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Veröffentlicht 8. Mai 2015 von Stephanie Hanel

Die Epigenetik – wie die Umwelt unsere Gene beeinflusst

Wissenschaftliche Hintergründe eines rasanten Paradigmenwechsels

Als das erste Human-Genom entschlüsselt war, dachte man „wer die Gene kennt, kenne den Menschen“. Heute, kaum 15 Jahre später, befindet sich die Wissenschaft mitten in einem aufregenden neuen Forschungsgebiet und die interessierte Öffentlichkeit wird mit neuen, nicht immer seriösen, Schlagzeilen unterhalten. Angeblich können traumatische Erfahrungen über Generationen hinweg vererbt werden und das Leben selbst der Enkel noch wesentlich beeinflussen. Fakt ist: Gene steuern nicht nur, sie werden auch gesteuert. Und genau darum geht es bei der Epigenetik – wie funktioniert die Gensteuerung und welche Faktoren können sie beeinflussen?

Epigenetik meint die Metaebene der genetischen Regulation: Epigenetische Mechanismen regulieren unter dem Einfluss äußerer Faktoren, welche Gene ein- und ausgeschaltet werden. Dadurch erhöht sich die Flexibilität des aber immer gleichbleibenden Erbguts. Auf biochemischer Mikroebene sind epigenetische Regulatoren dafür verantwortlich, wie eng verpackt und damit wie viel oder wie wenig zugänglich einzelne Genombereiche sind. Das funktioniert durch angeheftete oder abgelöste kleine chemische Gruppen. Die so entstandene Markierung des Genoms wird von entsprechend spezialisierten Enzymen gelesen, die daraufhin das Ein- oder eben Ausschalten der Gene veranlassen.

Struktur eines Nukleosoms mit Histonen der Fruchtfliege, Wikimedia Commons (Sponk). Erklärung dazu: Die DNA ist um den Kern aus acht Histon-Untereinheiten gewickelt. An das Stück DNA zwischen zwei Nukleosomen bindet Histon. Die Enden der Histone sind für epigenetische Modifizierung verfügbar: Methylierung, Acetylierung oder Phosphorylierung. Dadurch wird die Verdichtung oder Ausdehnung des Chromatins beeinflusst. (aus: Wikipedia-Eintrag Epigenetik)
Struktur eines Nukleosoms mit Histonen der Fruchtfliege, Wikimedia Commons (Sponk). Erklärung dazu: Die DNA ist um den Kern aus acht Histon-Untereinheiten gewickelt. An das Stück DNA zwischen zwei Nukleosomen bindet Histon. Die Enden der Histone sind für epigenetische Modifizierung verfügbar: Methylierung, Acetylierung oder Phosphorylierung. Dadurch wird die Verdichtung oder Ausdehnung des Chromatins beeinflusst. (aus: Wikipedia-Eintrag Epigenetik)

So einleuchtend uns das erscheint – in der Konsequenz müssen wir uns damit von einem lange bewährten Dogma verabschieden: Der Idee, dass die bei der Entstehung des jeweiligen Lebens mitgegebenen Gene unveränderbar sind. Und in die Wissenschaftsgeschichte zurück gedacht: Hatte Lamarck doch recht? Der im 19. Jahrhundert lebende französische Biologe hatte behauptet, dass Organismen erworbene Eigenschaften an zukünftige Generationen weitergeben. Und genau diesem Mechanismus sind die heutigen Epigenetiker auf der Spur. In Laborversuchen mit Mäusen konnte bereits nachgewiesen werden, dass eine bestimmte, gezielt ausgelöste Codierung einzelner Gene an den Nachwuchs weitergegeben wird. Epigenetische Veränderungen sind allerdings sogenannte weiche Veränderungen: sie können rückgängig gemacht werden. Und darin liegt die große Hoffnung der Medizin – durch gezielte Eingriffe in den Steuerungsmechanismus von außen beispielsweise gegen Altersdemenz vorgehen zu können.

PET Scan eines gesunden und eines durch Alzheimer veränderten Gehirns, Wikimedia Commons (Health and Human Services Department, National Institutes of Health, National Institute on Aging)
PET Scan eines gesunden und eines durch Alzheimer veränderten Gehirns, Wikimedia Commons (Health and Human Services Department, National Institutes of Health, National Institute on Aging)

An dieser Stelle wird bereits deutlich, in welchem Spannungsfeld sich das neue Forschungsgebiet bewegt. Zum einen hat die Vorstellung, dass unser menschliches Dasein durch Umwelteinflüsse so stark „manipulierbar“ ist, etwas Beunruhigendes. Zu Recht. Konnte man sich bisher damit trösten, dass es zumindest die nächste Generation besser haben würde, wenn die Eltern-Generation noch unter Not, Gewalt oder Ähnlichem litt, muss man heute eher davon ausgehen, dass solche gravierenden Ereignissen nicht einfach vergessen werden können, sondern auch in den Genen der nächsten Generation(en) noch Spuren hinterlassen.

