Veröffentlicht 26. Januar 2017 von Stephanie Hanel
Marie Curies amerikanisches Abenteuer
Dank einer glücklichen Fügung des Schicksals hatte sich Marie Meloney, eine prominente Journalistin aus den USA, in den Kopf gesetzt, die Nobelpreisträgerin Marie Curie für ein Interview zu gewinnen und ließ sich auch nicht von deren hartnäckiger Ablehnung abschrecken. Meloney hatte ihre Karriere bereits im Alter von 15 Jahren bei der Washington Post begonnen, mit 18 als Korrespondentin für die Denver Post gearbeitet und war später Herausgeberin verschiedener großer Publikumszeitschriften. Zudem fungierte sie als Gastgeberin illustrer Empfänge, war politisch ambitioniert und frauenbewegt. Meloney war eine Vertraute von Eleanor Roosevelt und wurde von dieser für ihre Willensstärke bewundert.
Als es 1920 endlich zu der ersehnten Begegnung mit Curie kommt, sinkt Meloney trotz zwanzigjähriger Berufserfahrung der Mut: „Die Tür öffnete sich und eine blasse, schüchterne Frau trat ein, die das traurigste Gesicht hatte, das ich jemals gesehen habe. (…) Plötzlich hatte ich das Gefühl, ein Eindringling zu sein.“
Meloney empfindet Curie als ‚wehrlos’ und rettet sich in ein Gespräch über die Bewunderung der amerikanischen Frauen für Curies Werk. Marie Curie aber kommt ohne Umschweife auf das zu sprechen, was ihr am meisten am Herzen liegt: das Radium. Sie ist genau informiert, wo in Amerika wie viel davon vorhanden ist. Meloney ist vollkommen überrascht von den spärlichen Arbeitsbedingungen der zweifachen Nobelpreisträgerin. Pierre und Marie Curie hatten auf Patentanmeldungen verzichtet und beschlossen, dass ihre Forschungsergebnisse der gesamten Menschheit gehören sollten, nicht Einzelpersonen, und waren somit auf andere Einnahmequellen angewiesen.
Marie Meloney stellt im Verlauf des Gesprächs eine folgenreiche Frage: Was würde sich Marie Curie wünschen, wenn sie eine Wunsch frei hätte? Die prompte Antwort: ein Gramm Radium! Der Grund: Die gesamten Radiumbestände des französischen Instituts werden für die medizinische Anwendung genutzt, Marie Curie sitzt buchstäblich mit leeren Händen da.
Meloney fasst einen kühnen Plan: Ein Gramm Radium hat in den USA einen Marktwert von hunderttausend Dollar – sie wird die Mittel dafür beschaffen. Nachdem ein erster Anlauf bei einer privaten Sammlung genug Geld zusammenzubringen fehlschlug, initiiert Marie Meloney die später als Radium-Kampagne bezeichnete Spendenaktion, die sich an alle Frauen Amerikas richtete, die Marie Curies Arbeit unterstützen wollen. Und tatsächlich ist ein Jahr nach dem Besuch das benötigte Geld zusammen!
Meloney schreibt an Curie und bittet sie, das Geschenk persönlich in den USA in Empfang zu nehmen. Warren Harding, der Präsident der Vereinigten Staaten selbst würde ihr das Radium übergeben. Zudem dürften ihre Töchter sie begleiten und man wolle versuchen, sie vor allzu viel Publicity abzuschirmen. Denn das ist die Hauptangst der öffentlichkeitsscheuen Wissenschaftlerin: Als Mensch zur Schau gestellt zu werden. Curie hat die Öffentlichkeit bis zu diesem Zeitpunkt konsequent gemieden, für sie gab es nur die Wissenschaft und ihre Familie. Nun aber kann sie nicht mehr nein sagen und bricht mit 54 Jahren im Frühjahr 1921 zu ihrer ersten großen offiziellen Reise an. In New York erwartet sie eine jubelnde Menge und eine Schar Fotografen.
Die großzügigen Spenderinnen des Geldes sind Frauen unterschiedlichster Herkunft und Schichten – gefeiert wird Curie als Krebs-Heilerin, als Role Model für weibliche Wissenschaftler und als Working Mum. Tatsächlich entspricht Marie Curie auf ideale Weise dem Typ Frau, mit dem sich die Frauen in Amerika in den zwanziger Jahren identifizieren. Der Verehrung durch die akademische Welt, die auch in Amerika stark männlich geprägt ist, tut dies keinen Abbruch: Marie Curie wird mit Ehrendoktoraten und anderen Auszeichnungen geradezu überhäuft. Auch wenn Harvard – im Gegensatz zu Yale – ihr diese Auszeichnung verwehrt, überwiegt das Unverständnis der amerikanischen Akademiker darüber, dass Marie Curie in Frankreich nicht ähnlich gebührend ausgezeichnet und gefördert wird.
