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Veröffentlicht 9. Juli 2012 von Markus Pössel

Higgs-Hintergrundinformationen

Ich war anfangs (z.B. hier) eher skeptisch gegenüber dem Rummel, der sich da rund um die CERN-Entdeckung zu entfalten begann. Das Higgs also – na und? Aber inzwischen haben mich die Kollegen mit ihrer Begeisterung angesteckt. Hier in Lindau saßen wir zwar nicht direkt an der CERN-Quelle, aber hatten trotzdem einzigartige Chancen, eine Vielfalt von Einschätzungen der Entdeckung mitzubekommen. Die CERN-Pressekonferenz wurde live in den zentralen Vortragssaal hier in der Inselhalle übertragen; dann gab es eine eigene kleine Pressekonferenz mit Carlo Rubbia, David Gross und Martinus Veltman und eine Podiumsdiskussion mit diesen dreien und George Smoot (moderiert von Felicitas Pauss vom CERN). Hinzu kam die Gelegenheit, mit einigen denjenigen jungen Wissenschaftlern zu sprechen, die an den beiden LHC-Experimenten CMS und ATLAS oder direkt am LHC mitarbeiten. Mein Dank geht außerdem an Albrecht Wagner, der auch bei dem Lindauer Treffen dabei war, und an meinen Lindauer Ko-Blogger Juan García-Bellido für geduldige Antworten auf meine Nachfragen.

Aber ganz von vorn.

Der Beschleuniger: Quantität und Qualität

Es geht, wie sollte es anders sein, um den Large Hadron Collider (LHC) am CERN, der in bester Teilchenbeschleuniger-Tradition Teilchen auf extrem hohe Geschwindigkeiten beschleunigt und sie dann ineinanderknallen lässt. Für die Messungen, um die es jetzt geht, hatte jedes der Protonen, die im LHC aufeinandergejagt werden, eine Energie von 4 TeV (TeV und GeV sind in der Teilchenphysik übliche Energieeinheiten; 1 TeV = 1000 GeV). Das ist rund 4000 Mal mehr Energie als einem Proton zukommt, das einfach nur ruhig in der Gegend herumsitzt. Bei solch hohen (Bewegungs-)Energien flitzen Protonen mit 99,9999945 % der Lichtgeschwindigkeit am Beobachter vorbei.

Energie ist so etwas wie die Quantität, die der Teilchenbeschleuniger liefern muss. Dazu gehört aber auch noch die Qualität der Teilchenstrahlen, die da miteinander zur Kollision gebracht werden. Im LHC laufen Grüppchen („bunches“) von Protonen in zwei ringförmig zusammengebogenen Vakuumrohren umlaufen – im einen Ring gegen, im anderen im Uhrzeigersinn. Um die Vakuumrohre sind Magnete angeordnet, die die Protonen auf ihrer Bahn und die Grüppchen schön beisammen halten. Dann gibt es noch (elektrische) Beschleunigerstrecken, die den Teilchen den letzten Geschwindigkeits-Kick geben und sie auf der gewünschten Endgeschwindigkeit halten. Größenordnung der Anzahl der Protonengruppen in jedem Ringrohr: 1000. An mehreren „Wechselwirkungspunkten“ werden die Protonengruppen dann aufeinander zu gelenkt. Das schöne an der ringförmigen Geometrie: Wenn’s beim einen Mal nicht klappt, klappt’s vielleicht beim nächsten. Oder dem danach.

Es ist gar nicht so einfach, Protonengrüppchen so gezielt gegeneinander zu lenken, dass es zu Kollisionen kommt. Man muss die Protonenstrahlen dazu ziemlich gut fokussieren und aufeinander zielen. Die Teilchenphysiker betreiben einen Riesenaufwand, um möglichst gute kollidierende Teilchenstrahlen zu erzeugen, sprich: Strahlen, von deren Protonen möglichst viele miteinander kollidieren. Diese Strahlqualität-ausgedrückt-durch-hohe-Kollisionschancen heißt „Luminosität“, und hohe Luminosität ist der zweite Umstand, dem wir die neuen Ergebnisse verdanken.

Was ist eigentlich ein Teilchen?

Alltagsgegenstände sind sehr kompliziert. Elementarteilchen sind dagegen sehr, sehr einfach und haben nur einige wenige Unterscheidungsmerkmale. Die Ruhemasse ist eines davon (warum „Ruhemasse“? Weil Masse aufgefasst als Maß dafür, wie schwierig es ist, ein Teilchen abzulenken, mit zunehmender Geschwindigkeit zunimmt). Dann ist da noch der Spin eines Teilchens, und der ist deutlich unanschaulicher. Oft wird das Bild bemüht, Teilchen würden von Natur aus unterschiedlich schnell um ihre eigene Achse rotieren, und der Spin gebe an, wie schnell. Das hat ein paar richtige Elemente, führt aber auch in die Irre. Ich möchte an dieser Stelle nicht detailliert darauf eingehen, für uns soll hier reichen: Spin ist noch so eine Kennzahl (ein Vielfaches von 1/2), anhand derer man Elementarteilchen unterscheiden kann.

Eine weitere Kennzahl ist elektrische Ladung: In den üblichen Einheiten der Teilchenphysik haben Elektronen die Ladung -1, Quarks je nach Sorte +2/3 oder -1/3. Es gibt noch eine Reihe weiterer Kennzahlen – zum einen Ladungen, die direkt mit den zwischen den Teilchen wirkenden Kräften zusammenhängen; allgemeiner „Quantenzahlen“, bei denen es sich wiederum typischer Weise um einfache, ganze Zahlen (allenfalls noch einfache Bruchzahlen) handelt.

Hat man Spin, Masse, Ladungen und Quantenzahlen eines Teilchens angegeben, hat man das Teilchen komplett definiert – na ja, fast: beim Higgs kommt als Information noch hinzu, dass es mit Elementarteilchen, die eine Ruhemasse ungleich Null haben, in ganz spezifischer Weise in Wechselwirkung tritt. Aber dazu später.

