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Veröffentlicht 21. August 2014 von Fabiola Gerpott

Fabiola Gerpotts zweiter Tag

Von intellektuellem Vergnügen, interdisziplinärem Generationendialog und intelligentem Schlange stehen

Mittwoch, 20.08.2014: 06.30 Uhr, der Wecker klingelt. Viel zu früh in Anbetracht des gestrigen (bzw. gefühlt gerade erst beendeten) Kennenlern-Abends für die Tagungs-Stipendiaten. Das Klischee vom langschlafenden Wissenschaftler wollten die Programmplaner bei diesem Meeting wohl nicht bestätigen, also raus aus den Federn. Zufrieden mit meiner Selbstdisziplin gehe (oder vielmehr schleiche) ich zum Frühstücksbuffet. Dort wird mein kurzer Moment des morgendlichen Eigenlobs dann auch gleich relativiert: Mehr als die Hälfte der Hoteltische sind bereits besetzt, Namensschilder von Teilnehmern der Nobelpreistagungen liegen zwischen Frühstückseiern und Croissants, überall wird eifrig geredet – wie machen die das nur?

Zwei Tassen Kaffee später bin auch ich wieder ansprechbar und in eine Diskussion über Jetlags und nächtliche Störungen verwickelt. „Can you tell me what the German word ”Ruhe“ means? Is it abusive language? When I was just about to complain about my neighbors at 3 am, a woman came out of her room and screamed “Ruhe” and immediately the conversations stopped”. (Kannst du mir erklären was das deutsche Wort „Ruhe“ bedeutet? Ist es ein Schimpfwort? Als ich mich um drei Uhr morgens gerade über meine Nachbarn beschweren wollte, kam eine Frau aus ihrem Zimmer und schrie „Ruhe“ und sofort hörten die Gespräche auf).

Ich erkläre der fragenden Australierin dass Ruhe kein Schimpfwort ist und versuche auch verständlich zu machen, dass Ruhe im Gegenteil sogar sehr positiv besetzt sein kann. Sie zeigt sich mit der Antwort zufrieden und ich bringe ihr bei der Gelegenheit auch noch das Wort „Moin“ bei. Sie muss sich am frühen Morgen ja schließlich verständigen können, obwohl ich mir bei genauerem Nachdenken nicht ganz sicher bin, ob ihr dieses doch eher norddeutsche Wort hier im Süden wirklich bei der Überbrückung von Verständigungsschwierigkeiten hilft. Bevor ich weiter darüber sinnieren kann gesellen sich zwei Amerikaner zu uns und wir wechseln das Thema: Wie erkennt man eigentlich so einen Nobelpreisträger auf der Tagung? Die Australierin meint, er hätte sicherlich ein andersfarbiges Namenschild und unterscheidet sich damit von uns. Überhaupt, wenn er ein Namensschild trägt, dann sei er ja leicht erkennbar. Die Amerikaner widersprechen: Ein Nobelpreisträger benötigt bestimmt kein Schild, der ist von einer Menschentraube umgeben und damit nicht übersehbar. Das Thema können wir nicht abschließend klären, wir müssen los: Auf geht’s zu den ersten Lectures!

Fünf jeweils 30-minütige Vorträge der Nobelpreisträger stehen auf dem Plan. Die Redner haben völlige Wahlfreiheit bei der Themengestaltung und nutzen diese auch aus: Während einige über ihre Forschungsschwerpunkte reden, blicken andere über das Feld hinaus, für welches sie den Nobelpreis erhalten haben. Den Inhalt der einzelnen Lectures an dieser Stelle wiederzugeben würde wohl selbst den Zeitrahmen des ausdauerndsten Lesers sprengen, deswegen sei an dieser Stelle auf die Mediathek  verwiesen. Die kurzweiligen und inspirierenden Vorträge sind viel zu schnell vorbei und wir werden des Saales verwiesen: Die Vorbereitungen für die Eröffnungsveranstaltung beginnen, aus Sicherheitsgründen ist der Aufenthalt im Gebäude nicht mehr erlaubt. Wir begeben uns also ins Catering-Zelt. Dort heißt es: Schlange stehen. Ich werde durch einen während der Lectures kennengelernten Griechen begleitet und er erklärt mir das Prinzip der intelligenten Schlangenwahl unter Rückgriff auf eine komplizierte Formel aus Anzahl und Gewichtungsverhältnis der männlichen sowie weiblichen Personen, verfügbaren Speisen und Entfernungswegen zwischen den Buffettischen. Er promoviert in Ökonomie über Entscheidungsverhalten, also beschließe ich, dass er Recht hat und wir stellen uns gemeinsam in die von ihm vorgeschlagene Schlange. Während des Essens werden die morgendlichen Lectures intensiv diskutiert, je nach Zugehörigkeit zu einer bestimmten ökonomischen Strömung sind die Meinungen recht unterschiedlich. Die vorgebrachten Argumente resultieren für mich zwar nur selten in einer Meinungsänderung, aber bringen mich doch zum kritischen Überdenken der einen oder anderen Modellvorstellung.

