Veröffentlicht 31. März 2016 von Joe Dramiga
Susumu Tonegawa: Das Ende der Suche nach dem Engramm
Susumu Tonegawa erhielt 1987 den Medizinnobelpreis für die Erforschung der genetischen Grundlagen der Antikörpervielfalt. Im Alleingang löste der Molekularbiologe vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston, eines der größten Rätsel der Immunologie. 1990, nachdem er das Buch „The Astonishing Hypothesis“ von Medizinnobelpreisträger Francis Crick gelesen hatte, wechselte er von der Immunologie zur Neurobiologie. Crick hatte, nach Erhalt des Nobelpreises, genau wie Tonegawa, von der Molekulargenetik zur kognitiven Neurowissenschaft gewechselt.
„Ich wollte die so genannten „geistigen Phänomene“ wie Erinnerung und Lernen verstehen, so Tonegawa, indem ich das physische Gehirn erforschte.“ Tonegawa interessiert sich speziell für die zellulären Grundlagen sowie die neuronalen Schaltkreise im Gehirn, die dem Gedächtnis und der Erinnerung zugrunde liegen. Er wollte das zelluläre Korrelat des Engramms finden.
Das Engramm und seine Wirkung auf die Zellen
„Engramm“ (von griechisch en, „hinein“, und gramma, „Inschrift“) ist ein Begriff des Biologen Richard Semon (1859-1918), den dieser in seinem 1904 erschienen Buch „Die Mneme“ bekannt machte. Semon glaubte, dass jede im Gehirn aufgenommene Information eine charakteristische physiologische Spur hinterlasse: Ein Engramm kann man vergleichen mit dem Abdruck, der entsteht, wenn man einen Siegelring in Wachs drückt. Nach seiner Vorstellung sah man Engramme nicht in einzelnen Zellen, sondern in Gruppen von Zellen. Die Gesamtheit aller Engramme – es sind Milliarden – ergibt das Gedächtnis. In seinem Buch beschreibt Semon die Wirkung die ein Engramm, eine Gedächtnisspur, auf die Zellen hat:
„Erste Voraussetzung ist natürlich die engraphische Wirkung der Erregung, d. h. die eigentümliche Veränderung, die nach Ablauf einer synchronen Reizwirkung in der reizbaren Substanz zurückbleibt. Der engraphische Effekt steht dabei in einem bestimmten Verhältnis zur Stärke der synchronen Erregung. Sehr schwache Erregungen hinterlassen scheinbar keine engraphischen Effekte. Aber nur scheinbar. Denn da bei häufiger Wiederholung solcher schwacher Erregungen eine engraphische Wirkung manifest werden kann, ist bewiesen, daß jeder einzelne Faktor für sich nicht engraphisch wirkungslos geblieben ist. ..
Das Resultat der engraphischen Wirkung (das Engramm) besteht in einer veränderten Disposition der reizbaren Substanz in bezug auf die Wiederholung des seinerzeit durch den Originalreiz ausgelösten Erregungszustandes. Die organische Substanz zeigt sich alsdann gegen früher in einer eigentümlichen und durchaus gesetzmäßigen Weise dafür prädisponiert, sowohl durch den Originalreiz als auch durch anderweitige Einflüsse, die im Grunde immer auf einer partiellen Wiederkehr einer bestimmten energetischen Situation beruhen, wieder in jenen Erregungszustand versetzt zu werden.“
Semon beschreibt hier ein Phänomen, das die Neurobiologen heute als Langzeitpotenzierung bezeichnen: Die rasch wiederholte Aktivierung eines Neurons durch ein anderes steigert die Effizienz der Signalübertragung an der Kontaktstelle zwischen beiden, und zwar längerfristig – als „erinnere“ sich das System an die vorherige Stimulation.
Langzeitpotenzierung als Grundlage für Assoziatives Lernen
Diese Langzeitpotenzierung ist die neuronale Grundlage für assoziatives Lernen: Eine einfache Lernaufgabe für Ratten beispielsweise, besteht darin, einen an sich neutralen Reiz mit einer unangenehmen Erfahrung zu verknüpfen. Verhaltensbiologen lassen dazu einen Ton bestimmter Höhe ertönen und koppeln ihn eng mit einem kurzen, schwachen Stromschlag. Das Tier lernt rasch beide Ereignisse miteinander in Verbindung zu bringen. Mit implantierten Elektroden lässt sich verfolgen, wie das Gehirn lernt, diesen speziellen Ton mit der unangenehmen Erfahrung zu assoziieren. Bestimmte Neuronen, die akustische Informationen verarbeiten, verändern ihre Aktivität. Während sie zu Beginn des Lernvorgangs noch überhaupt nicht auf den Ton reagieren, erzeugen sie mit zunehmender Zahl von Trainingseinheiten immer intensivere Salven von Nervenimpulsen. Die betroffenen Zellen – sie sitzen im Hippocampus – werden geradezu auf den Signalton „gestimmt“: Sie antworten dann auf seine Frequenz viel heftiger als auf jede andere. Selbst einige Monate später reagieren die Neuronen immer noch auf den Signalton; im Hippocampus hat sich eine langfristige Erinnerung an den gelernten Zusammenhang gebildet.
