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Veröffentlicht 24. November 2016 von Susanne Dambeck

Physiknobelpreis 2016: „Seltsame und erstaunliche Dinge“

Der berühmte Anruf aus Stockholm, der ihr Forscherleben für immer verändert, erreicht die Betroffenen in ganz unterschiedlichen Situationen: Bruce Beutler wurde aus dem Bett geholt, Hiroshi Amano saß im Flugzeug und verpasste deshalb den Anruf. Michael Kosterlitz seinerseits nahm den Anruf von Adam Smith von Nobel Media in einer Tiefgarage in Helsinki entgegen, er war gerade auf dem Weg zum Mittagessen. Seine spontane Reaktion war: Schweigen. Jeder Zuhörer des Gesprächmitschnitts denkt: Die Telefonverbindung ist also wirklich so schlecht wie Kosterlitz angedeutet hatte. Dann: „Jesus. That’s incredible… that’s amazing!“ Mit dieser Nachricht hatte er nicht gerechnet.

 

 

Zwei Wochen nach dieser Überraschung hielt Kosterlitz einen Vortrag über die Forschung, für die er den Nobelpreis erhalten hatte. Er lehrt zurzeit in Finnland an der Aalto Universität bei Helsiniki, normalerweise ist er Professor an der Brown University in Providence, Rhode Island. In seinem Vortrag beschreibt er nun, wie es zu den Entdeckungen kam. Zunächst forschte er an der Universität Turin, er war dort mit komplizierten Berechnungen in der theoretischen Physik befasst, als ihm eine Stellenanzeige der Universität Birmingham in die Hände fiel. Er wurde dort Postdoc, hatte aber „die Schnauze voll“ von seinen Berechnungen. „Also lief ich durch meinen neuen Fachbereich und fragte die anderen Forscher, ob sie eine lösbare Aufgabe für mich hätten“, erinnert er sich 2016. „Schließlich kam ich ins Büro von David Thouless. Und David sprach über seltsame und erstaunliche Dinge, wie Suprafluidität, Quantenwirbel, Kristallografie und so weiter.“

Heute denkt Kosterlitz, dass es ein Vorteil war, dass er sich diesen Themen „mit einem ausgeprägten Unwissen“ näherte: Er hatte nicht die vorgefassten Meinungen der Festkörperphysik im Kopf, als er begann, sich mit den Fragen von Thouless zu beschäftigen. Die beiden Physiker veröffentlichten 1973 einen Artikel, der in der Fachwelt großes Aufsehen erregte: Für die dort dargestellten Theorien erhalten sie nun den diesjährigen Physiknobelpreis. „Es ist unglaublich, wenn man bedenkt, dass dies mein allererster Gehversuch in der Physik der kondensierten Materie war.“

 

David J. Thouless ist Professor emeritus an der University of Washington in Seattle, USA. Foto: Mary Levin, 1995, University of Washington
David J. Thouless ist Professor emeritus an der University of Washington in Seattle, USA. Foto: Mary Levin, 1995, University of Washington

Michael Kosterlitz und David Thouless wurden für ihre theoretischen Arbeiten zum Thema Phasenübergänge in einem zweidimensionalen Modell ausgezeichnet. Die beiden Physiker aus Birmingham konnten damals mit Hilfe mathematischer Verfahren zeigen, wie sich extrem dünne Oberflächen bei sehr niedrigen Temperaturen verhalten: Quantenwirbel ändern ihre Drehung, wodurch sich die Eigenschaften dieser Flächen dramatisch verändern. Beispielsweise kann so die Supraleitung bei extrem niedrigen Temperaturen erklärt werden, die aus Experimenten bekannt ist. Dieser von den beiden Kollegen beschriebene Phasenübergang wird heute Kosterlitz-Thouless-Übergang genannt.

Für diese Forschung mussten sich die Forscher mit zwei komplexen theoretischen Themen befassen: Quantenmechanik und Topologie, letztere ist ein Spezialgebiet der höheren Mathematik. Und jeder, der außerhalb eines Physik-Fachjournals darüber schreiben möchte, steht vor folgender Schwierigkeit: Wie erkläre ich etwas, das so wenig mit Alltagserfahrungen zu tun hat, und dann auch noch hochgradig abstrakt ist, meinen Lesern?

Thors Hans Hansson, Mitglied des Nobelkomitees für Physik, sah sich mit derselben Schwierigkeit konfrontiert, als er die Physiknobelpreise 2016 verkünden und erläutern sollte. Er löste das Problem auf unkonventionelle Weise, indem er dem überraschten Publikum sein mitgebrachtes Lunchpaket präsentierte: eine Zimtschnecke, ein Bagel und eine schwedische Brezel mit zwei Löchern (siehe Video unten). Mit Hilfe dieser Backwaren konnte er verdeutlichen, dass es in der Topologie nur zählt, ob eine Struktur kein Loch, oder eins oder zwei aufweist. Dabei ist es egal, ob die Ein-Loch-Struktur ein Bagel oder eine Kaffeetasse ist. Die anwesenden Journalisten griffen diese Analogie allzu gerne auf: Wenn man die Begriffe ‚pretzel‘ und ‚Nobel‘ zusammen bei Google einträgt, bekommt man 152.000 Treffer, und die meisten beziehen sich auf den diesjährigen Physiknobelpreis.

