Veröffentlicht 6. August 2015 von Susanne Dambeck
Würmer kitzeln leicht gemacht
Manchmal bekommt man, was man will, sogar in der Wissenschaft. Doch alles hat seinen Preis. Martin Chalfie wollte unveröffentlichte Ergebnisse seiner Ehefrau Tulle Hazelrigg für eine Publikation in Science verwenden, höflich fragte er sie um Erlaubnis. Die humorige Antwort kam schriftlich: Ja, er dürfe ihre Ergebnisse verwenden, aber es gäbe da drei Bedingungen: „Zwei Monate lang jeden Samstagmorgen Kaffeekochen, und zwar vor 8:30 Uhr; einen Monat jeden Abend den Müll hinunter tragen; sowie die Zubereitung eines französischen Dinners.“ Chalfie zeigte diesen Brief in seinem Nobelpreis-Vortrag (Folie Nr. 17).
Zwar wissen wir nicht, wie gewissenhaft Chalfie diese Bedingungen erfüllt hat, sicher ist jedoch, dass er die Ergebnisse seiner Frau, die wie er eine Professur an der Columbia University hat, für seinen Artikel verwenden durfte. Dieser erschien im Jahr 1994 unter dem Titel „Green fluorescent protein as a marker for gene expression” und gehört zu den zwanzig meistzitierten Texten in den Fächern Molekularbiologie und Genetik. 14 Jahre später bekam Martin Chalfie den Nobelpreis für Chemie für die Entdeckung und Entwicklung der grün fluoreszierenden Proteine, kurz GFP, zusammen mit Osamu Shimomura und Robert Y. Tsien. Heute werden GFP großflächig als Reportergene eingesetzt, sie zeigen Wissenschaftlern also an, ob eine bestimmte Genexpression stattgefunden hat, Verwendung finden sie auch als Biosensoren und Biomarker. Sie haben zudem die hochauflösende Mikroskopie revolutioniert.
Es ist inspirierend, Martin Chalfie zuzuhören, weil er von seiner eigenen Forschung begeistert ist, auch wieder bei der Nobelpreisträgertagung 2015 in Lindau. Er sprach zwar über seinen Lieblings-Modellorganismus, den Fadenwurm C. elegans, aber nicht in Zusammenhang mit GFP. In den vergangenen Jahren haben sich Chalfie und sein Team den Tastsinn des Würmchens vorgenommen. Sie haben zunächst Würmer untersucht, deren Tastsinn mutiert ist. So fanden sie mit der Zeit über 500 mögliche Mutationen an den 17 Genen, die zusammen die sechs unterschiedlichen Neuronen bilden, die wiederum den Tastsinn von C. elegans ausmachen.
Schmunzelnd fährt Chalfie fort: „Sie fragen sich jetzt bestimmt, mit welch hochentwickeltem Instrument man den Tastsinn bei Würmern untersucht, die nur einen Millimeter lang sind.“ Tja, dieses Instrument ist ein gewöhnlicher Zahnstocher, an dessen Spitze ein Augenbrauenhaar klebt. Diese Haare eignen sich besonders gut, weil sie meist ungeschnitten sind und sich deshalb gleichmäßig verjüngen. Man könnte auch eine menschliche Wimper benutzen, aber das Ausreißen von Wimpern ist laut Chalfie meist zu schmerzhaft (für den Menschen, nicht den Wurm). Chalfies Team fand heraus, dass fünf dieser 17 Gene für die Entwicklung der Neuronen zuständig sind, zwölf kümmern sich um das einwandfreie Funktionieren dieser Zellen.
Ein Beispiel: Die beiden Gene MEC-4 und MEC-10 bilden zusammen den Membrankanal, der sich öffnet, wenn die Zelle berührt wird – so funktioniert der Tastsinn auf molekularer Ebene. Der mechanische Stimulus der Berührung wird an diesem Kanal also in elektrochemische Aktivität umgewandelt, und in dieser Form kann ein funktionierendes Nervensystem die Information „Berührung“ weiterleiten.