Das Protokoll erweist sich als arge Belastung für die bereits stark gesundheitlich angegriffene Wissenschaftlerin, so dass sich Gastgeber und Presse um ihren Zustand sorgen. Tatsächlich scheint das bescheidene Auftreten und Curies vergeistigte Erscheinung die Begeisterung nur noch mehr zu befeuern. Die wichtigsten Verpflichtungen, die die Mutter nicht mehr absolvieren kann, werden von ihren Töchtern Irène und Eve übernommen.
Die Tournee beginnt mit Besuchen von Frauen-Colleges und Scharen begeisterter Studentinnen, die Curie zujubeln, und einem überwältigendem Empfang in der Carnegie Hall. Marie Curie betritt die Veranstaltung unter dem tosenden Applaus von über 3.500 Mitgliedern der „International Federation of University Women“ – die größte in Amerika dagewesene Versammlung von Akademikerinnen. Unter den Gästen befinden sich auch die Botschafter Frankreichs und Polens. Danach folgt eine Feier im Walldorf Astoria mit mehr als fünfhundert Vertretern der wissenschaftlichen Gesellschaften – bevor es dann am 20. Mai 1921 zur Übergabe des Geschenks im Weißen Haus kommt.
Die Zeremonie erfolgt nach allen Regeln der Kunst: Marie Curie schreitet am Arm des Präsidenten Warren Harding zur Verleihung, bekommt eine Pergamentrolle (die Schenkungsurkunde) überreicht und ein seidenes Halstuch mit einem kleinen Schlüssel umgebunden – dem Schlüssel zur Schatulle mit dem Radium. Diese ist allerdings mit einer Attrappe ausgestattet, das Radium wird noch in der Fabrik belassen, um niemanden zu gefährden. Präsident Warren Harding nennt Marie Curie in seiner Ansprache eine „…noble creature, the devoted wife and loving mother who, aside from her crushing toil, had fulfilled all the duties of womanhood“ und Curie dankt für seine ehrenden Worte mit: „…as no woman has ever been honored in America before.“
Die Amerika-Reise war ein großer persönlicher Erfolg, der wesentlich zur Sicherung der weiteren wissenschaftlichen Arbeit von Marie Curie, ihrem Institut und allen jungen Forscherinnen und Forschern dort beitrug. Auch für ihre privaten Lebensumstände brachte sie mehr Spielraum. Eve Curie schreibt in der Biographie ihrer Mutter: „Ich glaube, dass die Amerika-Reise für meine Mutter eine Lehre war. Sie hat ihr klargemacht, dass die freiwillige Isolierung, in der sie sich hielt, etwas Widersinniges hatte. (…) Sie trägt die Verantwortung für eine neue Wissenschaft, für eine neue Therapie. Die Autorität ihres Namens ist so groß, dass oft eine Geste, ihre persönliche Anwesenheit genügt, um ein bestimmtes Projekt von allgemeinem Interesse durchzusetzen, das ihr am Herzen liegt.“
Die nächsten Lebensjahre Marie Curies standen dank Marie Meloneys Wirken unter einem glücklicheren Stern und die beiden Frauen blieben sich lebenslang freundschaftlich verbunden. Marie Curie wurde im Mai 1922 in die „Kommission für internationale geistige Zusammenarbeit“ berufen, deren Vizepräsidentin sie bis 1934 war. Während ihrer zwölfjährigen Tätigkeit für die Kommission des Völkerbunds setzte sie sich unter anderem für die Gründung einer internationalen Bibliographie wissenschaftlicher Publikationen und für einen einheitlichen Urheberschutz für WissenschaftlerInnen und deren Erfindungen ein.
Für einen Überblick über die Lebensdaten und die wissenschaftlichen Errungenschaften von Marie Curie findet sich ein Video in der Mediatheque.
Madame Curie. Eine Biographie, Eve Curie
A Devotion to their Science. Pioneer Women in Radioactivity, Marelene und Geoffrey Rayner-Canham
Marie Curie. A Life, Susan Quinn
The private lives of Science’s first family. Marie Curie and her daughters, Shelley Emling