Umgekehrt gilt: Will man ein Teilchen identifizieren, muss man anhand von Teilchenreaktionen (auch dazu unten mehr) nachprüfen, dass es tatsächlich all die das Teilchen definierenden Kennzahlenwerte (und beim Higgs noch die erwähnte spezielle Wechselwirkung) besitzt. Hat man das getan, ist man fertig und kann eindeutig entscheiden, ob es sich z.B. um das Higgs oder um ein Teilchen mit anderen Eigenschaften handelt.

Die Theorie: Das hier kann sie ganz gut

Die erste gute Nachricht ist, dass Physiker über eine Theorie verfügen, die das Verhalten von Elementarteilchen sehr, sehr genau beschreibt: das Standardmodell der Elementarteilchenphysik (kurz „das Standardmodell“, wo keine Verwechslungsgefahr z.B. mit dem Standardmodell der Kosmologie besteht). Die zweite gute Nachricht ist, dass es für einige wichtige Situationen zwar verdammt schwierig ist, sie im Rahmen des Standardmodells zu beschreiben – Zustände mit aneinander gebundenen Teilchen gehören dazu, z.B. das Proton (drei Quarks) oder das Wasserstoffatom (Proton und Elektron). Aber Situationen wie in Teilchenbeschleunigern, bei denen Teilchen aufeinander zu und sich dabei in einigen Fällen gegenseitig beeinflussen, kann man damit recht gut beschreiben. Das ist genau was benötigt wird, um zu beschreiben, was in Teilchenbeschleunigern passiert.

Vor allem kann man mit Hilfe der Theorie die Wahrscheinlichkeiten dafür berechnen, dass beim aneinander-Vorbeiflug der Teilchen bestimmte Teilchenreaktionen stattfinden. Kann man angeben, wie genau die Teilchen aneinander vorbeifliegen (welche Teilchen? wie schnell bzw. bei welcher Energie? wie relativ zueinander orientiert?), dann gibt die Theorie für jede der möglichen Reaktionen eine Antwort auf die Frage, wie häufig die Reaktion stattfindet.

Teilchenreaktionen

Für die grundlegenden Prozesse, die ablaufen, wenn Teilchen bei Kollisionen in Teilchenbeschleunigern miteinander wechselwirken, gibt es ein einfaches Beschreibungsschema: Das einzige, was dort passiert, ist, dass diese Teilchen bestimmte andere Teilchen aussenden oder absorbieren, und sich dabei je nach Reaktion selbst in andere Teilchen umwandeln oder eben nicht.

Dafür, welche Teilchen welche anderen Teilchen aussenden oder absorbieren können, gibt es im Standardmodell strenge Regeln. Die Ladungen spielen dabei eine Doppelrolle. Zum einen sind sie, genau so wie die anderen Quantenzahlen, für die Buchhaltung wichtig. Jede Teilchenreaktion hat ein davor und ein danach. Wenn man vor der Reaktion eine bestimmte elektrische Gesamtladung hat, muss man nach der Reaktion insgesamt die gleiche Ladung haben. Hat man zum Beispiel vorher ein Teilchen mit Ladung +1 und eines mit Ladung -1, dann ist die Gesamtladung Null. Bei einer Reaktion dürfen dann zum Beispiel am Ende zwei Teilchen mit Ladung +1 und zwei mit Ladung -1 herauskommen (da +2 und -2 zusammen auch Null ergeben), aber z.B. nicht zwei Teilchen mit Ladung +1 und nur eines mit Ladung -1 (da +2 und -1 zusammen 1 ergeben, nicht 0). 

Ähnliche Regeln („Erhaltungssätze“) gibt es für die anderen Ladungen und Quantenzahlen. Wobei die Theorie explizit einige Ausnahmen eingebaut hat: einige Quantenzahlen bleiben zwar bei bestimmten Sorten von Reaktion erhalten, bei bestimmten anderen Sorten aber nicht.

Die Ladungen sagen einem auch, wie stark Teilchen vermittels der zugehörigen Kraft wechselwirken. Die elektrische Ladung beispielsweise sagt einem, wie stark das Teilchen andere Teilchen vermittels der elektromagnetischen Kraft anzieht oder abstößt.

Viele der Teilchen, die in Beschleunigerexperimenten entstehen, sind sehr kurzlebig. Sie zerfallen innerhalb von Sekundenbruchteilen in andere Teilchen. Die Physiker stehen daher bei solchen Experimenten typischerweise vor einem Puzzle, bei denen sie aus den tatsächlich im Detektor nachgewiesenen Teilchen zu rekonstruieren versuchen, was dort in der Zwischenzeit passiert ist. Dabei nutzen sie die erwähnten Regeln: Die elektrische Gesamtladung der nachgewiesenen Teilchen beispielsweise muss ja auch bei den Zerfallsreaktionen erhalten geblieben sein. Falls ich am Ende eine Gesamtladung +1 habe, weiss ich, dass es keinen Zwischenzustand geben kann, in dem nur ein einziges, elektrisch neutrales Teilchen (elektrische Ladung 0) anwesend war. Ähnlich geht man für die anderen Ladungen und Quantenzahlen, die Gesamtenergie und den Gesamtimpuls vor.

Bei der Higgs-Suche geht es genau um solche Reaktionen von Teilchenreaktionen und um die Frage, ob da zwischendurch mal ein (sehr kurzlebiges) Higgs-Teilchen anwesend war. Insgesamt ist das, was da passiert, typischer Weise sehr kompliziert. Hier ist eines der Kandidatenereignisse für den Nachweis des Teilchens, das das Higgs sein könnte (Quelle: ATLAS-Experiment). Jede der Linien, die da im mittleren Bereich durcheinanderlaufen, entspricht einem bei der Teilchenreaktion entstandenen Teilchen:

alt

Da ist viel Müll dabei (sprich: vieles, was an Reaktionen so nebenher passiert und nichts mit der eigentlich interessanten Nachweisreaktion zu tun hat). Die interessanten Reaktionen herauszupräparieren ist ein Haufen Arbeit. Zu Teilaspekten der Auswertung bestimmter Reaktionen werden ganze Doktorarbeiten verfasst, ganze Postdoc-Forschungsstellen ausgeschrieben.