Wie gestern bereits gespannt angekündigt findet nach dem Mittagessen die offizielle Eröffnungsveranstaltung statt. Bevor es losgeht heißt es jedoch noch einmal: Schlange stehen. Zum Glück gibt es dieses Mal nur eine, so dass ich mir über die richtige Schlangenwahl keine Gedanken machen muss. Zügig werden wir durch die Sicherheitskontrollen geschleust. Der Plenarsaal der Lindauer Inselhalle füllt sich und pünktlich um 14.00 Uhr beginnt die rund 80-minütige Veranstaltung.

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Opening Ceremony and Lindau Spirit (Fotos: F. Gerpott)

Zunächst spricht Bettina Bernadotte, die Präsidentin des Rats der Lindauer Nobelpreistagungen. Mir gefällt ihre Zusammenfassung dessen, worum es bei dem Meeting geht: „It’s not about papers, it’s about people“! (Es geht nicht um wissenschaftliche Aufsätze, es geht um Menschen!). Sie hebt hervor, dass die Tagung den Dialog innerhalb und zwischen den Generationen und Disziplinen fördern soll und fordert uns dazu auf, bei all den tiefgründigen Auseinandersetzungen über den ökonomischen Forschungsstand den Spaß nicht zu vergessen: „Have intellectual fun on the way!“

Im Anschluss erinnert Lars Heikensten, Direktor der Nobelstiftung, an Alfred Nobel und die Grundideen der Verleihung des Nobelpreises. Ihm folgt Prof. Wolfgang Schürer, Vorsitzender des Stiftungsrats, mit einer ermutigenden Rede über die Bedeutung lebenslangen Lernens für jeden einzelnen von uns sowie für Unternehmen und die ganze Gesellschaft. In seiner Laudatio für Walter Kielholz verweist er auf die Bedeutung der Verknüpfung von Tradition und Innovation: Nur durch eine Balance zwischen beidem können Systeme nachhaltig erfolgreich bleiben. Die Lindauer Tagungen bieten durch den Dialog zwischen erfahrenden Wissenschaftlern und vielversprechenden Nachwuchsforschern einen einmaligen Raum für derartige Kopplungs- und Lernprozesse. Diese Worte bleiben nicht ohne Antwort: Walter Kielholz bedankt sich für Schürers Rede und für die Aufnahme in den „Honorary Senate“ der Stiftung für die Lindauer Nobelpreistagungen.

Als nächstes betritt die Bundeskanzlerin Angela Merkel die Bühne. Im Gegensatz zu ihren Vorrednern hält sie den Begrüßungsvortrag auf Deutsch – „Ich hoffe, Sie sind technisch gerüstet“ – und fordert uns Wissenschaftler auf, sich nicht im Elfenbeinturm zu verschanzen, sondern Entscheidungshilfen für Wissenschaft und Gesellschaft zu liefern. Während sich die Wissenschaft der Suche nach Wahrheit hingeben könne, müsse die Politik zeitnah zu Entscheidungen kommen und diese auch umsetzen. Dies sei ein Prozess, bei dem nicht nur ökonomisch-rationale Gründe eine Rolle spielen sondern auch kulturell-gesellschaftliche Aspekte berücksichtigt werden müssen. Der Anspruch wissenschaftlicher Politikberatung solle deswegen sein, die Realität so nahe wie möglich abzubilden und gegebene Interdependenzen zu berücksichtigen. Politik müsse oftmals nicht nur reagieren, sondern proaktiv agieren – so passiv erschien mir die ökonomische Forschung bis jetzt gar nicht. Ein Blick zu meinem Sitznachbarn bestätigt mir: Die Kanzlerin teilt wohl nicht in jedem Punkt die Meinung der anwesenden Wissenschaftler. Vielleicht liegt es aber auch an einem Verständigungsproblem, bezüglich dieses Punktes stimme ich ihr am Ende der Rede zu: Wissenschaftler haben sicherlich noch einige Optimierungspotenziale im Hinblick auf eine verständliche Kommunikation ihrer Forschungsergebnisse. „Auch die kompliziertesten Sachverhalte sind in einfache Worte zu fassen“ – der Applaus der Forschergemeinde weckt die Zuversicht, dass dieser Appel verstanden wurde.

Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Eröffnungszeremonie. Foto: R.Schultes/Lindau Nobel Laureate Meetings
Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Eröffnungszeremonie. Foto: R.Schultes/Lindau Nobel Laureate Meetings

Nach der Eröffnungszeremonie stellen sich in parallelen Diskussionsrunden fünf Nobelpreisträger den Fragen der Nachwuchswissenschaftler. Mein Zeitplan sieht ein besonderes Highlight vor: Ich darf einem Interview mit Robert J. Aumann beiwohnen. Der im Jahr 1930 geborene Forscher erhielt den Nobelpreis für seine richtungsweisenden Beiträge im Bereich der Spieltheorie. Zusammen mit vier weiteren Journalisten sitze ich im Interviewraum und stelle schnell fest: In der Medienbranche scheint das Recht des Stärkeren zu gelten. Wer nicht geschickt eine Frage in den Raum wirft, kommt kaum zu Wort. Zunächst dominieren zwei Journalisten aus Schweden die Interviewführung, sie sind an dem möglichen Beitrag der Spieltheorie für die Lösung des aktuellen Gaza-Konflikts interessiert. Aumann erklärt, dass es sich aus seiner Sicht nicht um einen aktuellen Konflikt sondern um eine hundertjährige Auseinandersetzung handele und gesteht: „We haven’t done too well by using game theory“. Er erläutert den zwei Schweden dann aber doch geduldig die spieltheoretischen Implikationen und Interpretationsmöglichkeiten, was zu weiteren Nachfragen der zwei anderen anwesenden Journalisten führt. Die Ansichten Aumanns sind sicherlich kontrovers diskutierbar („If you want peace, prepare for war“), dafür reicht die Zeit aber kaum aus. Als er auf die wiederholte Frage nach seiner Einschätzung der aktuellen weltpolitischen Situation humorvoll darauf verweist, dass er weder Politiker noch vor Ort sei, wittere ich meine Chance und frage nach seiner Meinung als Wissenschaftler: Kann es uns mit unserer Forschung gelingen die Realität abzubilden? Und was versteht er überhaupt unter Realität? Die Fragen erstaunen ihn, er denkt nach – was Realität sei, dass sei er noch nicht gefragt worden. Er erkundigt sich nach meinem Promotionsfach und gewinnt Zeit zum Nachdenken: Realität, dass sei der Versuch die Welt so zu erfassen wie sie ist. Und nichts anderes ist Wissenschaft, nur mit dem Unterschied, dass hier verschiedenste Prämissen und Einschränkungen getroffen werden müssen. Damit ist Wissenschaft zwar mit der Realität verbunden, aber doch nur ein Versuch sie zu erfassen – ein Versuch, den es sich lohnt zu wagen. Ich denke über seine Worte nach, doch schon ist die Interviewzeit um: Ein inspirierendes Gespräch, das ich am Abend ganz real beim Get-Together mit allen Teilnehmern ausklingen lasse!

Fabiola Gerpott

Fabiola H. Gerpott, Lindau Alumna 2014, was a participant at the 5th Lindau Meeting on Economic Sciences. She currently holds the Chair of Leadership at the WHU – Otto Beisheim School of Management. Her research focuses on leadership, diversity, and social interdependence in economic games and beyond. In her spare time she loves riding her racing bike.