Veröffentlicht 24. September 2015 von Stephanie Hanel
Maria Goeppert-Mayer – Meisterin der ‚magischen Zahlen’
Maria Goeppert-Mayer ist die zweite Physiknobelpreisträgerin überhaupt und die erste, die ihren Preis auf dem Gebiet der Theoretischen Physik gewann. 1963 erhielt sie den Nobelpreis zusammen mit J. Hans D. Jensen und Eugen Wigner „for their discoveries concerning nuclear shell structure“. Goeppert-Mayer und Jensen waren beide, völlig unabhängig voneinander, zum gleichen Ergebnis gekommen. Der Dritte im Bunde der Geehrten, Eugen Wigner, hatte die theoretischen Grundlagen für die Erkenntnisse der beiden anderen gelegt. Die wissenschaftlichen Errungenschaften lagen bei der Verleihung der Nobelpreise allerdings schon etliche Jahre zurück.
Maria Goeppert-Mayer kam 1949 zu ihrer bahnbrechenden Erkenntnis, im Alter von 43 Jahren. Ab dem Jahr 1955 entfielen insgesamt 27 Nominierungen für den Nobelpreis auf sie, unter anderem von Max Born, selbst Physik-Nobelpreisträger und ein wichtiger Mentor von Maria Goeppert-Mayer. Max Born und die Nobelpreisträger James Franck und Adolf Otto Reinhold Windaus waren bereits im Prüfungsausschuss bei Goeppert-Mayers Promotion 1930 in Göttingen. Eugen Wigner soll diese Doktorarbeit ein „Meisterstück an Klarheit und Konkretheit“ genannt haben.
Dass die ersten Nominierungen auf das Jahr 1955 fielen, war kein Zufall. In diesem Jahr publizierten Goeppert-Mayer und Jensen gemeinsam das spätere Standardwerk „Elementary Theory of Nuclear Shell Structure“. Dem vorangegangen waren Goeppert-Mayers Einzelveröffentlichungen „On closed shells in nuclei“ und „Nuclear configurations in the spin-orbit coupling model“.
Was war die wissenschaftliche Fragestellung, der sich Goeppert-Mayer so erfolgreich annahm? 1948 war noch nicht geklärt, wie der Atomkern aufgebaut ist. Auch die mit dem Atomkern in Zusammenhang stehenden magischen Zahlen, denen Eugen Wigner ihren Namen gab, waren noch nicht enträtselt. Als magische Zahlen werden in der Kernphysik bestimmte Neutronen- und Protonenzahlen in Atomkernen bezeichnet. Bei ihnen wird im Grundzustand des Kerns eine höhere Stabilität als bei benachbarten Nukliden (auf der Nuklidkarte) beobachtet.
Elemente habe eine Kernladung, die aus einer bestimmten Anzahl positiv geladener Protonen resultiert. Auch die Anzahl der nicht geladenen Neutronen im Atomkern kann variieren. Alle diese Varianten ein und desselben Elements werden Isotope genannt. Ein sogenanntes stabiles Isotop verändert sich nicht, sondern behält seine Anzahl an Protonen und Neutronen bei. In früheren Experimenten wurde festgestellt, dass stabile Kerne exakt 2, 8, 20, 28, 50, 82 und 126 Protonen oder Neutronen haben. Deshalb erhielten sie den Namen magische Zahlen.
Die Frage lautete also: Was macht Kerne mit diesen magischen Zahlen so stabil? Maria Goeppert-Mayer fand heraus, dass Protonen und Neutronen sich um sich selbst drehen und gleichzeitig in Bahnen um den Atomkern herum bewegen. Vergleichbar der Erde, die sich um ihre Achse dreht, während sie sich in der Umlaufbahn um die Sonne bewegt. Die erste Bahn sollte für die beste Stabilität 2 Teilchen haben, die zweite 8, die dritte 20 und so weiter. Die magischen Zahlen stehen also für den Punkt, an dem die verschiedenen Bahnen gefüllt sind. Maria Goeppert-Mayers Idee, die Bahnen im Inneren eines Atomkerns mit einer Zwiebel zu vergleichen, die mehrere Schichten Schale, aber nichts in ihrem Inneren hat, brachte ihr von Physiker-Kollege und Nobelpreisträger Wolfgang Pauli den Spitznamen „The Onion Madonna“ ein.
Neben den magischen Zahlen musste aber noch ein wichtiger Effekt miteinbezogen werden, die sogenannte Spin-Bahn-Kopplung. Mit ihr wird der Energieunterschied benannt, der auftritt, je nachdem ob ein Elektron mit oder gegen die Drehrichtung rotiert. Bei Elektronen nur ein schwacher Effekt, aber wie verhält es sich im Kern? Goeppert-Mayers „Heureka“-Moment war der, als sie, entgegen der Annahme, dieser Effekt wäre im Kern so schwach wie bei den Elektronen in der Hülle, die Hypothese umkehrte und Berechnungen mit einer vorausgesetzt starken Spin-Bahn-Kopplung im Kern anstellte. Sie nannte es später selbst das letzte fehlende Puzzleteil – Enrico Fermi, Physiknobelpreisträger von 1938 und damals wichtigster wissenschaftlicher Gesprächspartner Goepperts, wurde Ohrenzeuge dieses Einfalls. Durch die von Goeppert-Mayer entwickelte Theorie konnten nicht nur sehr viele bekannte Verhaltensweisen der Atomkerne unter einen Hut gebracht, sondern auch Vorhersagen getroffen werden.
