Veröffentlicht 23. März 2016 von Susanne Dambeck
Oliver Smithies: Mit Kartoffelstärke zu genetischen Fingerabdrücken
Wenn Oliver Smithies erzählt, lässt er seine glückliche Kindheit im ländlichen Yorkshire wieder aufleben. Während er als Kind die Wälder der Umgebung durchstreifte, verbrachte er seine Jugend in der Werkstatt seines besten Freundes. Dessen Vater, ein Uhrenfabrikant, hatte seinem Sohn eine eigene Werkstatt eingerichtet. Schon vor seinem elften Geburtstag wusste Smithies, dass er Forscher werden wollte, nur fehlte ihm eine Bezeichnung für seinen Wunsch. Also sagte er, er wolle „Erfinder“ werden, denn er hatte kurz zuvor einen Comic über einen solchen gelesen; dies alles erzählt er seinen begeisterten Zuhörern auf der 65. Lindauer Nobelpreisträgertagung 2015.
Smithies erhielt den Medizinnobelpreis 2007 „für die Entdeckung der Prinzipien, mit denen bestimmte Genveränderungen in Mäusen mit Hilfe embryonaler Stammzellen vorgenommen werden können“, zusammen mit Mario Capecchi und Martin Evans. Doch wenn er aufgefordert wird, aus seinem Leben zu berichten, spricht er meist über frühere Entdeckungen, beispielsweise über seine Entwicklung der Gelelektrophorese in den 1950er Jahren in Toronto. Zuvor hatte er mit einem Stipendium des Commonwealth Fund an der University of Wisconsin-Madison gearbeitet, aber dieses Stipendium verbot ihm, nach dessen Ende in den USA zu bleiben. Eigentlich hätte er nach Großbritannien zurückkehren sollen. Da er sich aber in Wisconsin mit der angehenden Virologin Lois Kitze verlobt hatte, suchte er sich eine Stelle in der Nähe, eben in Kanada.
Er wurde bei dem Insulinforscher David A. Scott in Toronto fündig. Dort war Insulin erstmals zur Behandlung eines Diabetes-Patienten eingesetzt worden, und zwar 1922 von Frederick Banting, der schon im Jahr darauf den Medizinnobelpreis erhielt. Als Smithies nun an die Connaught Medical Research Laboratories kam, meinte Scott: „Sie können hier forschen, was immer Sie wollen, es muss nur irgendwas mit Insulin zu tun haben.“ Also machte sich Smithies auf die Suche nach einer Insulin-Vorstufe. „Heute wissen wir, dass es diese gibt“, erzählt er schmunzelnd, „aber ich habe sie nicht entdeckt.“ Er studierte nun Insulin mit Hilfe von Elektrophorese, für die damals meist Filterpapier verwendet wurde, getränkt mit einer Pufferlösung. Das Insulin sah auf diesen Papierstreifen jedoch nur wie ein verschmierter Fleck aus – Smithies frustierte diese ungenaue Methode sehr.
Da lernte er die neuartige Elektrophorese-Methode von Henry Kunkel und Robert Slater kennen, die hierfür eine flache Kiste mit Kartoffelstärke und Puffer gefüllt hatten. Und siehe da: Die Probe produzierte in dieser Anordnung eine klare, eindeutige Kurve. Der Nachteil war jedoch, dass man das Stärkegemisch in vierzig dünne Scheibchen schneiden und für jedes einzelne Scheibchen eine Proteinbestimmung durchführen musste, erst so erhielt man ein klares Ergebnis. „Ich hatte damals aber keinen Assistenten“, erinnert sich Smithies, „ich konnte diese Methode unmöglich anwenden.“ Da erinnerte er sich, wie er seiner Mutter dabei zugeschaut hatte, wie sie Wäsche stärkte: „Sie kochte aus Stärke und Wasser eine schleimige Masse und trug diese auf Vaters Hemden auf.“ Am Ende eines solchen Waschtags hatte sich die Stärke in einer Art Gelee verwandelt. Sein Vater verkaufte damals Versicherungen an Bauern in Yorkshire und musste immer korrekt gekleidet sein.
