Veröffentlicht 21. September 2016 von Susanne Dambeck
Zehn überraschende Fakten zu Alzheimer
„Mehr als ein Jahrhundert ist vergangen, seitdem Alois Alzheimer jene tödliche Krankheit beschrieb, die seinen Namen trägt. Doch das letzte neue Medikament ist vor 14 Jahren zugelassen worden“, konstatiert das aktuelle Buch von Hirnforscher Michael Wolfe aus Boston. Dabei verstehen Hirnforscher die molekularen Mechanismen hinter dieser schwer fassbaren Erkrankung immer besser, nur leider lassen sich diese Erkenntnisse selten in wirksame Therapien umsetzen.
Alzheimer ist eine neurodegenerative Erkrankung. Das bedeutet, dass die Zellen des Nervensystems nicht mehr richtig arbeiten können und nach und nach absterben: Eine Demenz ist die Folge. Die Betroffenen können sich nicht mehr selbst versorgen, leiden unter Verwirrtheit und Gedächtnisverlust. Im Endstadium können die Patienten kaum noch kauen, schlucken oder atmen. Man schätzt, dass Alzheimer für bis zu 70 Prozent aller Demenzerkrankungen verantwortlich ist. Das Gehirn von Alzheimerpatienten wirkt an typischen Stellen wie geschrumpft, deshalb werden Verfahren wie die volumetrische Magnetresonanztomographie und Positronen-Emmissions-Tomographie zur Diagnose verwendet.
Mikroskopisch sind zwei typische Alzheimer-Veränderungen im Gehirn besonders auffällig: Zum einen gibt es Ablagerungen des Proteins Beta-Amyloid zwischen den Nervenzellen, die deren Kommunikation behindern; diese nennt man auch ’senile Plaques‘. Zum anderen lagern sich Neurofibrillen des Proteins ‚Tau‘ innerhalb der Nervenzellen ab und zerstören diese von innen heraus. Man kann sich diese Fibrillen wie Knäuel aus Proteinfasern vorstellen.
1. Die Kosten der Demenz
Demenzerkrankungen gehören zu den Erkrankungen mit den höchsten Folgekosten, zumindest in entwickelten Ländern. Man schätzt, dass im Jahr 2015 insgesamt 46 Millionen Patienten weltweit von einer Demenz betroffen waren – diese Zahl könnte sich bis 2050 verdreifachen, Grund ist die weltweit steigende Lebenserwartung. Ein hohes Lebensalter ist der größte Risikofaktor für Alzheimer, ab einem Alter von 65 verdoppelt sich dieses Risiko alle fünf Jahre. Die Folgekosten werden laut World Alzheimer’s Report auf bis zu 800 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschätzt, die meisten Kosten entstehen durch Langzeitpflege; in diesen Zahlen ist die Pflegeleistung durch Angehörige häufig mit eingerechnet.
2. Alzheimer und Down-Syndrom
Die Plaques in den Gehirnen von Alzheimer-Patienten sind Ablagerungen von Beta-Amyloid-Peptiden, das sind kurze Proteinketten. Diese Peptide sind fehlerhaft gefaltet, weshalb manche Forscher Alzheimer als Proteinfehlfaltungserkrankung einordnen, worunter zum Beispiel auch die Creutzfeld-Jakob-Krankheit fällt. Diese Peptide entstehen beim Abbau des Proteins APP. Dieser Abbau geschieht durch zwei Proteinkomplexe (Gamma-Sekretase und Beta-Sekretase), aber Medikamente, die an dieser Stelle ansetzen, brachten bislang wenig Erfolg. Das Gen für APP befindet sich im menschlichen Genom auf Chromosom 21, deshalb haben Menschen mit Down-Syndrom, die drei Kopien dieses Gens besitzen, ein hohes Risiko, schon im Alter ab 40 Jahren an Alzheimer zu erkranken.
3. Übertragung von Mensch zu Mensch
Eine vielbeachtete Studie aus dem Jahr 2015 beschreibt, dass in einigen untersuchten Gehirnen von jung verstorbenen Creutzfeld-Jakob-Patienten die typischen Alzheimer-Veränderungen gefunden wurden. Nach einem Abgleich mit verschiedenen Kontrollgruppen, unter anderem Patienten mit anderen Prionen-Erkrankungen, kamen die Forscher schließlich zu dem Schluss, dass sich diese Patienten vor Jahrzehnten nicht nur mit den Creutzfeld-Jakob-Prionen infiziert hatten, als sie menschliche Wachstumshormone erhielten; sie infizierten sich offenbar gleichzeitig mit Alzheimer-Proteinen. Deshalb nimmt man an, dass Alzheimer in bestimmten Fällen ansteckend sein kann. Die Forscher suchen nach weiteren möglichen Übertragungswegen.
