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Veröffentlicht 22. Juni 2016

Die Genies werden älter

Als Lawrence Bragg im Jahr 1915 den Nobelpreis für Physik erhielt, war er gerade mal 25 Jahre alt. Die preisgekrönte Arbeit – die Erforschung von Kristallstrukturen mittels Röntgenstrahlen – hatte er schon zwei Jahre zuvor im Alter von 23 Jahren durchgeführt. Damit bestätigt er eine bekannte Aussage von Albert Einstein:

Wer noch keinen großen Beitrag zur Wissenschaft geleistet hat bevor er 30 Jahre alt ist, wird das niemals tun.

Der große Physiker ist selbst ein weiteres Beispiel. Auch Einstein hat die spezielle Relativitätstheorie entwickelt, bevor er 30 Jahre alt war; ebenso wie die 1921 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Forschung zum photoelektrischen Effekt.

Werden die wissenschaftlichen Durchbrüche aber tatsächlich alle von jungen Forscherinnen und Forschern gemacht? Benjamin Jones und Bruce Weinberg vom National Bureau of Economic Research in Cambridge haben diese Frage untersucht („Age dynamics in scientific creativity„, PNAS 108/47, 2011). Ihre Analyse basiert auf der Arbeit der Nobelpreisträger in den Kategorien Physik, Chemie und Medizin in der Zeit von 1901 bis 2008. Sie bestimmten das Alter, in dem die jeweiligen Wissenschaftler ihre preisgekrönten Arbeiten durchgeführt haben und fanden, dass Einsteins Aussage über die „jungen Genies“ nicht ganz aus der Luft gegriffen ist. Allerdings nur für die Vergangenheit.

Das durchschnittliche Alter, in dem Physiker eine Entdeckung machten, die später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, liegt bei 37,2 Jahren. Bei den Chemikern sind es 40,2 Jahre und bei den Medizinern 39,9. Vergleicht man aber die ganz frühen Preisträger (die ihre Entdeckungen vor 1905 gemacht haben) mit den späteren (deren Forschung nach 1985 durchgeführt wurde), dann zeigen sich deutliche Unterschiede. In der Medizin liegt das Durchschnittsalter zum Zeitpunkt der großen Entdeckungen in der frühen Phase bei 37,6 Jahren und bei 45 Jahren in der späten Phase. In der Chemie ist der Unterschied mit 36,1 zu 46,3 Jahren noch ausgeprägter und die größten Unterschiede sieht man in der Physik, wo die Preisträger früher ihre Entdeckungen mit 36,9 Jahren machten, später aber im Durchschnitt 50,3 Jahre alt waren.

Seit der Jahrtausendwende machen die Entdeckungen von unter 40jährigen in der Physik nur noch 19 Prozent aus; früher waren es 60 Prozent. Unter den Chemikern wurden im 21. Jahrhundert sogar überhaupt keine Entdeckungen ausgezeichnet, die von unter 40jährigen Wissenschaftlern gemacht wurden (während es früher noch 66 Prozent waren).

 

Nobel Laureate Peter Doherty giving advice to young scientist Julia Nepper at the 65th Lindau Nobel Laureate Meeting.
Nobelpreisträger Peter Doherty mit Nachwuchswissenschaftlerin Julia Nepper bei der 65. Lindauer Nobelpreisträgertagung.

Über die Gründe für diese Altersverschiebung bei den wissenschaftlichen Durchbrüchen lässt sich derzeit nur spekulieren. Vermutlich liegt es daran, dass es heute einfach mehr zu lernen gibt als früher. In der Physik fand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Entwicklung der Quantenmechanik eine Revolution statt, an der besonders viele junge Wissenschaftler (zum Beispiel Albert Einstein, Paul Dirac oder Werner Heisenberg) beteiligt waren. Junge Wissenschaftler, die vielleicht gerade deshalb einen Vorteil hatten, weil sich die Quantenmechanik so sehr von der zuvor gelehrten und erforschten klassischen Physik unterschied. Es spielte kaum eine Rolle, ob sie sich ausführlich mit der „alten“ Wissenschaft beschäftigte oder nicht. Junge Wissenschaftler konnten direkt in die neue Physik einsteigen und auch ohne Vorwissen große Beiträge leisten.

Das Bild des brillanten jungen Wissenschaftlers, der bedeutende Entdeckungen macht, ist immer weniger aktuell,

fasst Bruce Weinberg die Ergebnisse zusammen. Im Durchschnitt bekommt man heute einen Nobelpreis für Forschung verliehen, die im Alter von etwa 48 Jahren durchgeführt worden ist.

All die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich in den nächsten Tagen wieder in Lindau einfinden um dort mit den Nobelpreisträgern über ihre Forschung zu diskutieren, haben also noch genug Zeit. Wer es dennoch eilig hat, sollte sich auf theoretische Forschung verlegen. Denn, wie Jones und Weinberg ebenfalls herausgefunden haben: Theoretikern gelingen ihre großen Durchbrüche im Durchschnitt 4,4 Jahre vor den Experimentalwissenschaftlern.