Teilchenreaktionen: Wahrscheinlichkeiten

Bei der Beschreibung von Teilchenreaktionen spielen Wahrscheinlichkeiten eine Schlüsselrolle. Man kann bei solchen Reaktionen nicht konkret vorhersagen, was passiert, aber man kann die Wahrscheinlichkeiten für die verschiedenen möglichen Abläufe angeben (die Quantentheorie lässt grüßen). Diese Wahrscheinlichkeiten sind typischerweise energieabhängig, und eine typische Vorhersage lautet dann, dass es bei einer gegebenen Energie E eine Wahrscheinlichkeit X gibt, dass Reaktion A abläuft, eine Wahrscheinlichkeit Y für Reaktion B, und so weiter. 

Hat man solche Vorhersagen abgeleitet, kann man seine Beschleunigerexperimente durchführen und Häufigkeiten bestimmter Teilchenreaktionen z.B. vom Typ A („A-Ereignisse“) feststellen, die Häufigkeiten von B-Ereignissen und von allen anderen möglichen Arten von Ereignis.

Wenn eine Reaktion sehr selten ist, muss man viele, viele Teilchenzusammenstöße durchführen, um hinreichend viele Reaktionen dieses Typs zu sehen. Eine Möglichkeit, dies zu tun, besteht natürlich einfach darin, den Beschleuniger sehr lange laufen zu lassen. Die andere Möglichkeit ist, die Qualität (Luminosität, siehe oben) der Teilchenstrahlen zu verbessern, damit es bei jedem Umlauf zu möglichst vielen Teilchenzusammenstößen kommt.

Teilchenreaktionen: Energien

Wie bereits erwähnt, hängen die Reaktionswahrscheinlichkeiten von der Energie ab. Bei einigen Energien gibt es vergleichsweise wenig Reaktionen – dort fliegen die Teilchen im wesentlichen aneinander vorbei, ohne, dass etwas passiert. Bei anderen Energien finden deutlich mehr Wechselwirkungen statt.

Wichtig ist dabei die Masse der Teilchen, die bei der Reaktion entstehen. Einstein hat uns beigebracht, dass auch (Ruhe-)Masse eine Form der Energie ist. Bei der teilchenphysikalischen Buchhaltung betrachtet man Masse und Energie daher von vornherein nicht getrennt. Man betrachtet die Gesamtenergie: Ruhemassen, Bewegungsenergie und weitere Energieformen zusammen.

Haben wir bei einer gegebenen Kollision eine bestimmte Menge Energie zur Verfügung, dann können am Ende niemals Teilchen entstehen, deren Ruhemasse größer ist als diese Energie! (Wer sich bei solcher Rede über die unterschiedlichen Einheiten grämt, ersetzt bitte jede Erwähnung des Wortes Masse durch „Masse mal Quadrat der Lichtgeschwindigkeit“).

Umgekehrt gilt: Sobald die zur Verfügung stehende Energie Werte erreicht, bei denen ein bestimmtes neues Teilchen erzeugt werden kann, nimmt die Reaktionswahrscheinlichkeit deutlich zu. Hier ist eine Grafik, die Felicitas Pauss vom CERN bei der Diskussionsrunde in Lindau am Mittwoch gezeigt hat.alt Die Grafik fasst Daten des CMS-Experiments zusammen – eines der beiden Teilchendetektoren, deren Ergebnisse zum vielleicht-Higgs am Mittwoch bekannt gegeben wurden. Auf der x-Achse ist dabei die Energie aufgetragen, die man für eine bestimmte Reaktion misst, bei der zwei Photonen (Lichtteilchen, in diesem Falle: sehr hoch energetische Lichtteilchen) entstehen – das wiederum ist ein Maß für die Energie, die bei dieser bestimmten Kollision im Spiel war. Auf der y-Achse ist, vereinfacht gesagt, die Anzahl von Reaktionen („Ereignissen“ oder Events) aufgetragen, die man bei der betreffenden Energie gemessen hat. Rund um den Energiewert 125  GeV (wobei GeV eine in der Teilchenphysik übliche Energieeinheit ist) ist ein kleiner Buckel. Das ist die Art und Weise, wie sich ein neues Teilchen verrät, und sagt auch etwas über die Masse des Teilchens aus: Die Masse beträgt nämlich ungefähr 125 GeV. Bei 125 GeV gibt es, das ist in der Grafik klar zu sehen, mehr Ereignisse als dem allgemeinen Kurvenverlauf nach zu erwarten; dort sind offenbar Reaktionen im Spiel, bei denen Teilchen genau dieser Masse produziert werden.

Ähnliche Ereignisse – Buckel in Häufigkeitskurven – gibt es für andere Teilchenreaktionen, nach denen das CMS gesucht hat, und unabhängig davon für all diese Reaktionen auch von ATLAS, dem anderen LHC-Experiment, das an den neu verkündeten Ergebnissen beteiligt war. Solche Buckel sind die sachdienlichen Hinweise, um die es bei der Higgs-Suche geht.

Teilchen können auch zu Reaktionswahrscheinlichkeiten bei Energien beitragen, die deutlich geringer sind als ihre Masse (diese Beiträge gehören dann zu den sogenannten „Strahlungskorrekturen“). Auf diese Weise, nämlich durch Präzisionsmessungen, bei denen sich Higgs-Beiträge je nach Masse des Higgs-Teilchens mehr oder weniger eingemischt hätten, konnte der Vorgänger des LHC, der Elektron-Positron-Beschleunigerring LEP, bereits zeigen , dass die Higgs-Masse unterhalb von rund 152 GeV liegen muss.