Ein echter Forscher ruht sich ungern auf seinen Erkenntnissen aus. Zu erforschen, wie der Tastsinn entsteht und funktioniert, ist das eine. Aber jeder weiß, dass man Sinne auch verändern kann. „Wenn Sie von einem dunklen in einen hellen Raum gehen, passen sich Ihre Augen an“, erklärte Chalfie in Lindau. Als nächstes überraschte er die Zuhörer mit folgender Aussage: „Sie alle spüren aktuell Ihre Kleidung nicht, bis ich das Wort Kleidung sage, weil sie daran gewöhnt sind. Aber sobald ich das Zauberwort sage, werden Sie anfangen, in Ihrer Kleidung zu zappeln, werden diese spüren – und erleichtert sein, dass Sie etwas anhaben.“ Die Zuhörer lachen. „Das nennt man die Umkehr des Gewöhnungseffekts.“ Und ich muss sagen, dass ich noch nie so viele Menschen in einem Raum gesehen habe, die angestrengt versuchten, nicht zu zappeln.
Aber wie funktioniert diese Veränderung der Sinne auf molekularer Ebene? Martin Chalfie hatte eine „brillante Idee“, er wollte Würmer mit Mutationen finden, die diese hochsensibel für mechanische Reize machen. Also kaufte er Autolautsprecher und setzte die Petrischalen einer leichten Vibration aus: Er wollte so die Wahrnehmungsschwelle der Würmchen finden. „Das hat überhaupt nicht funktioniert!“, gibt er lachend zu. Nun standen die ganzen Lautsprecher im Labor herum. Ein Doktorand, Xiaoyin Chen, hatte eine andere Idee. Er beschallte die Petrischalen über Stunden mit lauten Bässen. (Achtung, das macht Sie bei Ihren Kollegen unbeliebt!) Zunächst gewöhnten sich die Tierchen an den Lärm, nach einer Weile wurden Sie jedoch wieder empfindlicher, allerdings nur vorne am Körper.
Wenn man per Hand an eine Petrischale klopft, kriechen gesunde Würmchen rückwärts, wenn allerdings die vordere Sensitivität reduziert ist, kriechen sie nach vorne. Da es kaum wahrscheinlich ist, dass C. elegans in freier Wildbahn stundenlang mit Autolautsprechern traktiert werden, muss man sich fragen: Warum zeigt ihre Reaktion ein so kompliziertes Muster? Nach einigem Nachdenken kamen die Forscher darauf, dass das einzige rhythmische Beben in der Natur, das die Würmer stundenlang fühlen, ausgiebige Regenfälle sind. „Der wichtigste natürliche Feind der Würmer ist nun ein Pilz, der sie mit einer Art Lasso einfängt und festhält. Nach einem Regen heißt die Devise also: Seid extrem wachsam und kriecht bitteschön rückwärts!“, erklärt Chalfie. Chen hat darüber hinaus die molekularen Mechanismen der Gewöhnung entschlüsselt, und siehe da: verschiedene Insuline spielen hier eine entscheidende Rolle.
Chalfie fasst diese Ergebnisse zusammen: „Wir dachten, dass wir das Nervensystem ziemlich gut kennen. Und plötzlich stellten wir fest, dass es durch diese verschiedenen hormonellen Systeme reguliert wird. Ich nenne es das Schatten-Nervensystem.“ Chalfie ist offensichtlich von seinem Forschungsgegenstand fasziniert, geradezu elektrisiert, ebenso von den vielen offen Fragen: „Was ist dieses Schatten-Nervensystem genau? Wie funktioniert das Zusammenspiel mit dem bekannten Nervensystem, also mit den Neuronen, Synapsen und so weiter? Und gibt es noch weitere Veränderungs-Mechanismen?“ Ferner treibt ihn die Frage um: „Wie wird Gewöhnung erreicht und plötzlich wieder aufgehoben? Erinnern Sie sich, wie ich ‚Kleidung‘ sagte – wie Sie sofort wussten, dass sie Kleidung tragen?“ Eine Gewöhnung kann also blitzschnell aufgehoben werden. Das bringt uns schließlich zur wichtigsten Frage: „Wie genau funktioniert der Tastsinn beim Menschen?“
Am Ende seines Vortrags deutet Chalfie eine denkbare praktische Anwendung seiner aktuellen Forschung an. Er erklärt, dass die allerersten Symptome einer Typ-II Diabetes-Erkrankung häufig Taubheitsgefühle in Fingern und Zehen sind, und diese sogenannte diabetische Neuropathie ist wiederum weltweit die häufigste Ursache für Amputationen. Die Erkenntnis, dass Insuline eine entscheidende Rolle für einen funktionierenden Tastsinn spielen, könnte die Behandlung dieser Patienten in Zukunft revolutionieren.
