Veröffentlicht 27. März 2019 von Tibi Puiu
Das ‚Wundermaterial‘: Wie Graphene die Welt verändern soll
Das Wundermaterial
Seit seiner Entdeckung im Jahr 2004 durch eine Forschergruppe der Universität Manchester unter der Leitung von Andre Geim und Konstantin Novoselov hat sich Graphen aufgrund seiner einzigartigen Merkmalskombination als eines der vielversprechendsten Nanomaterialien erwiesen. Vor dieser bahnbrechenden Entdeckung gingen Wissenschaftler davon aus, zweidimensionale kristalline Materialen würden infolge der thermodynamischen Instabilität nicht existieren. Bemerkenswerterweise konnten Geim und Novoselov mit Hilfe von gewöhnlichem Tesafilm eine Graphen-Monoschicht von einem Stück Graphit isolieren. Bis heute ist das mechanische Abschiefern die einfachste Art und Weise, Graphenflocken zu erzeugen, auch wenn sich mittels in jüngerer Zeit entwickelter Methoden Graphen mit weniger Verunreinigungen herstellen lässt. Für ihre Arbeit erhielten Geim und Novoselov 2010 den Nobelpreis für Physik.
Andre Geim and Konstantin Novoselov, Nobelpreisträger der Physik im Jahr 2010, fotografiert für die Fotoserie ‚Nobel Laureates in Portrait‘. © Peter Badge/typos 1 in coop. with Lindau Nobel Laureate Meetings
Ein Honigwabengitter aus einer einzigen Schicht von Kohlenstoffatomen erscheint zerbrechlich. Doch Graphen ist definitiv alles andere als das. Denn es ist nicht nur das dünnste Material (0,345 Nanometer), sondern auch das festeste – 200 Mal fester als Stahl. Dies ist nicht die einzige mechanische Eigenschaft, durch die Graphen hervorsticht. Es ist zudem auch biegsam und leicht (0,77 Milligramm pro Quadratmeter) – mit nur einem Gramm davon ließe sich ein gesamtes Fußballfeld bedecken. Graphen könnte also zu einem unverzichtbaren Bestandteil von Verbundwerkstoffen oder Beschichtungen unter anderem für Flugzeuge, Raumschiffe oder Gebäude werden.
Energie
Graphen bietet sich als zentraler Bestandteil für die Energieinfrastruktur an. Eine wesentliche Anwendungsmöglichkeit ist beispielsweise etwas, mit dem Sie es wahrscheinlich täglich zu tun haben: das Telefon. Forscher an der Northwestern University experimentierten mit Elektroden auf Graphenbasis für Lithiumionenbatterien, mit deren Hilfe die Akkulaufzeit bzw. Ladezeit von Telefonen um bis zu zehn Mal länger bzw. schneller sein könnte, als dies mit der aktuellen Technologie möglich ist. In Australien entwickelten Forscher an der RMIT University eine Elektrode auf Graphenbasis für Superkondensatoren, welche die gegenwärtig mögliche Speicherung von Sonnenenergie um erstaunliche 3000% steigern könnte. Und noch etwas: Da Graphen elektrische Ladung erheblich schneller transportiert als die meisten anderen Materalien, könnte es auch ein unerlässliches Material für ultradünne, flexible, kostengünstige Solarzellen werden (sobald das Problem seiner kurzen Lebensdauer als Ladungsträger gelöst ist). Multifunktionelle Graphenmatten könnten sich zudem als wertvoll für katalytische Systeme in Brennstoffzellen erweisen.
Elektronik
Aktuell geht man davon aus, dass Graphen eines Tages das Silizium in Computerchips ersetzen wird, da sich Ladung durch das 2D-Material schneller bewegen kann. Laut Schätzungen sind in der Zukunft mit Graphen Rechenleistungen im Terahertz-Bereich möglich, und damit Computer, die tausend Mal schneller sind als heute. Damit Graphen jedoch in Transistoren eingesetzt werden kann, muss es mit Verunreinigungen dotiert werden, da ihm die notwendige Bandlücke fehlt – das Material ist in seiner reinsten Form einfach ein zu guter Leiter. In anderen Forschungsgruppen erwägt man das Anlegen eines Magnetfelds an Graphenbändern, um so den Widerstand des durch sie hindurch fließenden Stroms zu verändern. Ähnlich einem Ventil, das den Durchfluss von Wasser durch ein Rohr steuert, fungieren Transistoren oftmals als Schalter zum An- und Ausschalten des Stroms. Zwar sind Graphentransistoren noch nicht marktreif, doch Forschergruppen auf der ganzen Welt arbeiten daran, so dass es möglicherweise nur eine Frage der Zeit ist, bis das Computerwesen neu erfunden wird.