Reaktionen und Energien: Ein paar weitere Anmerkungen

Wenn man einfach nur nach den Energiewerten geht, könnte man stutzig werden. Liegen die Kollisionsenergien beim LHC nicht viel höher als 125 GeV? Die vorangehenden und die jetzt bekannt gegebenen Messungen, bei denen sich Spuren eines neuen Teilchens zeigten, lagen bei LHC-Energien von 7 bzw. 8 TeV (also 3,5 TeV bzw. 4 TeV pro Proton), und das sind 7000 bzw. 8000 GeV.

Warum so hohe Energien? Warum ist das Higgs nicht schon längst vorher erzeugt worden? Ein wichtiger Grund ist, dass die genannte Energie sich eben auf die beteiligten Protonen bezieht, und die sind zusammengesetzte Teilchen: sie bestehen aus Quarks (drei, die ihre Eigenschaften definieren sowie viele Quark-Antiquark-Paare die im Protoninneren immer mal wieder in Erscheinung treten und wieder verschwinden) und „Kitt-Teilchen“, den Gluonen, die diese Quarks zusammenhalten und zu einem Proton zusammenbinden. Die „Elementarkollisionen“ im Beschleuniger sind die Kollisionen zwischen je einem Proton-Bestandteil des einen Protons und einem Bestandteil des zweiten Protons. Jedes der Bestandteile wird aber nur einen Bruchteil der Gesamtenergie mit sich tragen; dieser Bruchteil ist die Energie, die zur Erzeugung eines neuen Teilchens wie des Higgs zur Verfügung steht.

Um genaueres zu sehen, muss man wirklich in die Details gehen und schauen, bei welchen Energien die Higgs-Reaktionen wie häufig werden und, genau so wichtig: Wie häufig die ganzen (und viel, viel zahlreicheren!) Reaktionen, die nichts mit dem Higgs zu tun haben, bei den betreffenden Energien sind. Gehen die Higgs-Reaktionen im Rauschen der anderen Reaktionen unter, hat man ja auch nichts gewonnen. Bei solcher Betrachtung zeigt sich dann tatsächlich, dass man mit einem Beschleuniger wie dem LHC zu derart hohen Energien gehen muss, um eine gute Nachweischance zu haben. Es zeigt sich sogar, dass der Übergang von 7 zu 8 TeV einen beachtlichen Unterschied gemacht hat!

Was sagen die Sigmas?

Wann immer man Texte über die Entdeckung liest, die ins Detail gehen, kommt der griechische Buchstage (Klein-)Sigma ins Spiel. Was hat es damit auf sich?

Am einfachsten ist es, den Hintergrund dieser Schreibweise beiseite zu lassen (und sich insbesondere nicht den Wikipedia-Artikel Standardabweichung anzusehen!) sondern die Sigmas einfach als Kurzschrift für bestimmte Wahrscheinlichkeiten anzusehen.

Konkret geht es dabei um die Wahrscheinlichkeit, dass eine Besonderheit, die man in seinen Daten zu sehen glaubt (wie den Buckel in der oben gezeigte Kurve) gar nicht auf einen zusätzlichen Effekt (wie die Anwesenheit eines neuen Teilchens) zurückgeht, sondern schlicht auf statistische Fluktuationen. Fast alles, was man in der Physik misst, ist mit Messfehlern behaftet (die einzige Ausnahme, die mir spontan einfällt, sind einfache, diskrete Zählvorgänge). „Fehler“ ist dabei irreführend. Es geht um Dinge, die man gar nicht vermeiden kann – und es geht mitnichten darum, dass der Experimentator da irgendetwas falsch macht. Man kann ganz einfach nie alle Störquellen und Fehlerquellen kontrollieren – Detektoren sehen manchmal etwas, was gar nicht da ist; die Elektronik der Auswertungsapparaturen erzeugt ein paar kleine, nicht durch das Experiment hervorgerufene Signale, und eine Vielzahl derlei Kleinzeugs mehr. Diese vielen kleinen Fehlerquellen kann man nie alle kontrollieren oder gar eliminieren, und das führt dazu, dass man bei der Wiederholung derselben Messung nie ganz genau den gleichen Messwert bekommt, sondern dass die Messwerte leicht schwanken werden. Typisch für die kleinen Fehler, um die es hier geht, ist dabei, dass einige davon den Messwert etwas kleiner erscheinen lassen werden, als er in Wirklichkeit ist, andere etwas größer – es gibt keine bevorzugte Richtung, sondern nur die Summe von vielen zufälligen Effekten, die keine der beiden Richtungen (größerer oder kleinerer gemessenen Wert) bevorzugen.

Die Größe dieser „statistischen Schwankungen“, die sich aus der Summe der unzähligen winzigen Effekte ergeben, lässt sich aus den Daten ablesen – man merkt ja, wieweit ein Messwert, der eigentlich immer gleich sein sollte, einmal ein bisschen größer, dann wieder etwas kleiner ist. Ist die Größe der Schwankungen bestimmt, kann man die Wahrscheinlichkeit ausrechnen, dass Schwankungen dieser Größe einem einen physikalischen Effekt vorgaukeln – z.B. das Vorhandensein des schon erwähnten Buckels auf der Kurve. Diese Wahrscheinlichkeit wird durch die Sigmas ausgedrückt, wobei sich die Sigma-Werte wie folgt in die üblichere Notation von Wahrscheinlichkeiten (als Werte zwischen 0 und 1) übersetzen lassen:

Sigma-Niveau Wahrscheinlichkeit
1 Sigma 31,7 %
2 Sigma 4,6 %
3 Sigma 0,3 %
4 Sigma 0,006 %
5 Sigma 0,00006%

Wenn Physiker also so etwas sagen wie „der Nachweis gelang bei einem Niveau von 5 Sigma“, dann heißt das übersetzt „die Wahrscheinlichkeit, dass das, was wir da sehen, nicht Konsequenz eines systematischen Effekts ist, sondern stattdessen durch statistische Fluktuationen vorgegaukelt wird, ist 1 zu 1,7 Millionen, also 0,00006%“.