Martin Chalfie ist ein regelmäßiger und gern gesehener Besucher in Lindau. Er nahm schon an fünf Nobelpreisträgertagungen teil und hielt jeweils einen Vortrag. Lesen Sie auch seinen Essay für das 65. Meeting 2015 über „Multidisziplinarität“. Hier geht es zu seinem virtuellen „Nobel Lab 360°“.Manchmal bekommt man, was man will, sogar in der Wissenschaft. Doch alles hat seinen Preis. Martin Chalfie wollte unveröffentlichte Ergebnisse seiner Ehefrau Tulle Hazelrigg für eine Publikation in Science verwenden, höflich fragte er sie um Erlaubnis. Die humorige Antwort kam schriftlich: Ja, er dürfe ihre Ergebnisse verwenden, aber es gäbe da drei Bedingungen: „Zwei Monate lang jeden Samstagmorgen Kaffeekochen, und zwar vor 8:30 Uhr; einen Monat jeden Abend den Müll hinunter tragen; sowie die Zubereitung eines französischen Dinners.“ Chalfie zeigte diesen Brief in seinem Nobelpreis-Vortrag (link).
Zwar wissen wir nicht, wie gewissenhaft Chalfie diese Bedingungen erfüllt hat, sicher ist jedoch, dass er die Ergebnisse seiner Frau, die wie er eine Professur an der Columbia University hat, für seinen Artikel verwenden durfte. Dieser erschien im Jahr 1994 unter dem Titel „Green fluorescent protein as a marker for gene expression” und gehört zu den zwanzig meistzitierten Texten in den Fächern Molekularbiologie und Genetik. 14 Jahre später bekam Martin Chalfie den Nobelpreis für Chemie für die Entdeckung und Entwicklung der grün fluoreszierenden Proteine, kurz GFP, zusammen mit Osamu Shimomura und Robert Y. Tsien. Heute werden GFP großflächig als Reportergene eingesetzt, sie zeigen Wissenschaftlern also an, ob eine bestimmte Genexpression stattgefunden hat, Verwendung finden sie auch als Biosensoren und Biomarker. Sie haben zudem die hochauflösende Mikroskopie revolutioniert.
Es ist inspirierend, Martin Chalfie zuzuhören, weil er von seiner eigenen Forschung begeistert ist, auch wieder bei der Nobelpreisträgertagung 2015 in Lindau. Zwar sprach er wieder über seinen Lieblings-Modellorganismus, den Fadenwurm C. elegans, aber nicht in Zusammenhang mit GFP. In den vergangenen Jahren haben sich Chalfie und sein Team den Tastsinn des Würmchens vorgenommen. Sie haben sich zunächst Würmer vorgenommen, deren Tastsinn mutiert ist. So fanden sie mit der Zeit über 500 mögliche Mutationen an den 17 Genen, die zusammen die sechs unterschiedlichen Neuronen bilden, die wiederum den Tastsinn von C. elegans ausmachen.
Schmunzelnd fährt Chalfie fort: „Sie fragen sich jetzt bestimmt, mit welch hochentwickeltem Instrument man den Tastsinn bei Würmern untersucht, die nur einen Millimeter lang sind.“ Tja, dieses Instrument ist ein gewöhnlicher Zahnstocher, an dessen Spitze ein Augenbrauenhaar klebt. Diese Haare eignen sich besonders gut, weil sie meist ungeschnitten sind und sich deshalb gleichmäßig verjüngen. Man könnte auch eine menschliche Wimper benutzen, aber das Ausreißen von Wimpern ist laut Chalfie meist zu schmerzhaft (für den Menschen, nicht den Wurm). Chalfies Team fand heraus, dass fünf dieser 17 Gene für die Entwicklung der Neuronen zuständig sind, zwölf kümmern sich um das einwandfreie Funktionieren dieser Zellen.
Ein Beispiel: Die beiden Gene MEC-4 und MEC-10 bilden zusammen den Membrankanal, der sich öffnet, wenn die Zelle berührt wird – so funktioniert der Tastsinn auf molekularer Ebene. Der mechanische Stimulus der Berührung wird an diesem Kanal also in elektrochemische Aktivität umgewandelt, und in dieser Form kann ein funktionierendes Nervensystem die Information „Berührung“ weiterleiten.
