächlich begann die Entwicklung der Genschere CRISPR/Cas9 mit Darwin und dem Verständnis der Vererbungslehre, setzte sich fort mit der Erkenntnis, dass die DNA Träger der genetischen Information ist und mit der Isolierung der DNA sowie dem Wissen, dass es einen genetischen Code gibt – und das alles war nur die Grundlage für CRISPR/Cas9.

„Es folgten intensive Forschungsarbeiten, um sich die in den Bakterien vorhandenen Mechanismen zunutze zu machen. Insbesondere wollte man verstehen, wie sich Bakterien gegen Virusinfektionen verteidigen. Dies führte zur Entwicklung der Molekularbiologie und zur Schaffung zahlreicher genetischer Instrumente während der letzten 50-60 Jahre. Diese bieten die Möglichkeit, DNA neu zu kombinieren,“ fügte Charpentier hinzu.

In diesem Prozess gab es zahlreiche Herausforderungen. Die Schwierigkeit bestand vor allem darin, zu verstehen, dass es eigentlich zwei Arten von RNA gibt, die am CRISPR-Prozess beteiligt sind. Unter anderem wurde festgestellt, dass die tracrRNA (trans-activating CRISPR-RNA), also eine kurze transcodierte RNA, ebenfalls eine Rolle in dem Prozess spielen. Für Charpentier war dies eine Überraschung und sehr frustrierend, aber nachdem die Rolle der tracrRNA entschlüsselt war, gingen die Dinge „ziemlich schnell“ voran.

„Manchmal hilft es, wenn man ein wenig Frustration erfährt und die erste Hypothese widerlegt wird“, sagte Charpentier. „Das gibt einem die Möglichkeit, einen zweiten, genaueren Blick auf das zu werfen, was vor sich geht.“

Heutzutage gibt es eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten für CRISPR/Cas9, was für eine so junge Technologie erstaunlich ist. Tatsächlich, sagt Charpentier, hätte sie das Feld beinahe verlassen, weil es bereits so viele talentierte Forscher*innen gibt, die daran arbeiten. Dennoch ist es für sie eine große Bestätigung zu wissen, dass ihre Arbeit die Welt verändert.

„Was mich am meisten freut, ist die Tatsache, dass die Technologie zur Behandlung von genetischen Störungen beim Menschen eingesetzt werden kann. Das ist etwas, das ich schon sehr früh erreichen wollte.“ Es zahlt sich definitiv aus, wenn es bei der Forschung „Klick“ macht, aber manchmal sind es auch die Moleküle selbst, die klicken.

Der ‚Click‘-Moment

Als nächstes war Morten Meldal an der Reihe, der sich in seinem Vortrag auf die Click-Chemie fokussierte.

Morten Meldal wurde 2022 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet.

Meldal erlebte eine geradezu triumphale Rückkehr nach Lindau. 1986 nahm er als Nachwuchswissenschaftler an der Tagung teil und im Jahr 2022 kam er als Nobelpreisträger wieder. Er verschwendete keine Zeit: Nach einer kurzen Einführung in die Problematik der Finanzierungssysteme in der Wissenschaft, ging er auf die Vorteile der Click-Chemie ein – ein Bereich, in dem er Pionierarbeit geleistet hat.

Vereinfacht gesprochen, haben Chemiker*innen zwei Werkzeugkästen für ihre Arbeit: Der erste ist eine große, organische Instrumentenkiste, „mit der man alle erdenklichen Arten von Molekülen herstellen kann. Dabei entstehen jedoch viele unerwünschte Nebenprodukte; es ist keine Grüne Chemie – und das ist natürlich ein Problem“, sagte Meldal.

Daneben gibt es noch die Click-Toolbox. Der Begriff ‚Click-Chemie‘ leitet sich aus der Metapher ab, bei der zwei Teile eines Puzzles zusammengeklickt werden, also schnell und effizient ineinandergreifen. In der Chemie sind diese Teile zwei Komponenten, die zusammenkommen und eine neue Verbindung eingehen. Aber damit es sich hierbei um eine Click-Reaktion handelt, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein.

Click-Reaktionen finden in einem Gefäß statt, reagieren nicht mit Wasser und erzeugen minimale und harmlose Nebenprodukte. Im Wesentlichen fügen sich die molekularen Bausteine nahtlos und effizient zusammen.

Die klassische Click-Reaktion ist die kupferkatalysierte Reaktion eines Azids mit einem Alkin (CuAAC), die Barry Sharpless am Scripps Research Institute in Kalifornien und Morten Meldal im Carlsberg-Labor in Dänemark unabhängig voneinander nachgewiesen haben. Auch wenn der Werkzeugkasten der Click-Chemie noch klein und begrenzt ist, so sind doch mehrere wichtige Reaktionen in der Arbeit enthalten.

Ein interessantes Beispiel, das Meldal erwähnt, ist der Pfeilschwanzkrebs. Diese Art hat sich seit mehr als 400 Millionen Jahren kaum verändert und das hängt wahrscheinlich zu einem großen Teil mit ihrem Blut und Immunsystem zusammen. „Sie gleichen einer pharmazeutischen Fabrik“, sagte Meldal. Bis heute nutzt die Pharmaindustrie das Blut des Pfeilschwanzkrebses, um neue Medikamente, Impfstoffe und medizinische Hilfsmittel zu testen. Mit Hilfe der Click-Chemie könnte jedoch eine ähnliche Substanz synthetisiert werden – oder vielleicht sogar eine noch bessere, ergänzte Meldal.

Wissenschaft für die Gesellschaft

Meldal schloss seinen Vortrag mit dem Appell, Kindern Wissenschaft nahe zu bringen, da dies zur Verbesserung unserer Gesellschaft beitragen könne.

Tatsächlich erwies sich dies als eines der Hauptthemen von #LINO23: Wissenschaft zum Wohl der Menschheit.

Alle drei Preisträger*innen betonten ihre Hoffnung und Leidenschaft, Wissenschaft nicht nur um ihrer selbst willen zu betreiben, sondern auch, um einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft zu haben. Von der Schaffung neuer, nützlicher Moleküle bis zur Heilung genetisch bedingter Krankheiten – die moderne Biochemie tut genau das.

„Die Wissenschaft soll den Menschen nützen“, schloss Arnold. In der Tat ein hehres Ziel!

Andrei Mihai

Andrei Mihai ist Wissenschaftskommunikator und Doktorand für Geophysik. Er ist Mitbegründer der Plattform ZME Science, mit der er das Ziel verfolgt, Wissenschaft für Jedermann interessant und zugänglich zu machen. Er hat bereits über 2000 Artikel zu verschiedenen Themen verfasst, auch wenn er es im Allgemeinen bevorzugt, über Physik und die Umwelt zu schreiben. Andrei versucht Wissenschaft und gute Geschichten miteinander zu verbinden, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen – Artikel für Artikel kommt er diesem Vorhaben näher.