Anfang 1954 kochte Oliver Smithies nun aus Kartoffelstärke ebenfalls ein solches Gel und trug Insulin auf seinen neuen Teststreifen auf: Das Ergebnis war ein schönes, eindeutiges Bandenmuster. (Allerdings erreichte die verwendete Stärke lange Zeit nicht mehr dieselbe Qualität wie bei seinem ersten Versuch, dazu später mehr.) Zur Probengewinnung nahm er sich anfangs selbst Blut ab. „Aber ich wurde es leid, mich ständig zur Ader zu lassen. Deshalb fing ich an, meine Freunde anzuzapfen – wofür hat man schließlich Freunde?“ Jetzt begann er, die verschiedenen Blutproben miteinander zu vergleichen. Dabei entdeckte er Bandenmuster, die einige Freunde hatten, andere hingegen nicht, und die er sich nicht erklären konnte. Später stellte er zusammen mit der kanadischen Genetikerin Norma Ford-Walker fest, dass es sich hier um verschiedene Haptoglobin-Typen handelte. Smithies war froh, dass „Scotty“, wie er ihn mittlerweile nannte, es ihm erlaubte, diese Themen zu verfolgen, obwohl sie nichts mit Insulin zu tun hatten.
In dieser Phase verfolgten ihn ständig die Qualitätsprobleme der verwendeten Kartoffelstärke. Er experimentierte mit den unterschiedlichsten Kartoffelsorten aus Kanada und den USA, aber keine konnte die guten Resultate seines ersten Versuchs reproduzieren. Schließlich fand er heraus, dass die allererste Stärke aus Dänemark stammte! Durch seine Erfindung stieg Smithies‘ Arbeitsbelastung, schließlich stimmte er der Einstellung eines Assistenten zu, obwohl er eigentlich keinen wollte. Der deutsche Einwanderer Otto Hiller erwies sich als Glücksgriff: Er war technisch sehr geschickt, außerdem freundeten sich die beiden Forscher an. Hiller folgte Smithies 1960 zurück nach Wisconsin, arbeitete aber nicht an der Universität, sondern machte sich selbstständig: als Hersteller von Elektrophorese-Zubehör. Hauptsächlich vertrieb er Plastik- und Elektroteile, aber er verkaufte auch dänische Kartoffelstärke an Labore in aller Welt. Die Gelelektrophorese ist nach wie vor ein Standardverfahren der Medizintechnik und wird in der Forschung, für Diagnosezwecke und auch für genetische Fingerabdrücke verwendet.
Wenn Oliver Smithies seine Ergebnisse aus den fünfziger Jahren präsentiert, zeigt er liebevoll erstellte kleine Buntstiftzeichnungen, denn er besaß 1954 keine Kamera, und teilweise verschmierte handschriftliche Laborprotokolle. Er hält in seinem Vortrag kurz inne und rät seinen Zuhörern eindringlich, sie sollten von allen wichtigen Daten stets eine ‚hard copy‘ erstellen, also zum Beispiel einen Ausdruck auf Papier. „Diese Daten hier sind fast sechzig Jahre alt – Sie aber werden Ihre Daten in sechzig Jahren nicht präsentieren können, wenn sie keine Version auf Papier haben!“ Die anwesenden Studenten und Doktoranden sollten sich auch nicht allzu sehr auf ihre Computer verlassen, denn „schon jetzt kann man eine Diskette kaum noch lesen, und in zehn Jahren wird man eine CD nicht mehr lesen können“ – ein sehr weiser Rat eines Neunzigjährigen.
Im Jahr 1978 wurde Smithies erste Ehe geschieden, „und mehrere Jahre später folgte ich dem Beispiel meiner Mutter und verliebte mich in eine Postdoc-Studentin, Nobuyo Maeda“. In den 1920er Jahren unterrichtete seine Mutter Englisch am Halifax Technical College, als sie Smithies Vater kennenlernte, einen ihrer Studenten. Als die japanische Forscherin Maeda ihre nächste Stelle an der University of North Carolina fand, zog das Paar gemeinsam nach Chapel Hill, wo sie heute noch leben – und beide noch arbeiten. Smithies gibt unumwunden zu, dass ein Labor sein natürliches Zuhause ist: „Hier fühle ich mich am wohlsten, am entspanntesten, hier habe ich Freude an meinen Experimenten.“ Kürzlich beschäftigte er sich unter anderem mit Gold-Nanopartikeln, sie sollen helfen, bestimmte Prozesse in den Nieren besser zu verstehen.
Oliver Smithies hat bislang an vier Lindauer Nobelpreisträgertagungen teilgenommen, und seine Vorträge waren stets ein Highlight jeder Tagung. Zwei Vorträge liegen als Videos vor, außerdem gibt es zwei Nature-Videos mit ihm, sowie ein Nobel Lab 360°, mit dessen Interviews, Videos und Fotos man Smithies quasi in seinem Labor in Chapel Hill ‚besuchen‘ kann – also an seinem erklärten Lieblingsplatz.