Veröffentlicht 29. Juni 2015 von Joe Dramiga
Lindau 2015: Neue Antworten auf alte Fragen
Es geht los! 65 Nobelpreisträger, 650 Young Scientists, 6 Tage Programm, vollgestopft mit Vorträgen, Seminaren, Diskussionen. Lindau wird summen wie ein Bienenstock. Wissenschaftler, wo man steht und geht, da hoffe ich natürlich einen Nobelpreisträger persönlich kennenzulernen: Im Hotel beim Frühstück, im Bus zum Vortragssaal oder beim Grillen am See.
Ich freue mich besonders auf den Krebsforscher Michael Bishop und den Schriftsteller Wole Soyinka, zwei Menschen, die mein Denken prägten: Der Amerikaner Bishop durch seine eleganten genetischen Experimente, und der Nigerianer Soyinka durch seine mahnenden politischen Bücher. Obwohl beide auf unterschiedlichen Gebieten ausgezeichnet wurden, gingen sie der gleichen Frage nach: Wie kann die Fehlbarkeit des Einzelnen eine so verheerende Auswirkung auf alle haben?
So wie eine Tumorzelle mit ihrem fehlgesteuerten genetischen Programm einen ganzen Körper mit seinen Millionen Zellen zugrunde richten kann, so kann ein Diktator mit seinem missratenem politischen Programm einen ganzen Staat mit seinen Millionen Menschen zugrunde richten.
Ich bin sehr gespannt auf den Vortrag von Susumu Tonegawa über „Memory Engram Cells“ – diese sind dafür zuständig, Gedächtnisinhalte abzurufen. Tonegawa hat diese Zellen in Mäusen identifiziert, mittels Neuropharmaka inhibiert, Optogenetik aktiviert und beobachtet, welche Auswirkungen diese Eingriffe auf das Gedächtnis haben. Da ich mich während meiner neurogenetischen Promotion auch mit Alzheimer beschäftigt habe und dabei besonders mit der Frage, warum bei dieser Krankheit nur bestimmte Nervenzellen des Gehirns krank werden, interessiert mich dieses Thema.
Ein Science Breakfast beschäftigt sich mit dem Thema Science and Ethics. Konkrete Inhalte sind noch nicht bekannt, aber ich hätte einige Vorschläge: Mögliche genetische Diskriminierung in der Personalised Medicine durch Krankenversicherungen und Arbeitgeber, die therapeutische Anwendung der CRISPR-Technologie in humanen embryonalen Stammzellen, Genomischer Datenschutz von HeLa-Zellen und öffentlich geförderte Forschung an HeLa-Zellen.
„Ex Africa semper aliquid novum“
„Aus Afrika kommt immer etwas Neues“ wusste schon der römische Geschichtsschreiber Herodot und deshalb bin ich gespannt auf die Geschichten derjenigen afrikanischen Young Scientists, die in ihren Heimatländern forschen. Da ich selber 3 Jahre in Afrika in einem staatlichen Virologie-Labor gearbeitet habe, kenne ich die Probleme der medizinischen Forschung vor Ort: mangelhafte instrumentelle Ausstattung und fehlender Zugang zur Fachliteratur. Ich kenne jedoch auch den Einfallsreichtum und die Resilienz meiner afrikanischen Kollegen, die sich mehr fachlichen Austausch mit Wissenschaftlern aus anderen Ländern wünschen. In Lindau werden sie dazu reichlich Gelegenheit haben: in den Discussions with Young Scientists und den Master Classes mit den Nobelpreisträgern. In der Master Class halten jeweils vier bis fünf junge Wissenschaftler einen Kurzvortrag und ein oder zwei Nobelpreisträger moderieren die anschließende Diskussion. Vielleicht kommt ja einer der heute teilnehmenden Young Scientists in 30 Jahren als Nobelpreisträger nach Lindau zurück: Bei der Verleihung des Nobelpreises sind die Preisträger in Chemie und Physik durchschnittlich 57, in der Medizin 55 Jahre alt.
Ich freue mich, dass „Wissenschaft in Afrika“ ein Schwerpunkt der diesjährigen Tagung ist und bin gleichzeitig enttäuscht, dass der einzige afrikanischstämmige Chemie-Nobelpreisträger, Ahmed Zewail, nicht in Lindau dabei ist. 1999 erhielt der gebürtige Ägypter für seine Leistungen auf dem Gebiet der Femtochemie den Nobelpreis. Er hatte mithilfe von Lasern ein bahnbrechendes Verfahren zur Beobachtung der Bewegungen einzelner Atome auf der Zeitskala von Femtosekunden entwickelt. Eine Femtosekunde entspricht dem millionsten Teil einer Milliardstelsekunde. Die sogenannte Femtosekunden-Spektroskopie erreicht damit den Zeitraum, in dem chemische Reaktionen tatsächlich stattfinden und ermöglicht, wichtige Reaktionen zu verstehen und vorauszusagen. In seiner 2004 erschienenen Biographie „Voyage Through Time: Walks of Life to the Nobel Prize“ (Deutsch: Reise durch die Zeit – Weg zum Nobelpreis) erzählt er seine Lebensgeschichte und beschreibt seine Arbeit bis zur Verleihung des Nobelpreises. Es wäre schön gewesen, diese Geschichte von ihm selbst zu hören.