Duncan Haldane, der dritte im Bunde, hatte weniger Glück mit seinem Anruf aus Stockholm: Dieser erreichte ihn um 04:30 Uhr morgens. Am selben Vormittag hielt er wie geplant seine Vorlesung für Elektromagnetismus an der Princeton University. Er bekam die Auszeichnung für seine Berechnungen von eindimensionalen Ketten aus kleinen elementaren Magneten, auch ‚Spins‘ genannt. Haldane sagte voraus, dass solche Ketten mit ganzzahligem Spin völlig andere Eigenschaften hätten als Ketten mit halbzahligem Spin. Später konnten andere Forscher diese Annahme experimentell bestätigen. Er wandte sich später auch zwei- und dreidimensionalen Materialien zu, und zunehmend werden auch solche Materialien von Experimentalphysikern hergestellt und untersucht. Dadurch entstand eine neue Klasse von Materialien, die sogenannten ‚topologischen Materialien‘.

 

F. Duncan M. Haldane hält am 4. Oktober 2016 ganz normal seine Vorlesungen: der Tag, an dem er erfuhr, dass er ein Nobelpreisträger ist. Er und seine beiden Mit-Preisträger wurden für die Theorie topologischer Phasenübergänge ausgezeichnet. Foto: Princeton University
F. Duncan M. Haldane hält am 4. Oktober 2016 ganz normal seine Vorlesungen – der Tag, an dem er erfuhr, dass er Nobelpreisträger ist. Er und seine beiden Mit-Preisträger wurden für die Theorie topologischer Phasenübergänge ausgezeichnet. Foto: Princeton University

 

Heute sind in diesem Themenfeld die ‚topologischen Isolatoren‘ ein ganz heißes Forschungsthema. Diese futuristischen Materialien zeichnen sich dadurch aus, dass ihr Inneres zwar einen elektrischen Widerstand aufweist, ihre Oberfläche jedoch nahezu supraleitend ist: Dort kann elektrischer Strom fließen, ohne auf Widerstände zu stoßen. Und man geht davon aus, dass manche dieser Isolatoren sogar bei Raumtemperatur arbeiten könnten. Als elektronische Bauteile sind solche Materialien natürlich ein Traum für alle Physiker, die sich das Thema Quantencomputer auf die Fahnen geschrieben haben. Haldane selbst nennt diese Computer der Zukunft den ‚Heiligen Gral‘ seines Fachgebiets.

Alle drei Preisträger stammen aus Großbritannien und arbeiten heute in den USA. Sir Martin Rees, ein ehemaliger Professor für Kosmologie und seit 1995 Astronomer Royal des Vereinigten Königreichs, erklärt die Auswanderungswelle von Spitzenforschern in den 1980er Jahren mit der Kahlschlagpolitik von Margaret Thatcher an britischen Universitäten. Fragt man Duncan Haldane jedoch nach diesem ‚brain drain‘, antwortet er prompt: „I didn’t have my brain drained!“, also: „Mein Hirn wurde gar nicht trockengelegt!“ Offenbar hat Haldane seinen trockenen britischen Humor auch nach Jahrzehnten in den USA nicht abgelegt. Er erklärt aber dann ernsthafter, wie die Thatcher-Regierung nur ’nützliche‘ Forschung fördern wollte, also anwendungsbezogene Forschung, und keine Themen, die ‚auf Inspiration basieren‘.

Wir freuen uns alle sehr darauf, einen oder mehrere der Preisträger bei einem der nächsten Lindauer Nobelpreisträgertagungen begrüßen zu dürfen!

 

 

 

In der Topologie kommt es darauf ein, ob eine Struktur kein Loch hat, oder ein oder zwei. Deshalb beschrieb Thors Hans Hansson den diesjährigen Physiknobelpreis mit Hilfe einiger Backwaren (siehe obiges Video). Abbildung:  iStock.com/NataliaHubbert
In der Topologie kommt es darauf an, ob eine Struktur kein Loch hat, oder ein oder zwei. Deshalb beschrieb Thors Hans Hansson den diesjährigen Physiknobelpreis mit Hilfe einiger Backwaren (siehe obiges Video). Abbildung: iStock.com/NataliaHubbert

Susanne Dambeck

Susanne Dambeck is a science writer in English and German, and author of several nonfiction childrens' books. A political scientist by training, she has worked in politics, television and as a biographer. Apart from scientific findings, she is interested in people and in storytelling in different languages.