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Published 1 November 2014 by Susanne Dambeck

Personalisierte Medizin verändert den Blick auf Krankheiten – und auf uns selbst

Wer heute eine Krebsdiagnose erhält, erwartet selbstverständlich die bestmögliche Behandlung.
Dafür wird häufig das Genom des Tumors bestimmt, außerdem wird die Zelloberfläche samt Rezeptoren erforscht, um festzustellen, ob sich dieser Tumor für eine Antikörpertherapie eignet. Noch vor wenigen Jahrzehnten gab es für jede Krebsart eine Standardbehandlung – für manche Patienten war diese „eine Behandlung für alle“ hilfreich, für andere hingegen nicht. Seitdem hat sich viel geändert: Heutzutage können Spezialisten nicht nur viele verschiedene Tumorarten identifizieren und zielgenau behandeln, sie können sogar vorhersagen, mit welchen Medikamenten sich eine Rückkehr des Krebses am besten verhindern lässt. Dafür müssen sie allerdings das Genom des Patienten kennen, und genau hier beginnt die eigentliche personalisierte Medizin: Es geht darum, für jeden Patienten dasjenige Medikament zu finden, das möglichst optimal zu seinem Genotyp passt. Chemienobelpreisträger Aaron Ciechanover nannte diesen Trend „die dritte Revolution der Arzneimittelforschung“, nach der zufälligen Entdeckung von Medikamenten wie Penicillin ab den 30er Jahren und dem systematischen Screening von Wirkstoffen seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Aaron Ciechanover, Chemienobelpreisträger 2004, beschreibt die Medizin des 21. Jahrhunderst mit 4 'P':  sie ist personalisiert, präventiert, prädiktiv - und sollte partizipatorisch sein. #lnlm14, Photo: Ch. Flemming, Lindau Nobel Laureate Meeting
Aaron Ciechanover, Chemienobelpreisträger 2004, beschreibt die Medizin des 21. Jahrhunderst mit 4 P’s: sie ist personalisiert, präventiv, prädiktiv – und sollte partizipatorisch sein. #lnlm14, Photo: Ch. Flemming, Lindau Nobel Laureate Meetings

Doch die Analyse gesamter menschlicher Genome, übrigens ein Verfahren im beständigen Preisverfall, hat ein paar unerwünschte Nebenwirkungen. Vor rund einem Jahr schockierte die Schauspielerin Angelina Jolie die Öffentlichkeit mit der Nachricht, dass sie sich aus präventiven Gründen beidseitig das Brustdrüsengewebe entfernen ließ. Gentests hatten ihr eine seltene Mutation in dem Gen BCRA1 bescheinigt, was in ihrem Fall eine Brustkrebswahrscheinlichkeit von 87 Prozent bedeutet hätte, sowie eine Wahrscheinlichkeit für Eileiterkrebs von 50 Prozent – ihre eigene Mutter war an dieser Krankheit mit nur 56 Jahren verstorben. Nach der OP liegt ihr Brustkrebsrisiko nun unter fünf Prozent. BCRA-Mutationen sind zwar nur für ungefähr fünf Prozent aller Brustkrebserkrankungen verantwortlich, aber die betroffenen Familien haben häufig schon zahlreiche weibliche Familienmitglieder an Krebs sterben sehen, oft in jungen Jahren. Jolie schrieb in einem offenen Brief an die New York Times: „Im Leben trifft man auf sehr viele Herausforderungen. Wir sollten uns aber nicht vor denjenigen fürchten, die wir in Angriff nehmen und in den Griff bekommen können.“

Angelina Jolie ist nicht nur Schauspielerin und Regisseurin, sie ist auch eine Sonderbotschafterin der Vereinten Nationen. Hier spricht sie beim Beginn einer britischen Initiative zur Prävention von sexuellen Übergriffen in Krisenregionen, im Mai 2012. Ein Jahr später machte sie das beidseitige Entfernen ihres Brustgewebes öffentilch. Foto: Foreign and Commonwealth Office, Creative Commons.
Angelina Jolie ist nicht nur Schauspielerin und Regisseurin, sie ist auch Sonderbotschafterin der Vereinten Nationen. Hier hält sie eine Rede beim Start einer britischen Initiative zur Prävention von sexuellen Übergriffen in Krisenregionen, im Mai 2012. Ein Jahr später machte sie das beidseitige Entfernen ihres Brustgewebes öffentlich. Foto: Foreign and Commonwealth Office, Creative Commons.