Es hat sich in der Wissenschaft eingebürgert, einen bestimmten Effekt als nachgewiesen zu betrachten, wenn ein bestimmtes Sigma-Niveau (oder „Signifikanz-Niveau“) erreicht ist. Teilchenphysiker fordern beim Nachweis z.B. eines neuen Teilchens üblicherweise 5 Sigma. Astronomen sind oft bereits mit 3 Sigma glücklich. In anderen Wissenschaften findet man typischer Weise Signifikanzniveaus zwischen 2 Sigma („statistisch signifikant“) und 3 Sigma („hochsignifikant“). 

Was man dabei nie vergessen sollte: Man kann die Formulierung dabei nicht umkehren! Dass ein Nachweis auf dem 5 Sigma-Niveau gelungen ist, heißt nicht, dass es sich mit 99,99994-prozentiger Wahrscheinlichkeit um ein neues Teilchen (schon gar nicht ein bestimmtes neues Teilchen) handelt! (Die Zahl erhält man, wenn man 0,00006% von 1 abzieht). Das Sigma-Niveau sagt nichts über den nachzuweisenden Effekt, nur etwas über die statistischen Fluktuationen der Messungen. Wer aus seinen Daten direkte Schlüsse auf das zur Erklärung herangezogene Modell ziehen möchte, muss stattdessen Bayessche Statistik lernen. Das ist noch einmal etwas anderes.

Das CMS-Experiment hat Hinweise auf ein Teilchen der Masse 125,3 GeV (plus/minus Fehler; siehe Link) gefunden: bei einem Niveau von 4,1 Sigma für Teilchenreaktionen, bei denen am Ende zwei Photonen herauskommen, und auf dem 3,2-Sigma-Niveau für Reaktionen, bei denen vier Leptonen entstehen (Leptonen sind Teilchen wie das Elektron und seine Verwandten). Zuzüglich einiger schwächerer Hinweise aus anderen Reaktionen kommt dieser Nachweis auf einen Sigma-Wert von 4,9.

ATLAS hat 4.5 Sigma für die Photonen und 3,4 Sigma für die Vier-Leptonen-Ereignisse; wiederum zusammen mit kleineren Beiträgen kommt das Experiment auf 5 Sigma. Die beste Abschätzung für die Masse liegt hier bei 126,5 GeV.

Die Sigma-Abweichungen (sprich: die Ausgeprägtheit der Buckel) lagen z.T. sogar etwas über den Werten, die man dem Standardmodell nach erwarten würde. Könnte das ein erster Hinweis auf Physik jenseits des Standardmodells sein? Schauen wir mal, wie sich die Sache entwickelt.

Die Massendifferenz (125,3 GeV versus 126,5 GeV) ist übrigens nicht statistisch signifikant und dürfte auf die erwähnten statistischen Fluktuationen zurückzuführen sein.

Das wir es mit Ergebnissen von zwei unabhängigen Experimenten zu tun haben – die Detektoren sind unterschiedlich aufgebaut, werten ihre Daten selbst aus usw. – ist durchaus gewollt. Wiederholbarkeit ist in der Wissenschaft ein wichtiges Kriterium. So ein teures Werkzeug wie den LHC dürfte auf der Welt nur einmal gebaut werden. Dass es an diesem Speicherring zwei „Allround-Experimente“ gibt, ATLAS und CMS, ist daher durchaus gewollt gewesen – wenn am LHC etwas Neues entdeckt würde, dann sollte es zumindest zwei weitgehend unabhängige Detektoren geben, mit denen sich die Physiker gegenseitig kritisch auf die Finger würden sehen können (die anderen fünf Detektoren am LHC sind speziellerer Natur – zumindest LHCb könnte aber durchaus etwas zur weiteren Untersuchung des neu gefundenen Teilchens beitragen, da zumindest eine Sorte von Reaktionen in den Spezialbereich des LHCb-Detektors fällt).

Bevor wir zu der Frage kommen, ob das, was da entdeckt wurde, nun das Higgs ist, erst noch einmal ein Schritt zurück.

Wofür brauchen wir eigentlich ein Higgs-Teilchen?

Damit die erwähnte Teilchenphysiktheorie, die so tolle Vorhersagen liefert – das Standardmodell-, überhaupt funktioniert! Verkürzt gesagt: Für Kräfte wie Elektromagnetismus und so gibt es im Standardmodell einen höchst erfolgreichen Formalismus. Der funktioniert aber leider nur, wenn bestimmte Teilchen, die mit den Kräften zusammenhängen (Eichbosonen, Kraft-Teilchen, wie immer man sie nennt – für den Elektromagnetismus ist es das Photon) die Ruhemasse Null besitzen. Andererseits zeigen die Experimente aber, dass die mit der schwachen Kernkraft assoziierten Teilchen eine ziemlich heftige Ruhemasse besitzen (80-90 mal soviel wie ein Proton!). Wie passt das zusammen?

Es passt zusammen, wenn man einen Trick anwendet und wie folgt vorgeht: Am Anfang haben alle Teilchen des Modells die Ruhemasse null. Allerdings weist man ihnen eine bestimmte zusätzliche Wechselwirkung zu, mit einem Feld nämlich – dem Higgs-Feld – das eine ganz besondere Eigenschaft hat: unter den Bedingungen, die wir um uns herum sehen, aber z.B. nicht unter den Extrembedingungen kurz nach dem Urknall, hat diese Wechselwirkung die gleichen Auswirkungen, als hätten wir den Teilchen von Anfang an eine Ruhemasse ungleich Null zugewiesen.  