Bei der Langzeitpotenzierung müssen die Nervenzelle neue Proteine herstellen und dafür wiederum Gene einschalten. Hemmt man beispielsweise die Neusynthese von Proteinen mit dem Antibiotikum Anisomycin entsteht kein Langzeitgedächtnis. Eine besondere Klasse von Genen wird sehr früh in diesen Prozessen aktiv: Sie tragen die Informationen für Transkriptionsfaktoren, die nachfolgende Schritte steuern. Transkriptionsfaktoren, wie z. B. das CREB-Protein, sind eine Art molekularer Schalter. Im Fall der Gedächtnisbildung werfen sie die Herstellung von Effektorproteinen an, die Synapsen dauerhaft verändern oder neue Synapsen knüpfen helfen: darunter Strukturproteine für neue Synapsen, Rezeptoren für die Zellmembran, neue Kinasen und Proteine, die Neurone lebensfähig erhalten.
Die wissenschaftliche Suche nach dem Engramm
Karl Lashley (1890-1958) war einer der ersten, der im Gehirn systematisch suchte wo Engramme abgelegt und abgerufen werden. Lashley untersuchte Ratten in Diskriminationslernaufgaben und schädigte dann systematisch die Hirnrinde, z. T. durch Abtragungen, z. T. durch einfache Schnitte, wodurch die Verbindungswege zwischen verschiedenen Arealen unterbrochen wurden. Aufgrund seiner Experimente bezweifelte er die Lokalisierbarkeit von Funktionen so wie sie von den Phrenologen vermutet und von Neurologen wie Paul Broca and Carl Wernicke durch Läsionsbefunde für Sprachfunktionen bestätigt wurden. In seinem Werk „In Search of the Engram“ zieht er ein Fazit:
„This series of experiments has yielded a good bit of information about what and where the memory trace is not. … The engram is represented throughout the region… The so called associative areas are not the storehouses for specific memories.”
Lashley 1950
Nahezu zeitgleich erschien ein Fachartikel der Neuropsychologin Brenda Milner, die im Tenor genau das Gegenteil behauptete. Es war die Fallgeschichte des inzwischen in jedem Lehrbuch der Neuropsychologie erwähnten Patienten H.M., dem man wegen seiner quälenden epileptischen Anfälle den Hippocampus entfernt hatte. H.M. konnte sich nach der Operation keine neuen deklarativen und episodischen Gedächtnisinhalte merken (anterograde Amnesie).
Das deklarative Gedächtnis ist eine Form des Langzeitgedächtnisses. Dieses Gedächtnis können wir bewusst abrufen und erklären. Das deklarative Gedächtnis gliedert sich in zwei Funktionsbereiche: Der eine speichert Fakten und allgemeine Erkenntnisse (semantisches Gedächtnis); der andere verwahrt individuell Erlebtes, also Episoden der persönlichen Vergangenheit (episodisches Gedächtnis). Das episodische Gedächtnis ist vom semantischen getrennt: Bei manchen Formen des Gedächtnisverlustes (Amnesie) ist beispielsweise der eigene Name aus dem Gedächtnis verschwunden, das Wissen über den Unterschied zwischen Äpfeln und Birnen aber nach wie vor präsent.
H.M. lebte also nach der Operation nur noch im „hier und jetzt“. Sein Altgedächtnis jedoch, also seine Erinnerungen an Episoden, Erfahrungen und Wissen vor der Operation und sein Arbeitsgedächtnis waren intakt. Aufgrund der Arbeiten von Lashley und Milner kamen die Neurobiologen zu folgenden Schlüssen:
- Es gibt im Gehirn Bereiche, die für das Gedächtnis notwendig sind. Dies zeigt die Fallgeschichte von H.M. im Gegensatz zu Lashley‘s Befunden.
- Es gilt jedoch auch im Sinne von Lashley, dass diese Bereiche nicht das Engramm enthalten können. Sonst hätte H.M. nach der Operation vollständig gedächtnislos sein müssen.
- Es gibt nicht das Engramm sondern es gibt nur spezifische Engramme für spezifische Gedächtnisse.
- Erinnerung beruht auf der zellulären Aktivierung eines Engramms.
Tonegawa beteiligte sich an dieser in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begonnenen Suche nach dem Engramm und war erfolgreich: Er fand im dentate gyrus des Hippocampus ein spezifisches Engramm für ein spezifisches kontextbezogenes Angstgedächtnis. Dabei half ihm die Optogenetik, eine gentechnische Methode, die es erlaubt mit Licht einer bestimmten Wellenlänge einzelne Neuronen oder ganze Schaltkreise an- und auszuknipsen.