Wenn es um das Thema Genomanalysen bei Gesunden geht, lautet der häufigste kritische Einwand: Was ist mit dem Recht auf Nichtwissen? Manche Menschen möchten alle Risiken genau kennen und richten dann ihr Verhalten daran aus, genau wie Frau Jolie. Andere lösen die Probleme lieber dann, wenn sie anstehen, beispielsweise wenn eine Krankheit ausgebrochen ist. Sind jedoch im Genom mehrerer enger Verwandter potentiell gefährliche Mutationen gefunden worden – dann weiß im Grunde jedes nahe Familienmitglied um sein Risiko. Doch wie gehen Menschen mit sensiblen Informationen über ihren eigenen Körper um, insbesondere, wenn es unerwünschte Informationen sind? Und wie lange dauert es, bis Versicherungen oder Arbeitgeber diese Daten anfordern? In vielen Ländern gibt es zwar Gendiagnostikgesetze, das deutsche bezieht sich aber nur auf medizinische Tests, nicht auf Analysen zu Forschungszwecken.

Natürlich ist es wichtig, für dieses Themenfeld rechtliche Regelungen zu finden. Leider neigt aber die technische Entwicklung dazu, den rechtlichen Regelungen voraus zu eilen. Aaron Ciechanover fasste dieses Dilemma in seinem Lindauer Vortrag folgendermaßen zusammen: „Ich habe den Eindruck, dass die diagnostischen Techniken ständig schneller sind als unsere Bestrebungen, sie zu kontrollieren.“

Aaron Ciechanover betont, wie wichtig der Schutz genetischer Daten ist, denn "hier greift die personalisierte Medizin in die sensibelsten Bereiche unseres Daseins ein". #lnlm14, Foto: Ch. Flemming, Lindau Nobel Laureate Meetings
Aaron Ciechanover betont, wie wichtig der Schutz genetischer Daten ist, denn “hier greift die personalisierte Medizin in die sensibelsten Bereiche unseres Daseins ein”. #lnlm14, Foto: Ch. Flemming, Lindau Nobel Laureate Meetings

Und was ist mit Patienten, die mit Wahrscheinlichkeitsstatistiken überfordert sind? Kann bei ihnen ein ‘positives’ Ergebnis zu schweren persönlichen Krisen führen oder sie sogar verleiten, unnötige Operationen über sich ergehen zu lassen? Und werden diese Menschen durch ein ‘negatives’ Ergebnis womöglich leichtsinnig, sodass sie Vorsorgeuntersuchungen verpassen oder ungesund leben?

Nicht nur Patienten stehen vor neuen Herausforderungen. Es gibt genügend Ärzte, denen es schwer fällt, Aussagen über Wahrscheinlichkeiten sowohl klar als auch mitfühlend zu vermitteln. Zudem müssen Ärzte bei einer personalisierten Behandlung einen großen Rechercheaufwand betreiben: Passt dieses Medikament überhaupt zum Genotyp des Patienten? Heutzutage werden bestimmte Medikamente sogar nur für bestimmte Genotypen zugelassen, sehr zum Ärger der Pharmazeutischen Industrie, denn damit wird der potentielle Markt eines Medikaments ständig kleiner.

Wenn schon das Ergebnis eines richtigen Gentests zu Problemen führen kann – was ist dann mit unzuverlässigen oder gar falschen Testergebnissen? Gentests gelten nämlich zumeist als Medizinprodukte, nicht als Medikamente, weshalb sie sich auch nicht in klinischen Studien bewähren müssen. Dies ist Gegenstand aktueller politischer Debatten, die sich mit der Kontrolle und Genehmigung von Gentests befassen, sowohl in der EU als auch in den Vereinigten Staaten.

Trotz aller Einwände gibt es einen eindeutigen Trend in Richtung personalisierter Medizin, daher werden solche Fragestellungen bald allgegenwärtig sein. Ciechanover beschreibt die momentane Situation als Grauzone: „Wir wissen inzwischen, was wir machen können, wir wissen aber noch nicht, wie wir damit umgehen sollen.“ Wenn wir jedoch weiterhin die bestmögliche Behandlung einfordern, dann sollten wir anfangen, nach Antworten zu suchen.

In diesem Vortrag in Lindau spricht Nobelpreisträger Aaron Ciechanover über die Geschichte der Arzneimittelforschung und über seine Vorstellungen einer Medizin des 21. Jahrhunderts:

Susanne Dambeck

Susanne Dambeck is a science writer in English and German, and author of several nonfiction childrens' books. A political scientist by training, she has worked in politics, television and as a biographer. Apart from scientific findings, she is interested in people and in storytelling in different languages.