Wie jedes Feld in der Teilchenphysik gehört auch zum Higgs-Feld ein Teilchen. Das ist das Higgs-Boson oder Higgs-Teilchen. (Auf den unsäglichen Begriff „Gottesteilchen“ sollte man tunlichst verzichten. In Lindau gingen die Meinungen unter den Laureaten auseinander, ob Leon Ledermans Erfindung dieses Begriffs ein Beispiel für seinen ganz eigenen Humor sei oder nur ein Versuch, sein populärwissenschaftliches Buch zum Thema Higgs-Teilchen zu verkaufen.)

Dieser Trick, um Ruhemasse zu bekommen ohne sie in der üblichen Weise von vornherein in die Theorie hineinzuschreiben, ist mehreren Leuten einigermaßen unabhängig voneinander eingefallen; in alphabetischer Reihenfolge: Robert Brout, Francois Englert, Gerald Guralnik, Carl Hagen, Peter Higgs und Tom Kibble. Higgs hat sich dabei zum Namensgeber entwickelt, und die Teilchenphysiker reden vom Higgs-Boson (und vom Higgs-Feld, und vom Higgs-Mechanismus). Eine Reihe von Wissenschaftlern weisen darauf hin, dass wir eigentlich vom Englert-Brout-Higgs-Guralnik-Hagen-Kibble-Mechanismus (oder so ähnlich) reden sollten. Man darf bezweifeln, dass sich die kompliziertere Nomenklatur durchsetzt – unfair, aber wahr. Aber es ist sicher nicht verkehrt, im Hinterkopf zu behalten, dass auf Seiten der Theoretiker mehr Menschen beteiligt waren als nur Peter Higgs. Dementsprechend hat das CERN zu der Pressekonferenz am Mittwoch auch nicht nur Higgs eingeladen, sondern alle noch lebenden Erfinder des Higgs-Mechanismus (Brout ist leider 2011 gestorben), und außer Tom Kibble waren auch alle davon anwesend.

David Miller hat eine schöne (und inzwischen sehr bekannte) Analogie dafür erfunden, was das Higgs tut. Die hat auch CERN-Direktor Heuer bei der Pressekonferenz angeführt (allerdings ohne Quellenangabe, ts, ts, ts). Ich selbst hatte zu der Frage, was das Higgs und die Masse miteinander zu tun haben und was nicht, vor einiger Zeit einen nach wie vor aktuellen Blogbeitrag geschrieben. Da steht z.B. erklärt, warum Heuer den Journalisten gesagt hat, das Higgs sei zwar für die Masse der Elementarteilchen, aber z.B. nicht für die Masse des Journalisten verantwortlich, der die Frage gestellt hatte.

Warum gerade jetzt?

Warum wurde diese Entdeckung gerade jetzt gemacht?

Am LHC-Vorgänger, dem Elektron-Positron-Speicherring LEP, ist man knapp an einer Entdeckung vorbeigeschrammt. Da dort wirklich Elementarteilchen zusammenstießen (und nicht zusammengesetzte Gebilde wie das Proton) hätte man mit diesem Ring zwar für eine Entdeckung eines 125 GeV-Higgs bei weitem nicht so hoch gehen müssen wie beim LHC mit seinen 7-8 TeV. Aber bei der tatsächlich erreichten LEP-Energie von 209 GeV war ein Higgs mit mehr Masse als 114 GeV dort nicht nachzuweisen.

Dann also der LHC: Der hat freilich eine sehr, sagen wir mal: bewegte Geschichte. Etwas mehr als eine Woche, nachdem die komplexe Maschine Ende 2008 fertiggestellt war, kam es zur Katastrophe: rund 100 der supraleitenden Magnete verloren plötzlich ihre Supraleitfähigkeit („Quench“), bliesen Tonnen von Helium in den LHC-Tunnel und fügten dem Beschleuniger erheblichen Schaden zu.

Bis Ende 2009 hatten die wackeren CERNianer ihren Beschleuniger wieder in Schuss gebracht. Aber man kann verstehen, dass sie sehr vorsichtig waren und um jeden Preis ein weiteres Disaster vermeiden wollten. Daher gingen sie recht langsam, Schritt für Schritt, zu höheren Energien über und wählten auch die anderen Strahlparameter (wieviele Protonen, wie eng gebündelt usw.) in sehr konservativer Weise. 2011 erreichte der Beschleuniger eine Energie von 3,5 TeV pro Proton (also 7 TeV für zwei kollidierende Protonen), 50% des angestrebten Endwertes.

Was die anderen Strahleigenschaften angeht, ging die Rückkehr zur Normalität sehr viel schneller als erwartet. Die Anzahl der Teilchen pro Grüppchen (bunch) ist jetzt sehr viel größer, als die Beschleunigerphysiker ursprünglich geplant hatten. Diese und weitere Verbesserungen haben dazu geführt, dass die Strahlqualität sehr viel besser ist als für dieses Stadium erhofft. Mit der hohen Qualität geht eine höhere Luminosität einher: eine größere Chance, dass Teilchen in der Tat zusammenstoßen, und damit eine größere Chance, auch seltene Teilchenreaktionen nachweisen zu können.

An dieser Stelle wurde es interessant.

Im April 2012 erhöhte der LHC seine Energie auf 4 TeV pro Proton (also 8 TeV für zwei kollidierende Protonen). Bei dieser Energie ließen die Physiker den Beschleuniger knapp 3 Monate lang laufen. Was sie dabei an Daten sammelten, lies die Beteiligten aufhorchen. Für ein Higgs-Teilchen (oder ähnliches Teilchen) mit der jetzt beobachteten Masse macht der Übergang von 7 auf 8 TeV einen beachtlichen Unterschied – die Nachweiswahrscheinlichkeit steigt vom einen zum anderen Energiewert deutlich an. Was folgte, waren zwei Wochen intensiver Datenanalyse (wobei man annehmen muss, dass die beteiligten Physiker sich dabei störender Gewohnheiten wie des regelmäßigen Nachtschlafes enthielten).

