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Veröffentlicht 9. Juli 2010 von Markus Pössel

Supramolekular fesselnd: Jean-Marie Lehn

Der Vortrag von Jean-Marie Lehn (Chemie 1987) war ein schönes Beispiel für die Faszinationskraft der Wissenschaft. Soweit ich mich erinnere, kam kein einziger Witz darin vor. Wenn Zeichnungen dabei waren, waren sie zumeist recht einfach. Viele der Folien zeigten einfach nur Text. Ich erinnere keinerlei persönliche Anekdoten aus dem Nobelpreisträgerleben. Und erschwerend kommt hinzu: Chemie finde ich im Vergleich mit Physik und Biologie eher wenig interessant. Dafür, dass mich Lehns Vortrag so gefesselt hat wie kaum ein anderer des Lindauer Treffens, kann man daher nicht die Äußerlichkeiten verantwortlich machen.

Was Lehn geboten hat, war schlicht spannende Wissenschaft. (Zugegeben: der Umstand, dass ich vorher so gut wie nichts über supramolekulare Chemie wusste, wird ihm das in meinem Falle erleichtert haben.)

Jean-Marie Lehn bei seinem Vortrag am Donnerstag, 1.7.2010Es geht um chemische Strukturen auf dem halben Wege zur Biologie, um Schlüssel-Schloss-Kombinationen (wie bei Arzneien, deren Wirkstoffe an bestimmte Rezeptoren binden) und komplexe Strukturen, die sich spontan zusammenfinden. Nicht, und das war das Neue für mich, direkt an der Biologie orientiert, sondern vom Standpunkt des Chemikers aus gesehen: nicht, um lebende Organismen zu erklären, sondern um zu schauen, welche interessanten Stoffe und Verbindungen sich denn auf diese Weise erzeugen lassen. In gewisser Weise handelt es sich um eine molekulare Form der Bionik, bei der allerdings nicht die makroskopischen Naturphänomene nachgeahmt werden (die rauhe, strömungsfreundliche Haut der Haie als Vorbild für Schiffsrümpfe, Kletten als Vorbild des Klettverschlusses) sondern mikroskopische Strukturen und Eigenschaften lebender Wesen: das schon erwähnte Schlüssel-Schloss-Prinzip, allgemeiner die Wichtigkeit der Form großer Moleküle, die Selbstorganisation bestimmter Strukturen. Kann man beispielsweise auch ohne DNA eine Doppelhelix bauen?

Die neuartigen Strukturen haben dabei natürlich auch Potenzial für nützliche Anwendungen: Lehn hatte Bilder einer Art "selbstheilenden Folie" mitgebracht, und bestimmte Gitter, die er zeigte, drängen sich geradezu als Speichermedien auf.

Ich merke beim Schreiben dieses Textes, dass ich nicht tief genug in der Materie stecke, um mit meiner Beschreibung weiter in die Einzelheiten zu gehen. Auch ein noch so faszinierender Vortrag macht den Zuhörer eben nicht instantan zum Experten; seine wichtigste Funktion besteht darin, Interesse zu wecken (ich habe mir jedenfalls vorgenommen, gleich mal etwas im Web nach supramolekularer Chemie zu stöbern, sobald ich mit diesem Blogbeitrag fertig bin).

Für mich als jemanden, der sich für Wissenschaftskommunikation interessiert, bleibt als Lehre denn auch nicht so sehr der Inhalt des Vortrages, sondern die beruhigende Bestätigung, dass Wissenschaft unter geeigneten Umständen ganz alleine ihre Faszinationskraft entfalten kann. Ohne persönliche Anekdoten oder mitreissende Persönlichkeiten (beim diesjährigen Lindauer Treffen fällt mir in dieser Kategorie spontan Oliver Smithies ein). Ohne Show. Ohne atemberaubend schöne Bilder und Animationen (eine Stunde nach Lehn: John E. Walker und die ATP-Synthase; einige Beispiele hier). Sondern einfach nur durch die Kraft ihrer Ideen.

Markus Pössel