Eine in diesem Zusammenhang öfter erwähnte Studie basiert auf der Auswertung von in den Niederlanden erhobenen Daten über die Hungerjahre 1944/45, unter denen die Bevölkerung dort besonders schwer litt. Die in dieser Zeit auf die Welt gekommenen Kinder waren nicht nur kleiner, sondern hatten als Erwachsene auch ein erhöhtes Risiko für Fettleibigkeit, Herz-Kreislauf-Probleme sowie neuropsychiatrische Störungen und auch deren Nachkommen waren wiederum durchschnittlich kleiner – trotz längst gesicherter Ernährungsgrundlage und eines Lebens im Überfluss.

Der Göttinger Neurologe André Fischer erklärt das so: „Als mögliche Ursache stellte sich eine veränderte DNA-Methylierung des Insulin-Wachstumsfaktors 2 heraus. Untersuchungen meiner eigenen Arbeitsgruppe ergaben, dass IGF2 wichtig für kognitive Funktionen ist und bei Angststörungen eine wesentliche Rolle spielt.“ Im Februar dieses Jahres berichtete Scientific American schließlich über eine Studie, die sich mit den Nachkommen von Holocaust-Überlebenden beschäftigt: „Their latest results reveal that descendants of people who survived the Holocaust have different stress hormon profiles than their peers, perhaps predisposing them to anxiety disorders.“

Dass Stress das Erbgut verändern kann, davor warnte bereits 2013 Elizabeth Blackburn, die 2009 den Medizinnobelpreis für ihre Forschung zu den Telomeren erhielt. Gewalt, Missbrauch oder Armut verkürzen die ‚Schutzkappen’ des Erbguts, stellten sie und ihre Kollegin Elissa Epel fest.

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Nobelpreisträgerin Elizabeth H. Blackburn, Foto: US Embassy Sweden, Wikimedia Commons

Nun fragt sich natürlich, welchen evolutiven Sinn ein epigenetischer Vererbungsmechanismus eigentlich hat. Sorgt die Vererbung negativer Erfahrungen nur für zusätzlichen Schaden in der nächsten Generation? In neueren Untersuchungen verschob sich deshalb der Fokus in Richtung auf die eventuell höhere Stressresilienz der nachfolgenden Generationen. „Solche Regulationsprozesse dürften ja ebendeshalb entstanden sein, weil sie das starre Konzept der Vererbung von immer gleichen Genen modifizieren, um eine sinnvolle, wenn nötig auch generationenübergreifende Anpassung an veränderte schwierige Umweltbedingungen zu erlauben.“ Bevor man allerdings über Medikamente beispielsweise gegen chronischen Stress nachdenken kann, müssen die dahinterliegenden Prozesse der vererbten Stressregulation weiter untersucht werden. Insofern sind hier Therapeutika das Fernziel und nicht der nächste Schritt.

Auf einem anderen Gebiet wird ein schnellerer therapeutischer Erfolg erwartet: bei der Alzheimer-Forschung. Bei Alzheimer-Patienten werden Gene unterdrückt, die für das Lernen zuständig sind. Im Tierversuch konnte bereits nachgewiesen werden, dass sich durch die medikamentöse Hemmung dieser Unterdrückung die kognitiven Leistungen besserten. Obendrein wurde nicht nur der Untergang der Nervenzellen gestoppt, sondern es bildeten sich sogar neue. Und ein weiterer erfolgversprechender Umstand ist, dass es bereits zugelassene ‚epigenetische’ Medikamente in der Krebstherapie gibt, die sich auch für neurodegenerative Krankheiten als geeignet herausstellen könnten.

Wir dürfen in jedem Fall gespannt sein, was das große Potential an neuen Erkenntnissen, das die Epigenetik verspricht, in Zukunft für einen Einfluss auf unser Denken und Leben haben wird!


Sliderfoto: Fairy DNA, Stuart Caie, CC BY 2.0

Stephanie Hanel

Stephanie Hanel is a journalist and author. Her enthusiasm for the people behind science grew out of her work as an online editor for AcademiaNet, an international portal that publishes profiles of excellent female scientists. She is an interested observer of new communication channels and narrative forms as well as a dedicated social media user and science slam fan.