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Veröffentlicht 29. Juni 2010 von Markus Pössel

„Uns hat das einfach nicht losgelassen“

Rike Müller-Werkmeister ist nicht nur eine der "Young Researchers", die sich beim Lindauer Treffen untereinander und mit den Nobelpreisträgern treffen, sondern auch eine von denen, die dafür sorgen, dass den Lindauern nicht die Nachwuchsforscher ausgehen. Als Rike vor 9 Jahren das erste Mal an Jugend forscht teilnahm, war sie sofort hin und weg — nicht nur vom Forschen, sondern auch von der Atmosphäre des Wettbewerbs und von den vielen anderen Teilnehmern, die ihre Begeisterung für Wissenschaft und Technik teilten. Wenig später war sie bereits im Jungforschernetzwerk juFORUM e.V. aktiv und noch etwas später Vorsitzende des Vereins. Das juFORUM wurde von Jugend forscht-Teilnehmer gegründet, die nach dem Wettbewerb den Kontakt zueinander nicht verlieren wollten, ist aber längst auf viel breiterer Front aktiv, und damit wären wir beim Nachschub für Lindau: Unter anderem gehen die Mitglieder in Schulen, um dort Schüler (und betreuende Lehrer!) für die Teilnahme an Jugend forscht zu motivieren.

Rike Müller-WerkmeisterDas alles erzählt mir Rike am Sonntag abend, direkt nach der Eröffnungsveranstaltung, und wie sich herausstellt, ist das immer wiederkehrende Thema unseres Gesprächs die Hartnäckigkeit. Gemeint sind damit nicht die durchaus hartnäckigen Vuvuzela-Klänge im Hintergrund, sondern es geht um Folgendes: Sowohl Jugend forscht als auch die Wissenschaft allgemein haben mit dem Vorurteil zu kämpfen, Forschung sei nur etwas für besonders geniale Mitmenschen (und, automatisches Korollar, daher schon gleich einmal gar nichts für einen selbst). Dass Genialität hilft, ist natürlich nicht falsch, lenkt aber den Blick ab von einer mindestens ebenso wichtigen Eigenschaft, eben der Hartnäckigkeit. Das erzählen Rike und ihre Mitstreiter auch den Schülern, wenn es um Jugend forscht geht: Dass die Schüler keine kleinen Einsteins sein müssen, sondern dass es bei ihnen selbst anders war. Am Anfang nur eine kleine Frage, die sie hatten. Und dann hat sie diese Frage nicht losgelassen, und am Ende war fast nebenbei ein richtiges Forschungsprojekt daraus geworden. Allerdings nur, wenn Durchhaltevermögen im Spiel ist, und da sieht Rike die wichtigste Rolle der betreuenden Lehrer: Den Schülern klar zu machen, dass es sich lohnt, dran zu bleiben und nicht schon nach einer Woche das Handtuch zu werfen, und sie zu ermutigen, dass aus der Frage, die der Schüler verfolgt, etwas werden kann. In den Vorträgen für Schüler und den Seminaren für Lehrer, die juFORUM im Rahmen seines Mentorenprogramms organisiert, wird diese Aussage dann noch durch viele Beispiele unterfüttert — Beispiele für das, was Schüler geforscht haben, aber eben auch dafür, wie Lehrer erfolgreich zu Katalysatoren für Projekte ihrer Schüler geworden sind.

Auf Rikes eigene Hartnäckigkeit waren wir dabei quasi automatisch gekommen, als sie beiläufig erzählte, wie sie und ihre Ko-Organisatoren bei der ersten Mentoren-Informationsveranstaltung, von den relativ wenigen Rückmeldungen enttäuscht, alle angeschriebenen Schulen einzeln angerufen und persönlich zur Teilnahme animiert hatten. Diese Hartnäckigkeit hat Rike auch nötig, denn mit ihren eigenen Forschungen, mittlerweile als Doktorandin in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Jens Bredenbeck am Institut für Biophysik der Goethe-Universität Frankfurt hat sie sich ein — aber fangen wir etwas anders an: Ich bin immer automatisch ein wenig skeptisch, wenn ich das Stichwort "interdisziplinär" höre oder lese, aber bei diesem speziellen Forschungsthema geht es gar nicht anders: Wer die Dynamik von Proteinen erforschen will, muss natürlich zum einen die Chemie der molekularen Minimaschinen kennen und wissen, um welche Molekülstrukturen es da geht. Wer zum Erforschen anspruchsvolle physikalische Methoden verwendet, muss wissen, wie die zugrundeliegende Physik funktioniert, um Experimente richtig zu planen und Ergebnisse richtig zu interpretieren zu können. In diesem Falle geht es um Spektroskopie, genauer: um multidimensionale Spektroskopie. Ein Beispiel ist die Kernspinresonanzspektroskopie, bekannt durch ihren medizinischen Cousin, die Kernspintomographie. In Rikes Fall geht es um das analoge, aber weit jüngere Verfahren der zweidimensionalen Infrarot-Spektroskopie. Dabei werden ein einem Molekül, z.B. in einem Protein, chemische Bindungen zum Schwingen angeregt.  Daraus, wie das Protein Infrarotstrahlung absorbiert — und das Absorptionsverhalten kann sich, wenn im Protein etwas passiert, von einer Billionstel Sekunde auf die andere ändern! — kann man Rückschlüsse auf die ablaufenden dynamischen Prozesse ziehen, die typischerweise eng mit der Funktion des Proteins zusammenhängen.