4. Genetische Risikofaktoren
„Ungefähr die Hälfte unseres Alzheimer-Risikos sind Dinge, die wir nicht kontrollieren können wie Alter oder Gene. Doch den Rest können wir zumindest teilweise kontrollieren – Lebensstilveränderungen senken das Risiko“, erklärt Jeff Cummings, Direktor des Zentrums für Gehirngesundheit an der Cleveland Clinic. (Mehr zum Thema Prävention unter Punkt 10.) Es gibt etliche Gene, bei denen ein Einfluss auf das Alzheimer-Risiko vermutet wird, aber es gibt nur ein bekanntes Risikogen: Es handelt sich um eine bestimmte genetische Variante eines Apolipoproteins namens APOE-e4. Wer Träger dieser Proteinvariante ist, hat im Vergleich zu seinen Altersgenossen ein erhöhtes Alzheimer-Risiko. Darüber hinaus fanden die Forscher eine Handvoll seltener Mutationen, die eine erbliche Alzheimer-Früherkrankung auslösen können. Betroffen sind hiervon aber nur wenige hundert Familien weltweit.
5. Alzheimer als Typ-3-Diabetes?
Diabetes und Fettleibigkeit, beide sind Risikofaktoren für Alzheimer: Wer im mittleren Erwachsenenalter stark übergewichtig ist, hat ein doppelt so hohes Risiko, im Alter zu erkranken. Insulin kann die Blut-Hirn-Schranke passieren und spielt im Gehirn eine wichtige Rolle sowohl für die Energieversorgung der Zellen als auch beim Speichern von Erinnerungen und in der ‚Abfallentsorgung‘ von Proteinen. Wenn ein Patient eine Typ-2-Diabetes entwickelt, werden nicht nur die Körperzellen zunehmend unempfindlich gegen Insulin, auch die Gehirnzellen werden insulinresistent. Deshalb bezeichnen manche Forscher Alzheimer als ‚Typ-3-Diabetes‘, dieser Begriff ist jedoch mehrdeutig. In klinischen Studien konnte bereits gezeigt werden, dass durch die Gabe eines Medikaments, das die Zellen wieder sensibel für Insulin macht, die kognitive Leistung von einigen Patienten verbessert werden konnte. Bei Mäusen wurden senile Plaques bereits mit Hilfe von Insulin verringert. Ein neuer Ansatz sind Insulin-Nasensprays, weil auf diesem Weg das Insulin fast direkt das Gehirn erreicht.
6. Immuntherapien
Eine klinische Studie mit dem Impfstoff AN-1792 musste 2002 abgebrochen werden, nachdem 18 von 200 Probanden schwere Gehirnentzündungen entwickelten. Der Impfstoff sollte das Immunsystem aktivieren, die Beta-Amyloid-Ablagerungen selbst zu bekämpfen. Als die Gehirne verstorbener Studienteilnehmer Jahre später untersucht wurden, fand man, dass die Impfung tatsächlich die meisten senilen Plaques entfernt hatte – doch der Verlust von Nervenzellen und damit die fortschreitende Demenz waren nicht gestoppt worden. Anscheinend reicht die Entfernung der Plaques alleine nicht aus, um die Krankheit zu bekämpfen. Eine Studie des Pharmakonzerns Pfizer mit Antikörpern scheiterte 2012 ebenfalls. Doch jetzt kommen gute Nachrichten aus der Schweiz: Nach einer einjährigen Behandlung mit dem Antikörper ‚Aducanumab‘ konnte der Abbau kognitiver Fähigkeiten deutlich verlangsamt werden, und sogar die meisten Plaques wurden entfernt.
7. Verfügbare Medikamente: kein großer Durchbruch
Die heute schon verfügbaren Alzheimer-Medikamente setzen nicht bei den senilen Plaques an, auch nicht bei den Neurofibrillen, sondern bei den sogenannten cholinergen Neuronen, deren Aktivität bei Alzheimerpatienten reduziert ist. Durch solche Medikamente, die das Enzym Acetylcholinesterase hemmen, bleibt der Botenstoff Acetylcholin länger im Gehirn, was die Kommunikation zwischen Nervenzellen leicht verbessert. Einer dieser Wirkstoffe wird häufig mit einem zweiten Wirkstoff kombiniert, der eine Übererregung des Gehirns durch den Botenstoff Glutamat verhindert, eine weitere Charakteristik der Alzheimerdemenz. Doch bereits 2008 wurde in Behandlungsrichtlinien festgehalten, dass diese Kombination zu einer „statistisch signifikanten, aber klinisch nur marginalen Verbesserung der kognitiven Leistung“ führt.