Umso mehr freue ich mich, dass der Physik-Nobelpreisträger Claude Cohen-Tannoudji in Lindau teilnehmen wird. In seinem Nobelpreis-Vortrag 1997 erzählte er gleich zu Anfang, dass seine Familie aus Tanger, Marokko stammt und seit dem 16. Jahrhundert in Algerien lebt. Cohen-Tannoudji erhielt den Preis für das Kühlen und Einfangen von Atomen mit Laserlicht. Er entwickelte die Sisyphus-Kühlung mit der er eine Temperatur von nur 6 Millikelvin erzeugte, die deutlich unter dem Doppler-Grenzwert liegt. Cohen-Tannoudji wird in Lindau über „The Adventure of Cold Atoms. From Optical Pumping to Quantum Gases„ sprechen.
Was die 88 in Lindau teilnehmenden Nationen betrifft erwarte ich bei den Nachwuchswissenschaftlern eine große Vielfalt aber nicht bei den Nobelpreisträgern. Es wird ein G3-Gipfel sein: Rund 70 % der Nobelpreisträger in Physik, Chemie oder Medizin kommen aus einer der drei folgenden Nationen: USA, Deutschland, UK (England, Schottland, Wales, Nordirland).
Von 1901 bis 2014 gab es 199 Physik-Nobelpreisträger davon 87 aus den USA (Platz 1) 25 aus Deutschland (Platz 2) 21 aus UK (Platz 3). 67 % der Physik-Preisträger kommen aus einer dieser drei Nationen.
Wenig anders sieht es bei den 169 Chemie-Nobelpreisträgern aus: 64 aus den USA (Platz 1), 29 aus Deutschland (Platz 2), 27 aus UK (Platz 3). 71 % der Chemie-Preisträger kommen aus einer dieser drei Nationen.
Das gleiche Bild bei der Medizin: 207 Medizin-Nobelpreisträger, davon 96 aus den USA (Platz 1); 31 aus UK (Platz 2), 17 aus Deutschland (Platz 3). 70 % der Medizin-Preisträger kommen aus einer dieser drei Nationen.
Ich wundere mich deshalb nicht, dass es die jungen Wissenschaftler aus den Entwicklungs- und Schwellenländern in eine dieser drei Nationen zieht. Sie gehen dorthin wo es die besten Forschungsbedingungen und Mentoren gibt. Ahmed Zewail, mittlerweile amerikanischer Staatsbürger und Professor am CalTech ging diesen Weg. Und wer weiß, vielleicht knüpft einer der Young Scientists ja schon Kontakte in der Master Class in Lindau? Aber warum mal nicht den umgekehrten Weg gehen? Ich wünsche mir, dass ein Nobelpreisträger mal sein Sabbatical in einer afrikanischen Forschungseinrichtung verbringt, damit er sich vor Ort selbst ein Bild der Lage macht und das ungenutzte wissenschaftliche Potenzial sieht.
Unter den 65 Nobelpreisträgern in Lindau befinden sich drei Frauen (4.6 %). Die bisherigen 575 Nobelpreise in Physik, Chemie und Medizin gingen an 559 Männer und 16 Frauen (2.8 %). In Physik bekamen zwei Frauen den Nobelpreis, in Chemie vier und in Medizin zehn Frauen. Die Professorenschaft ist also bisher ein Männerverein – aber das soll nicht so bleiben. Was wir tun müssen um das zu ändern, darüber sollte in Lindau gesprochen werden. Ich hoffe, dass Friedensnobelpreisträger Kailash Satyarthi das Thema in seinem Vortrag „Education Needs to be Equitable and Inclusive for All“ zur Sprache bringt. Vor allem vor dem Hintergrund des jüngsten Sexismusskandal um Nobelpreisträger Tim Hunt, der bei seinem Vortrag über Frauen in der Wissenschaft in Südkorea, mit einem sexistischen Witz über Frauen, viele Wissenschaftlerinnen verärgerte.
Die Lindauer Nobelpreisträgertagung ermöglicht es nicht nur begeisternde Vorträge aus der Wissenschaft zu hören, sondern auch konstruktiv-kritisch zu hinterfragen wie wir Wissenschaft betreiben, kommunizieren (Publikationsbias, Open Access, Impact Factor) und bezahlen (Industrie und Drittmittel). Wir sollten die mediale Aufmerksamkeit nutzen um neuen Ideen Gehör zu verschaffen.