Hat man aus den Daten Größen wie die Zahl der Teilchenreaktionen (events) für einen gegebene Reaktionstyp herauspräpariert, folgt der Vergleich mit den theoretischen Voraussagen: Entspricht das Gemessene tatsächlich dem, was man der Theorie nach erwarten würde? Allerdings: Der Übergang von 7 zu 8 TeV war so schnell erfolgt, dass die Physiker, die mit Computersimulationen berechnen, wieviele Reaktionen der Theorie nach zu erwarten waren, zwischenzeitlich wohl etwa ins Hintertreffen geraten sind (bei solchen „Monte-Carlo-Simulationen“ schickt man eine Vielzahl simulierter Teilchen auf simulierten Kollisionskurs). 

Jetzt ist aber alles zusammengekommen, rechtzeitig für die große Teilchenphysikkonferenz ICHEP 2012 in Melbourne in Australien. Und CERN hat dann natürlich auch, noch vor den Australiern, eine Pressekonferenz gemacht – dass z.B. Martinus Veltman diesen Umstand ganz und gar nicht gut findet, hat Lars ja an dieser Stelle bereits gebloggt.

Ist das Higgs-Boson jetzt gefunden?

Alle Physiker, die sich in Lindau dazu geäußert haben – Nobelpreisträger ebenso wie junge Wissenschaftler – haben auf diese Frage hin gesagt, dass es für eine Antwort noch zu früh ist. Erinnern wir uns, dass Teilchen durch ihre Ruhemasse, ihren Spin, Ladungen und Quantenzahlen definiert sind – und das Higgs zusätzlich noch dadurch, wie es mit anderen Teilchen (denen mit Ruhemasse ungleich Null) wechselwirkt.

Bislang zeigen die Experimente, dass wir es mit einem bislang unbekannten Teilchen mit einer Masse um die 125 GeV zu tun haben. Diese Masse entspricht dem, was die Physiker für das Higgs-Teilchen des Standardmodells erwartet hatten: Die LEP-Präzisionsmessungen geben eine Obergrenze von 152 GeV. Vorangehende LHC-Messungen hatten sogar den gesamten Massebereich zwischen 127 GeV und 600 GeV ausschließen können – läge die Higgs-Masse in diesem Bereich, dann wären bestimmte Reaktionen so häufig, dass sie in den LHC-Experimenten längst hätten nachgewiesen werdne müssen. Andererseits konnte die Higgs-Masse nicht unterhalb von 114 GeV liegen, denn sonst hätte man das Teilchen bereits am LEP finden müssen.

Außer der Masse zeigen die Messungen noch, dass das Teilchen weder ein Fermion ist (es ist also kein Materieteilchen wie ein Quark oder Elektron) noch ein Vektorboson (wie die Kraftteilchen Photon, W-Boson, Z-Boson und Gluon). Das zeigt die Beobachtung der Reaktion, bei der am Ende zwei Photonen herauskommen und passt ebenfalls zum Higgs-Teilchen, das stattdessen ein sogenannter Skalar ist.

Aber das ist dann schon so ziemlich alles, was bis jetzt bekannt ist.

Um das neue Teilchen wirklich als Higgs zu identifizieren, müssen die Kollegen von ATLAS und CMS noch weitere für das Higgs typische Teilchenreaktionen beobachten. Bislang haben sie Reaktionen mit Endprodukt zwei Photonen oder vier Leptonen und noch ein paar weitere Zerfallsmöglichkeiten für das Higgs beobachtet. Um den entscheidenden Nachweis anzutreten, dass das hier wirklich ein Higgs ist, muss man aber noch eine ganze Reiher weiterer Reaktionen analysieren. Warum? Weil das Higgs per Definition eine ganz besondere Eigenschaft hat: es tritt mit anderen Teilchen umso stärker in Wechselwirkung, je größer die Ruhemasse der betreffenden Teilchen ist. Das folgt direkt aus der Rolle, die das Higgs spielen soll, daraus, dass es die Ruhemassen dieser Teilchen ja gerade erst selbst erzeugt. Ist dieser Nachweis geführt, dann (und erst dann!) ist hundertprozentig klar: das hier ist wirklich das Higgs.

Bis die CERN-Experimente soweit sind, wird allerdings noch einige Zeit vergehen. CERN-Direktor Rolf-Dieter Heuer sprach in der Pressekonferenz von 3 bis 4 Jahren. In der Zwischenzeit dürfte es immer wieder einmal Meldungen der Form geben: Reaktionsrate X ist damit vereinbar, dass es sich in der Tat um ein Higgs-Boson handelt. Oder eben deutlich spannendere Meldungen, dass es mit irgendeiner der Reaktionsraten nicht hinhaut!

Übrigens: Wenn man nach den früheren Elementarteilchen-Nobelpreisen geht, dürfte das Preiskommittee mit der Vergabe solange warten, bis dieser Nachweis geführt ist.

Wie stehen sich die Chancen, dass es sich um das Higgs-Teilchen handelt?

Sehr gut – und alle Physiker, die ich dazu gehört habe, sind sich einig, dass es zumindest ein Higgs-Teilchen sein dürfte. Eine ganze Reihe der Physiker gaben direkt im Anschluss dann ihrer Hoffnung Ausdruck, dass es sich nicht um das Higgs-Teilchen handle, nämlich das Higgs-Teilchen des Standardmodells. Denn wenn es sich um eine andere Sorte Higgs-Teilchen handle – das würde sich in den erwähnten Nachuntersuchungen zeigen – dann wäre das ein wichtiger Hinweis auf Physik jenseits des Standardmodells.  Und das wäre ungleich spannender, als einen lange erwarteten letzten Baustein eines ansonsten bereits bekannten Standardmodells zu finden.