Ein echter Forscher ruht sich ungern auf seinen Erkenntnissen aus. Zu erforschen, wie der Tastsinn entsteht und funktioniert, ist das eine. Aber jeder weiß, dass man Sinne auch verändern kann. „Wenn Sie von einen dunklen in einen hellen Raum gehen, passen sich Ihre Augen an“, erklärte Chalfie in Lindau. Als nächstes überraschte er die Zuhörer mit folgender Aussage: „Sie alle spüren aktuell Ihre Kleidung nicht, bis ich das Wort Kleidung sage, weil sie daran gewöhnt sind. Aber sobald ich das Zauberwort sage, werden Sie anfangen, in Ihrer Kleidung zu zappeln, werden diese spüren – und erleichtert sein, dass Sie etwas anhaben.“ Die Zuhörer lachen. „Das nennt man die Umkehr des Gewöhnungseffekts.“ Und ich muss sagen, dass ich noch nie so viele Menschen in einem Raum gesehen habe, die angestrengt versuchten, nicht zu zappeln.
Aber wie funktioniert diese Veränderung der Sinne auf molekularer Ebene? Martin Chalfie hatte eine „brillante Idee“, er wollte Würmer mit Mutationen finden, die diese hochsensibel für mechanischen Reizen machen. Also kaufte er Autolautsprecher und setzte die Petrischalen einer leichten Vibration aus: Er wollte so die Wahrnehmungsschwelle der Würmchen finden. „Das hat überhaupt nicht funktioniert!“, gibt er lachend zu. Nun standen die ganzen Lautsprecher im Labor herum. Ein Doktorand, Xiaoyin Chen, hatte eine andere Idee. Er beschallte die Petrischalen über Stunden mit lauten Bässen. (Achtung, das macht Sie bei Ihren Kollegen sehr unbeliebt!) Zunächst gewöhnten sich die Tierchen an den Lärm, nach einer Weile wurden Sie jedoch wieder empfindlicher, allerdings nur vorne am Körper.
Wenn man per Hand an eine Petrischale klopft, kriechen gesunde Würmchen rückwärts, wenn allerdings die vordere Sensitivität reduziert ist, kriechen sie nach vorne. Da es kaum wahrscheinlich ist, dass C. elegans in freier Wildbahn stundenlang mit Autolautsprechern traktiert werden, muss man sich fragen: Warum zeigt ihre Reaktion ein so kompliziertes Muster? Nach einigem Nachdenken kamen die Forscher darauf, dass das einzige rhythmische Beben in der Natur, das die Würmer stundenlang fühlen, ausgiebige Regenfälle sind. „Der wichtigste natürliche Feind der Würmer ist nun ein Pilz, der sie mit einer Art Lasso einfängt und festhält. Nach einem Regen heißt die Devise also: Seid extrem wachsam und kriecht bitteschön rückwärts!“, erklärt Chalfie. Chen hat darüber hinaus die molekularen Mechanismen der Gewöhnung entschlüsselt, und siehe da: verschiedene Insuline spielen hier eine entscheidende Rolle.
Chalfie fasst diese Ergebnisse zusammen: „Wir dachten, dass wir das Nervensystem ziemlich gut kennen. Und plötzlich stellten wir fest, dass es durch diese verschiedenen hormonellen Systeme reguliert wird. Ich nenne es das Schatten-Nervensystem.“ Chalfie ist offensichtlich von seinem Forschungsgegenstand fasziniert, geradezu elektrisiert, ebenso von den vielen offen Fragen: „Was ist dieses Schatten-Nervensyste genau? Wie funktioniert das Zusammenspiel mit dem bekannten Nervensystem, also mit den Neuronen, Synapsen und so weiter? Und gibt es noch weitere Veränderungs-Mechanismen?“ Ferner treibt ihn die Frage um: „Wie wird Gewöhnung erreicht und plötzlich wieder aufgehoben? Erinnern Sie sich, wie ich ‚Kleidung‘ sagte – wie Sie sofort wussten, dass sie Kleidung tragen?“ Eine Gewöhnung kann also blitzschnell aufgehoben werden. Das bringt uns schließlich zur wichtigsten Frage: „Wie genau funktioniert der Tastsinn beim Menschen?“
Am Ende seines Vortrags deutet Chalfie eine denkbare praktische Anwendung seiner aktuellen Forschung an. Er erklärt, dass die allerersten Symptome einer Typ-II Diabetes-Erkrankung häufig Taubheitsgefühle in Fingern und Zehen sind, und diese sogenannte diabetische Neuropathie ist wiederum weltweit die häufigste Ursache für Amputationen. Die Erkenntnis, dass Insuline eine entscheidende Rolle für einen funktionierenden Tastsinn spielen, könnte die Behandlung dieser Patienten in Zukunft revolutionieren.