Umwelt
Heute haben mehr als 10% aller Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser, und einem Drittel der Menschheit stehen keine Toiletten zur Verfügung. Um diese Kluft zu überbrücken, haben Wissenschaftler am australischen Forschungszentrum CSIRO mit Hilfe von Graphen ein einfaches Filtersystem entwickelt, bei dem Wassermoleküle durch Nanokanäle auf der Oberfläche einer Membran dringen können, nicht aber aus größeren Molekülen bestehende Schadstoffe. Nach Angaben von Forschern am MIT könnte Graphen auch die Produktion von sauberem Trinkwasser aus Salzwasser revolutionieren.
2013 gaben chinesische Wissenschaftler bekannt, sie hätten das leichteste bekannte Material entwickelt – eine Art Schwamm, der durch das Verschmelzen von gefriergetrocknetem Kohlenstoff und Graphenoxid entsteht. Dieser graphenbasierte Schwamm, das so genannte Graphen-Aerogel, wiegt nur 0,16 Milligramm pro Kubikzentimeter und kann das 900-Fache seines Eigengewichts an Öl absorbieren. In der Zukunft könnten sich solche Schwämme als unverzichtbar für die Beseitigung von Ölteppichen erweisen.
Blick in die Zukunft
Ist der ganze Wirbel um das vermeintliche ‚Wundermaterial‘ gerechtfertigt? Zwar sind die Eigenschaften von Graphen in der Tat bemerkenswert und äußerst vielseitig, dennoch sind nach wie vor einige Herausforderungen zu meistern, bevor dieses Material Einzug in den Alltag halten kann. Wie rasch sich die auf Graphen basierende Technologie weiterentwickelt, steht in direktem Zusammenhang mit seiner Herstellung. Manche Anwendungsmöglichkeiten erfordern Graphen-Monoschichten mit möglichst wenigen Verunreinigungen, doch zum jetzigen Zeitpunkt eignen sich die effektivsten Verfahren (mechanisches Abschiefern und chemische Dampfabscheidung) aufgrund ungenügender Kosteneffizienz nicht für die Produktion im Industriemaßstab. Dennoch kommt die Herstellung von Graphenflocken (aus einigen wenigen oder zahlreichen Schichten) allmählich in Gang, was bedeutet, dass Produkte auf Graphenbasis für weniger anspruchsvolle Anwendungszwecke bald in höheren Stückzahlen im Handel erhältlich sein könnten.
Fünfzehn Jahre sind vergangen, seitdem Graphen erstmal isoliert wurde – doch das Material steckt immer noch in den Kinderschuhen. Die meisten Bauteile in Ihrem Smartphone, angefangen vom Mikroprozessor bis zum Touchscreen, wurden erstmals in den 1960er Jahren oder in der Zeit davor erfunden, doch es dauerte viele Jahrzehnte, bis die Technologie so ausgereift war, dass sie zur Marktreife gelangt war. In vielerlei Hinsicht entwickelt sich die Graphen-Forschung derzeit im Vergleich zu anderen neuartigen Materialien erstaunlich schnell. Beispielsweise wurde die Hälfte der mittlerweile nahezu 60.000 Patente zu diesem Thema innerhalb der letzten drei Jahre eingereicht.
Investitionen in die Erforschung und Entwicklung von Graphen steigen ebenfalls exponentiell an. Die Europäische Kommission beispielsweise startete die Graphen-Flaggschiff-Initiative, deren Ziel es ist, dass sich „in Forschung und Industrie tätige Wissenschaftler“ zusammenschließen, um „Graphen innerhalb der nächsten zehn Jahre aus den Laboren der Universitäten und Forschungsanstalten in das Licht der europäischen Öffentlichkeit zu rücken“. Das Konsortium, das über ein Budget von einer Milliarde Euro verfügt, besteht aus mehr als 150 Forschungsgruppen aus 23 Ländern, die im akademischen und industriellen Umfeld tätig sind.
Obwohl viele Anwendungen mit Graphen derzeit noch Zukunftsmusik sind, gibt es gute Gründe zu der Annahme, dass es nicht sehr lange dauern wird, bis fast jede Branche von dem Material mit seinen beeindruckenden Eigenschaften profitieren wird.
Wir sollten uns alle auf eine Zukunft mit Graphen freuen.
Zusätzliche Information: Graphen wird das Hauptthema während eines Science Breakfasts im Rahmen der 69. Lindauer Nobelpreisträgertagung sein; Gastgeber dieses Events ist das Graphene Flagship, Europas größte Forschungsinitiative aller Zeiten.