Beispielsweise sind da bestimmte Erweiterungen des Standardmodells, die unter der Bezeichnung „Supersymmetrische Standardmodelle“ fungieren. Solche Modelle haben eine Reihe attraktiver Eigenschaften – etwa Teilchen, die für die aus der Astronomie bekannte, aber teilchenphysikalisch rätselhafte Dunkle Materie verantwortlich sein könnten. Die einfachsten Modelle enthalten insgesamt fünf Higgs-Bosonen. Würde man diese finden, würde dies eine ganz neue Welt von Teilchen eröffnen. Andererseits sagte der CERN-Theoretiker John Ellis bei der Podiumsdiskussion in Lindau (wo er per Videoverbindung hinzugeschaltet war): Wenn die Supersymmetrie nicht gefunden wird, bis der LHC seine Designenergie von 13 oder 14 TeV erreicht, dann sieht es schlecht für sie aus.

Wie geht es weiter?

Zunächst einmal ist die Entdeckung ein überzeugender Hinweis darauf, dass der Higgs-Mechanismus funktioniert und die Teilchen des Standardmodells ihre Ruhemassen in der Tat auf diese Weise bekommen. Für einige der Physiker, die an möglichen Alternativen gearbeitet haben, wird das eine Enttäuschung sein; andere wird es mit stiller Zufriedenheit erfüllen, und wieder andere werden die Schultern zucken und sagen, das sei jetzt keine Überraschung. Wie Martinus Veltman in Lindau sagte: Damit „schließt man die Tür“ hinter dem Standardmodell – das Modell ist vollständig, das hier war das letzte fehlende Puzzlestück, und das war’s dann erstmal.

Spannend wird es, wie erwähnt, wenn die Anschlussuntersuchungen Hinweise auf Eigenschaften geben, die man dem Standardmodell nach nicht erwarten würde. Dann sind wir wirklich bei neuer Physik, und lernen etwas Grundlegendes über unsere Welt hinzu.

Aber auch bislang ohne neue Physik gilt: Wir kennen jetzt die genaue Masse des neuen Teilchens, und das gibt an, wo wir weitersuchen müssen.

Was jetzt?

Kurzfristig bewirkt die Entdeckung laut Aussage von CERN-Direktor Heuer, dass die jetzige Betriebsphase des LHC um zweieinhalb bis drei Monate verlängert wird. Eigentlich sollte der LHC jetzt zu Wartungszwecken stillgelegt und während der zweijährigen Wartungsphase gründlich überholt werden. Jetzt wird die Wartung etwas herausgezögert. Die zusätzlichen Daten könnten zeigen, welchen Spin das neue Teilchen hat (Skalar? Pseudoskalar?), und weitere Reaktionstypen könnten erste Hinweise darauf liefern, ob es die Higgs-typische Eigenschaft (Wechselwirkungsstärke proportional zur Ruhemasse des Teilchens, mit dem das Higgs wechselwirkt) besitzt.

Längerfristig sagt der Massenwert von 125 GeV den Physikern, welche Art von Beschleuniger sie bauen müssen, um die Eigenschaften des Teilchens – sprechen wir ab jetzt vereinfacht vom „Higgs“, trotz der oben genannten Gründe zur Vorsicht. Carlo Rubbia verglich die Situation mit der Entdeckung von W- und Z-Bosonen, für die er seinen Nobelpreis bekam. Diese Teilchen waren am Proton-Antiproton-Speicherring SPS am CERN entdeckt worden. Aber während Protonen gut sind, um hohe Energien zu erreichen – mit denen sich dann entsprechend einfacher neue, massereichere Teilchen erzeugen lassen – sind Protonenkollisionen ein ziemliches Durcheinander (siehe das erste Bild oben in diesem Beitrag). Protonen bestehen aus vielen Teilchen, und neben den interessanten Reaktionen findet drumherum eben viel Müll statt, der einen eigentlich gar nicht interessiert, der aber angemessen berücksichtigt werden muss. Das macht es dann wiederum schwierig, die genauen Eigenschaften des Teilchens herauszufinden oder gar Präzisionsmessungen daran vorzunehmen. Im Falle von W- und Z-Boson hat CERN im Anschluss an das SPS den LEP-Speicherring gebaut. Dass darin Elektronen und Positronen kollidieren – bei welcher Energie das geschehen musste wusste man aus den SPS-Ergebnissen – führt zu viel übersichtlicheren Situationen, in denen Präzisionsmessungen möglich werden. LEP hat dann mit großer Genauigkeit die Massen von W- und Z-Bosonen bestimmt, aber beispielsweise auch die Zahl der Neutrinosorten im Standardmodell (3) festgenagelt. [Gegen Ende des LEP-Betriebes wurde sogar behauptet, man habe dort Spuren des Higgs gefunden – allerdings für ein Higgs mit einer Masse von 115 GeV; die neuen LHC-Messungen schließen das aus.]

Rubbia schlug vor, für das Higgs (oder was immer es nun ist) genau so vorzugehen und jetzt eine „Higgs-Fabrik“ zu bauen, einen Beschleuniger, der genau auf die Belange des neuen Teilchens zugeschnitten ist und an dem sich Präzisionsmessungen vornehmen lassen. Das könnte ein Elektron-Positron-Speicherring etwas größer als LEP sein, oder ein Linearbeschleuniger, oder ein Teilchenbeschleuniger, der Myonen miteinander kollidieren lässt, die massereicheren Cousins der Elektronen. David Gross fügte dann gleich hinzu, das sei die Chance für die USA, wieder in der ersten Liga der Teilchenphysik mitzuspielen.

Mit anderen Worten: Es bleibt spannend. Aber wir dürften noch einige Zeit, vielleicht sogar einige Jahre, warten müssen, bis wir wissen, woran wir da nun eigentlich sind.

Markus Pössel