Mit der wissenschaftlichen Erklärung des Zustandekommens der ‚magischen Zahlen’ – unter der Annahme einer starken Spin-Bahn-Kopplung der Nukleonen – trat Maria Goeppert-Mayer dann an die Öffentlichkeit. Dass Jensen und Goeppert-Mayer keinen Prioritätsstreit entfachten, sondern ganz im Gegenteil ab 1950 an einem gemeinsamen Werk arbeiteten, ist eine noble Haltung von beiden und leider keineswegs üblich. Umso erfreulicher, dass alle Beteiligten im besten Einvernehmen den Nobelpreis entgegennehmen konnten.
Der Weg dorthin war für Maria Goeppert-Mayer allerdings ein anderer als der für ihre männlichen Kollegen: Erst drei Jahre vor der Nobelpreisverleihung, also mit 54 Jahren, erhielt sie ihre erste bezahlte Stelle als Professorin an der University of California in San Diego!
Maria Göppert wurde 1906 in Kattowitz geboren (das damals zu Schlesien und heute zu Polen gehört), die Eltern zogen mit der kleinen Tochter bald nach Göttingen. Zunächst besuchte Maria eine sogenannte „Höhere Töchterschule“, die Göttinger Luisenschule, dann setzte sie ihren Schulbesuch in einer Studienanstalt fort, die vom „Verein für Frauenbildung-Frauenstudium“ betrieben wurde. Dort besuchte Maria Göppert Vorbereitungskurse und bestand mit 17 Jahren am 4. April 1924 zusammen mit drei weiteren Mädchen und 30 Jungen die Abiturprüfung. Zum großen Glück für das begabte Mädchen waren ihre Eltern beide interessiert daran, sie in jeder Hinsicht zu fördern. Der Vater Professor für Kinderheilkunde, die Mutter ausgebildete Französisch-Lehrerin, pflegten zudem einen inspirierenden Freundeskreis. Es bestand nie ein Zweifel, dass ihre Tochter studieren würde.
Maria Goeppert-Mayer immatrikulierte sich also für Mathematik, wechselte aber nach drei Jahren zur Physik, da sie durch Max Born, Werner Heisenberg und Pascual Jordan, die damals in Göttingen lehrten, Feuer für die Quantenphysik gefangen hatte.
Sie heiratete kurz vor ihrer Promotion den amerikanischen Chemiker Joseph Mayer und ging nach der Doktorprüfung mit ihm in die USA. Dabei passte sie ihren Namen von Göppert in Goeppert an. Angeblich hatte sie die Hoffnung, dass es in den USA für Wissenschaftlerinnen leichter sein würde, in der Forschung Fuß zu fassen. Stattdessen geriet das junge Paar aber in die Wirtschaftsdepression, und sie bekam als ‚Frau eines Professors’ keine wissenschaftliche Anstellung. Sie forschte und lehrte also ohne Bezahlung und interessierte sich in dieser Zeit für physikalische Chemie. Zusammen mit ihrem Mann veröffentlichte sie das „Lehrbuch über Statistische Mechanik“. In dieser Zeit kamen auch ihre beiden Kinder Maria Ann und Peter Conrad auf die Welt.
Nach weiteren Stationen an anderen Universitäten und Forschungseinrichtungen waren die Mayers dann 1946 in Chicago wieder zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Chicago war zu dieser Zeit das, was Göttingen 20 Jahre zuvor gewesen war – ein Zentrum, an dem sich die namhaften Köpfe der Zeit versammelten. Goeppert-Mayer erhielt eine Professur – wenn auch wieder unbezahlt. Trotzdem war diese Zeit für sie die wissenschaftlich entscheidende. Sie ließ sich die Freude am Forschen nicht verderben. Zu guter Letzt war ihre Unbeirrbarkeit erfolgreich. Ein weiterer Umzug brachte sie endlich zum Ziel: Die 1960 neu gegründete University of California, San Diego kann sich rühmen, das so fortschrittliche „double career“-Ehepaar zum Zeitpunkt der Nobelpreisverkündung bei sich bereits unter Vertrag zu haben. Und Maria Goeppert-Mayer schreibt in den autobiographischen Notizen für das Nobelpreiskomitee stolz, dass sie die Familientradition fortgesetzt habe und Professorin in siebter Generation sei.
Maria Goeppert-Mayer starb am 20. Februar 1972 in San Diego.
Slider: Porträt Maria Goeppert-Mayer, Foto: United States Department of Energy, public domain