8. Was hat Alzheimer mit Herpes zu tun?
Studien aus Manchester zeigen einen erstaunlichen Zusammenhang zwischen senilen Plaques und viraler DNA von Herpes-simplex-Viren: Sowohl bei Gesunden als auch bei Alzheimer-Patienten enthalten die meisten Plaques diese Virus-DNA, wobei man bedenken muss, dass die Patientenhirne viel mehr Plaques aufweisen. Doch wenn man die gesamte Virusmenge im Gehirn analysiert, fällt auf, dass bei Gesunden nur 24 Prozent in Plaques vorkommen, bei Alzheimer-Patienten jedoch 72 Prozent. Es scheint, als würde es einen Zusammenhang zwischen Virenkonzentration in den Plaques und Alzheimer geben. Die Behandlung von entsprechenden Zellkulturen mit antiviralen Mitteln war vielversprechend. Es könnte also sein, dass eines Tages solche Mittel als eine Strategie unter mehreren in der Alzheimer-Therapie eingesetzt werden.
9. Harald zur Hausen: Die mögliche Rolle von Rinderviren
Die Ergebnisse aus Manchester passen erstaunlich gut zum neuesten Forschungsfeld von Nobelpreisträger Harald zur Hausen: Seine These lautet, dass neurodegenerative Erkrankungen durch eine Kombination von Rinderviren, mit denen wir uns alle in der frühen Kindheit durch Milch- und Fleischkonsum anstecken, mit Herpesviren entstehen. Wenn nun eine Gehirnzelle mit beiden Virentypen infiziert ist und beispielsweise ein Vitamin-D-Mangel die Herpesviren reaktiviert, verwandeln sich diese Zellen in eine Art ‚Vermehrungsfabrik‘ für Rinderviren-DNA. Gefunden hat sein Team vor allem DNA-Partikel, keine ganzen Viren. Diese starke Vermehrung ruft eine Immunreaktion hervor, die zu einer chronischen Entzündung führt. Sein Team befasst sich vor allem mit Multipler Sklerose, einer chronisch-entzündlichen Krankheit. Doch er vermutet, dass ähnliche Prozesse auch bei Parkinson oder Alzheimer eine Rolle spielen könnten. Dafür spricht zum Beispiel, dass Rheumapatienten, die mit entzündungshemmenden Medikamenten behandelt werden, ein deutlich verringertes Alzheimer-Risiko haben. Im Hinblick auf MS empfiehlt zur Hausen zunächst eine Impfung für Rinder, damit solche frühen Infektionen der Menschen gar nicht erst erfolgen.
10. Pävention von Alzheimer
Wie Jeff Cummings aus Cleveland sagte: Es gibt gewisse Möglichkeiten, dem Ausbruch einer Alzheimer-Demenz vorzubeugen. Zugegebenermaßen klingen einige dieser Vorschläge ziemlich ähnlich wie die Ratschläge, die jeder Hausarzt hunderte Male am Tag gibt: Essen Sie weniger tierische Fette, weniger Zucker, weniger Fast-Food; achten Sie auf Ihr Gewicht, lassen Sie Ihren Bluthochdruck und Ihre Insulinresistenz behandeln, etc. Bei Alzheimer gibt es jedoch weitergehende Empfehlungen: Spielen Sie spezielle Computerspiele, treffen Sie sich mit Gleichgesinnten, spielen Sie Brett- oder Kartenspiele, legen Sie Puzzle – jede soziale Aktivität und jedes potentielle Brain-Jogging hilft, Ihre Hirnzellen gegen den schleichenden Verfall zu schützen. Auch das Lernen einer Fremdsprache kann den Ausbruch einer Alzheimer-Demenz verzögern, zwei- und mehrsprachige Menschen erkranken im Schnitt mehrere Jahre später an Demenz als einsprachige. All diese Aktivitäten scheinen die sogenannte kognitive Reserve zu mobilisieren, die in der Lage ist, die Auswirkungen einer frühen Demenz abzufangen. Und dass Prävention hilft, zeigen die Daten einer aktuellen Studie.
Es gibt noch viele weitere, interessante Forschungsansätze: Zum Beispiel vermag ein Krebsmedikament, das den programmierten Zelltod stoppt, die senilen Plaques in Mäusehirnen zu verringern und gleichzeitig die kognitive Leistungsfähigkeit dieser Mäuse zu verbessern. Oder eine Studie von 2015 fand überraschenderweise Pilzmaterial in den Gehirnen verstorbener Alzheimer-Patienten. Ist diese tückische Krankheit, die sich so hartnäckig einer einfachen Beschreibung entzieht, am Ende – unter anderem – eine Pilzinfektion?
Zurzeit werden allein in den USA um die 90 Medikamente gegen Alzheimer klinisch getestet, im Jahr 2014 gab es 315 offene Klinische Studien. In diesem Artikel konnte also nur ein Bruchteil der aktuellen Forschungsansätze vorgestellt werden – aber wir sind sehr gespannt auf neue, überraschende Ergebnisse: Die Alzheimer-Forschung hat endlich Fahrt aufgenommen.