Tonegawa und seine Kollegen benutzten für ihre Experimente transgene Mäuse. In diesen hatten die Forscher Nervenzellen im Hippocampus entdeckt, die nur aktiv waren, wenn die Mäuse eine neue Umgebung kennenlernten. Sie fanden heraus, dass während dieses Lernens der Transkriptionsfaktor c-Fos in diesen Zellen aktiv ist. Sie brachten mithilfe eines Adenoassozierten Virus-Vektor das Gen für Channelrhodopsin in diese Zellen. Die Forscher hatten diesen Vektor so gebaut, dass Channelrhodopsin, der Lichtgesteuerte Kationenkanal einer Grünalge, nur hergestellt wurde, wenn c-Fos aktiv war.
Durch Konditionierung schufen die Forscher in diesen Mäusen ein kontextbezogenes (in dem Fall räumliches) Angstgedächtnis: Sie setzten die Mäuse in eine Versuchskammer A, ließen sie die neue Umgebung erkunden, die klar wieder erkennbare Merkmale besaß, und gaben ihnen dann einen milden Stromschlag. Sobald die Wissenschaftler die Mäuse anschließend erneut in diese Versuchskammer setzten, erinnerten sich diese an den Stromschlag und verfielen auch ohne Stromschlag in eine deutlich sichtbare Angststarre.
Die für das Umgebungslernen zuständigen Nervenzellen exprimierten nun auf der Zelloberfläche ein für blaues Licht empfindliches Channelrhodopsin. Durch eine implantierte Diode im Gehirn dieser Mäuse konnten die Forscher auf diese Weise die Nerven, die bei der Erfahrung des Stromstoßes die Erinnerung abgespeichert hatten, gezielt durch blaues Licht aktivieren.
Dann setzten die Wissenschaftler die Mäuse in eine andere Versuchskammer B und aktivierten diese Neurone mit blauem Licht. Die Mäuse verfielen nun, weil sie sich jetzt an den Stromschlag in Versuchskammer A erinnerten, in eine Angststarre. Die Forscher hatten durch das blaue Licht das Engramm für das kontextbezogene Angstgedächtnis für Versuchskammer A aktiviert.
Ein neuer therapeutischer Ansatz: Positive Erinnerungen gegen Depressionen
In einem weiteren Experiment untersuchte Tonegawa den Einfluss positiver Erinnerungen bei Depressionen. Der Hintergrund für diese Fragestellung war folgender: Oft ist den verschiedenen Ausprägungen von Depression eines gemeinsam: eine Unfähigkeit, Freude zu empfinden — und sich an glückliche Momente aus der Vergangenheit zu erinnern.
Tonegawa führte dieses Experiment an einem Rattenmodell der Depression durch. In diesem Modell gelten Ratten als depressiv, wenn sie kein Zuckerwasser mehr trinken wollen. Lässt man Ratten die Wahl zwischen Zuckerwasser und normalem Wasser entscheiden sich die Ratten in 50 % der Fälle für das Zuckerwasser.
Sein Experiment funktionierte so: Zehn Tage lang wurden männliche Ratten in einen Käfig gesperrt und konnten sich nicht frei bewegen. Sie verloren daraufhin die Lust an angenehmen Erfahrungen. Die Forscher machten das daran fest, dass die Ratten plötzlich kein Zuckerwasser mehr trinken wollten, sondern normales Wasser bevorzugten. Nur mit einem Weibchen im Käfig zu sein, brachte die Lust auf Zuckerwasser nicht zurück.
Danach zeichneten die Forscher die Aktivität in den Gehirnzellen der Ratte in drei Situationen auf: einer positiven (in einem Käfig mit einer weiblichen Ratte), einer neutralen (in einem leeren Käfig) und einer negativen (bewegungsunfähig in einem Käfig). Mit Licht stimulierten die Wissenschaftler dann die jeweiligen Gehirnzellen. Das Ergebnis: Nur bei der Hirnregion, die mit der positiven Situation verbunden war, erlangte die männliche Ratte wieder ihren Appetit auf Zuckerwasser. „Wir konnten die Depression der Tiere heilen“, sagt Tonegawa.
Die Neurowissenschaftler zeigten, dass die Reaktion der Ratten tatsächlich an der Reaktivierung der Nervenzellen lag. Denn nur in einem Käfig mit einem Weibchen zu sein — ohne die Stimulierung der jeweiligen Gehirnzellen — brachte die Lust auf Zuckerwasser nicht zurück.
Die Forscher hoffen nun, dass diese Grundlagenforschung hilft, auch beim Menschen Depressionen behandeln zu können. Doch der Mensch ist komplexer als eine Ratte. Depression lässt sich nicht daran festmachen, ob der Kaffee mit oder ohne Zucker getrunken wird. Die Krankheit ist vielschichtig, individuell und zeigt unterschiedlichste Symptome. Durch Tonegawas Forschung gibt es nun aber womöglich eine neue Variante der Behandlung von Depressionen: das gezielte Hervorrufen positiver Erinnerungen.