Das Problem: Viele verschiedene ähnliche Bausteine im Protein, die bei diesem Verfahren nahezu identische Signale aussenden, gerade so wie eine unübersichtliche Menge von Menschen, von denen jeder "hier! hier! hier!" schreiet. Die Lösung: Molekularbiologie und Gentechnik. Man ersetze denjenige Baustein, der einen interessiert, durch einen ähnlichen Baustein, der in der Natur nicht vorkommt. Dieser Marker-Baustein ist damit etwas ganz besonderes, und lässt sich auch bei der 2D-IR-Spektroskopie eindeutig identifizieren, gerade so, als hätten wir in unsere Menschenmenge einen Franzosen eingeschleust, der dann eben nicht "Hier, hier!" sondern "Ici, ici!" schreit.

Die Belohnung: Mit diesem Verfahren lassen sich Veränderungen der Struktur des Moleküls oder auch der Fluss von Energie verfolgen, und das auf einige billionstel Sekunden genau oder sogar noch genauer. Solche Veränderungen wiederum sind der Schlüssel dazu, wie Proteine ihre Aufträge als molekulare Maschinen ausführen. Das ist am Ende auch für die Medizin hochinteressant. Erst seit kurzem, und auch noch nicht in Rikes eigenem Projekt; sie erzählte aber ganz begeistert davon, gerade neulich einen Vortrag gehört zu haben, in dem eine Forschergruppe mit 2D-IR-Spektroskopie Neues über die veränderten Proteine in Bauchspeicheldrüsen-Zellen herausgefunden habe, die bei Diabetes auftreten — Ablagerungen, wie sie auch bei anderen Krankheiten eine Rolle spielen, etwa bei Alzheimer.

Rike hat auf diese gründliche Interdisziplinarität jedenfalls mit — wie sollte es anders sein: Hartnäckigkeit reagiert. Ihr Diplom hatte sie in Biochemie gemacht, aber währenddessen bereits gemerkt, dass sie für das, was sie interessierte, weitergehende Kenntnisse in Physik brauchen würde. Jetzt ist sie jedenfalls eine Rarität: Eine Studentin, die zeitgleich ihre Doktorarbeit in Physik schreibt und Physik auf Bachelor studiert.

Von den Lindauer Treffen hatte Rike bereits vor längerer Zeit gehört, und nachdem sich die Lindauer Einladungen dann in den letzten Jahren zu einem ihrer Mitdoktoranden und dann zu ihrem Mitbewohner vorgearbeitet hatten, war sie für 2010 — für sie überraschend — von ihrem Fachbereich vorgeschlagen worden. Hauptziel für Lindau? Als erstes nennt sie die Möglichkeit, mit vielen anderen interessanten jungen Wissenschaftlern zu diskutieren und dabei Anregungen für die eigene Forschung und neue Ideen mitzunehmen — im Hintergrund schwingt bei diesen Aussagen eindeutig noch die Jugend forscht-Erfahrung mit. Zweitens, natürlich, die Nobelpreisträger: Wie die zu ihrer Forschung gekommen sind, was sie angetrieben hat und: "Warum sind die hartnäckig und begeistert geblieben?"

Besonders gespannt ist sie auf Richard Ernst, zu dem sie gleich eine ganze Reihe von Querverbindungen hat: Die Forschung zur 2D-IR-Spektroskopie folgt, mit zeitlichem Abstand von einigen Jahrzehnten, der Forschung zur Kernspinresonanz, für die Ernst 1991 seinen Chemie-Nobelpreis erhielt, und Ernst hatte bereits vor rund 30 Jahren vorhergesagt, welche Möglichkeiten sich dort im Infrarot ergeben sollten — die betreffende Arbeit ist denn auch immer Quellenangabe Nr. 1 in den Fachartikeln, die Rike und ihre Kollegen schreiben. Eine persönlichere Verbindung: Vieles von dem, was sie heute kann, hatte Rike als Werkstudentin bei Sanofi-Aventis gelernt, und ihr Betreuer war ein ehemaliger Doktorand von Ernst gewesen — und hat viel von seinem Doktorvater erzählt. Insofern ist Rike sehr gespannt auf Vortrag von und Diskussion mit Ernst am Mittwoch um 14:30 Uhr — und hofft darauf, dabei auch persönlich mit Ernst reden zu können. Ein Ziel, dass sie, wenn mich nicht alles täuscht, mit der nötigen Hartnäckigkeit und Begeisterung verfolgen wird.

 

P.S.: Das Deutsche Jungforschernetzwerk juFORUM e.V. feiert vom 14. bis 17. Oktober 2010 in Frankfurt seinen 10. Geburtstag – mit einem Symposium, zu dem Studenten und Doktoranden aus allen natur- und ingenieurswissenschaftlichen Fächern herzlich eingeladen sind.

Markus Pössel