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Published 5 December 2014 by Stephanie Hanel

Patrick Modiano: Der Spurensucher

Als im Oktober verkündet wurde, wer den Literaturnobelpreis 2014 erhält, mussten in Deutschland viele erst einmal die Suchmaschinen bemühen. Patrick wer? Ein Blick auf einen berühmten Unbekannten.

Der diesjährige Literaturnobelpreisträger Modiano wurde in Deutschland erst durch Vermittlung Peter Handkes bekannt – seine Bücher erhielten in Folge großes Lob in den deutschen Feuilletons. Das breite Lesepublikum konnte er aber bisher nicht erobern. Nun steht der zurückgezogen lebende Modiano im Rampenlicht der Öffentlichkeit und ist dank des Nobelpreises zum Bestseller-Autor avanciert.

In Frankreich ist Patrick Modiano freilich eine feste literarische Größe. Trotzdem trat der Mensch Modiano immer hinter seinen Büchern zurück, er ist öffentlichkeitsscheu und widmete sein Leben ausschließlich der Schriftstellerei. Seine Frau, Dominique Zehrfuss, ist Buchillustratorin, eine seiner beiden Töchter in Frankreich als Songwriter und Sängerin bekannt. Modiano kam durch den Schriftsteller Raymond Queneau, einem Freund seiner Mutter, zur Literatur. Queneau brachte ihn auch mit der Verlagswelt in Kontakt.

Zwei französische Literaturzeitschriften gaben aus Anlass des Nobelpreises für Modiano eine Sonderausgabe heraus.
Zwei französische Literaturzeitschriften gaben aus Anlass des Nobelpreises für Modiano eine Sonderausgabe heraus.

 

Modiano ist Jahrgang 1945, hat also die Zeit über die er in seinem Erstlingswerk schrieb, nicht erlebt, aber beeindruckend adaptiert. Modianos Vater war ein italienisch-jüdischer Kaufmann, seine Mutter eine flämische Schauspielerin. Sie lernten sich in Paris während der deutschen Besatzung kennen. Modianos Vater hatte damals keine legale Existenz, schlug sich unter falschem Namen und mit Schwarzhandel durch. Die Lebenswelt in Modianos Buch ist die seiner Eltern. Allerdings soll Modianos Buch seinem Vater so ein Dorn im Auge gewesen sein, dass er versuchte die komplette Auflage aufzukaufen.

Cover Place de L'ÉtoilePlace de l’Étoile wurde in Frankreich ein Erfolg und gilt als sein Meisterwerk. Umso bemerkenswerter, dass es in Deutschland – anders als alle seine sonstigen Werke – erst 2010 publiziert wurde, 42 Jahre später. „Ein junger Mann, Raphael Schlemilovitch, in Paris zur Zeit des Nationalsozialismus. In seiner fingierten Autobiografie ziehen kaleidoskopartig die Lebensentwürfe der Juden im besetzten Frankreich vorüber: Mal ist er ‘Kollaborationsjude’ und Liebhaber von Eva Braun, mal ‘Feld-und-Flur-Jude’ in der tiefsten Provinz, bald emigriert er mit falschen Papieren und wird der Judenverfolgung dennoch nicht entgehen. Bis er bei Doktor Freud auf der Couch liegt, der dem halluzinierenden Held eine ‘jüdische Neurose’ attestiert.“ – so der Verlagstext zum Buch.

Die Nobelpreisbegründung lautet:

„Für die Kunst des Erinnerns, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt während der (deutschen) Besatzung sichtbar gemacht hat.“

Cover-Dora-BruderUnd das nicht nur in seinem Erstlingswerk, sondern zum Beispiel auch mit seinem Buch „Dora Bruder“, in dem der Ich-Erzähler die Lebenszeugnisse eines zunächst verschwundenen und später in Auschwitz ermordeten jüdischen Mädchens recherchiert. Modiano selbst bezeichnet sich als Angehörigen einer Übergangsgeneration. Ohne die Erinnerung kann die Suche nach der eigenen Identität nicht gelingen.

Nicht zu wissen was war, bringt die Hauptfigur in Modianos Buch „Die kleine Bijou“ an den Rand der Auflösung ihrer Existenz. „Die kleine Bijou“, ein späteres Werk, ist die Geschichte einer jungen Frau die, aus chaotischen Verhältnissen stammend, plötzlich einer Frau im gelben Mantel über den Weg läuft, in der sie ihre Mutter zu erkennen glaubt. Cover Die Kleine Bijou Die junge Frau verfolgt die ältere, beschattet sie regelrecht, wagt aber nie die direkte Konfrontation. Der Lesende versucht die Erinnerungsfetzen der Hauptfigur in einen Zusammenhang zu bringen, erlangt aber ebenfalls keine Gewissheit – und die Geschichte endet so offen wie sie begann. Das ist typisch für den Stil Modianos, der fragmentarisch, aber gut lesbar ist und in dem er Gedanken und Geschehnisse collagenhaft zusammensetzt. Der Autor schreibt von Hand und auf einzelnen Seiten, da ihm das größtmögliche Freiheit beim Schreiben ermögliche, erklärte er in einem Interview.

Modianos französischer Verleger sagt, er hätte auf die Glückwünsche zum Nobelpreis mit seiner üblichen Bescheidenheit geantwortet, das sei „bizarr“. Die Kenner seiner Literatur nennen es eine angenehme Überraschung. In Frankreich wird ein „alter Bekannter“ gefeiert, in Deutschland begibt sich nun ein neues Lesepublikum auf die literarische Spurensuche mit Patrick Modiano.


Bild in Slidergrafik: The RealDrHouses (CC BY-NC-SA 2.0)

Stephanie Hanel

Stephanie Hanel is a journalist and author. Her enthusiasm for the people behind science grew out of her work as an online editor for AcademiaNet, an international portal that publishes profiles of excellent female scientists. She is an interested observer of new communication channels and narrative forms as well as a dedicated social media user and science slam fan.