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Veröffentlicht 6. November 2015 von Stephanie Hanel

Lise Meitner – Berühmt ohne Nobelpreis

Wenn man nach einer Persönlichkeit fragt, von der alle annehmen, sie müsste den Nobelpreis erhalten haben, aber diesen doch nie bekam, fällt mit Sicherheit ihr Name: Lise Meitner. Die Atomphysikerin österreichischer Herkunft ist eine der wenigen Wissenschaftlerinnen, die es ins Gedächtnis der Allgemeinheit geschafft haben. Nicht umsonst wird sie die „deutsche Marie Curie“ genannt – deutsch auch, weil sie selbst nie einen Zweifel daran gelassen hat, dass ihre wissenschaftliche Karriere in Berlin stattfand und sie die besten Forscherinnen-Jahre dort verbrachte.

 

Siebte Solvay-Konferenz in Brüssel, Oktober1933, Irène Joliot-Curie und Marie Curie sitzen links in der vorderen Reihe, Lise Meitner sitzt rechts vorne, Foto: Gemeinfrei
Siebte Solvay-Konferenz in Brüssel, Oktober1933, Irène Joliot-Curie und Marie Curie sitzen links in der vorderen Reihe, Lise Meitner rechts vorne, Foto: Gemeinfrei

Umso tragischer, dass das nationalsozialistische Deutschland Meitner nicht nur um ihre wissenschaftliche und private Heimat brachte – sie musste als Jüdin nach Stockholm emigrieren – sondern auch um die höchste naturwissenschaftliche Ehrung. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre ihr der Nobelpreis zugesprochen worden, wenn sie hätte bleiben können. Sie war es, die die alte Arbeitsgruppe mit Otto Hahn wieder aufleben ließ, erweitert um Fritz Straßmann. Meitner war zunächst vor Ort in Berlin an den Experimenten beteiligt, diskutierte den Fortgang der Arbeit dann aus dem Exil per Post mit Otto Hahn und regte auch neue Versuchsreihen an. Hahn und Straßmann entdeckten infolgedessen die Kernspaltung, während Meitner im Exil in Schweden festsaß.

Lise Meitner war 1917 in Berlin am Kaiser-Wilhelm-Institut mit dem Aufbau der Physikalischen Abteilung betraut worden und leitete diese 21 Jahre lang. Sie ging als Professorin und geachtete Institutsleiterin und landete als Niemand in Stockholm. Ihr dortiger Chef stellte ihr keinerlei Mitarbeiter oder Mittel zur Verfügung und sie bereute bitterlich, die Flucht nicht besser geplant zu haben und nun mit leeren Händen dazustehen. Tatsächlich hatte sie, als sich die Gelegenheit bot, nur eine Handtasche mit den nötigsten Dingen dabei und keine zwei Stunden, um Abschied zu nehmen. Otto Hahn war maßgeblich an den Fluchtvorbereitungen beteiligt und berichtete ihr regelmäßig per Post über den Fortgang des gemeinsamen Projekts. Lise Meitner reagierte prompt, zusammen mit ihrem Neffen Otto Robert Frisch, ebenfalls Physiker: Noch konnte sie das Gefühl haben, Teil des Teams zu sein.

Meitner und Frisch lieferten damals die physikalische Erklärung des radiochemischen Prozesses, den Hahn und Straßmann entdeckten, und benutzten dafür den Begriff Kernspaltung. Tatsächlich befürchtete Meitner schon zu dieser Zeit, dass ihr Chef in Schweden sie vollkommen unterschätzen würde, und leider wollte es das Schicksal so, dass ausgerechnet jener auch die Beurteilung ihres Anteils an der nobelpreiswürdigen Entdeckung zu verfassen hatte. In einer Biographie über Meitner heißt es, dass die geringe Zahl aktueller Publikationen gegen sie gesprochen hätte. Aus heutiger Sicht eigentlich unfassbar, wenn es denn so vorgetragen wurde – denn einem Menschen, der gerade geflohen ist und mittellos an einem neuen Ort mit fremder Sprache angekommen ist, anzukreiden, dass die Forschung nicht vorangeht, zeugt zumindest nicht von Verständnis der Lage.

 

Lise Meitner im Gespräch mit dem amerikanischen Physiker Isidor Rabi auf der Lindauer Nobelpreisträgertagung für Physik im Jahr 1962, Foto: LNLM
Lise Meitner im Gespräch mit dem amerikanischen Physiker Isidor Rabi auf der Lindauer Nobelpreisträgertagung für Physik im Jahr 1962, Foto: Archiv Stuhler

Tatsache ist: Es war eine Fehlentscheidung. Das sieht nicht nur die Öffentlichkeit so, das ist in Fachkreisen unumstritten – Lise Meitner konnte 47 Nominierungen für den Nobelpreis für sich verbuchen, weit mehr als Otto Hahn. Auch Gustav Källstrand, Kurator des Nobel Museums und Experte für die Geschichte des Nobelpreises, sagte auf Anfrage: „Both Hahn and Meitner were nominated for the prize, and many consider it to be an omission that she did not recieve it. Historians who have looked in the archives have determined that the committee member who evaluated Meitners candidacy made a mistake and underestimated her influence in the discovery.“

Im Alter scheint die langjährige Verbundenheit aus der Zeit des gemeinsamen Forschens überwogen zu haben: Lise Meitner und Otto Hahn 1962 in Lindau; mit im Bild: Werner Heisenberg und Max Born
Im Alter scheint die langjährige Verbundenheit aus der Zeit des gemeinsamen Forschens überwogen zu haben: Lise Meitner und Otto Hahn 1962 in Lindau. Mit im Bild: Werner Heisenberg und Max Born, Foto: Archiv Stuhler

Was für Lise Meitner persönlich schwerer gewogen haben mag, ist, dass aus ihrer Sicht Otto Hahn nach dem Erhalt des Nobelpreises nicht genügend auf ihren Anteil an der Entdeckung hinwies oder klarstellte, wie die Verhältnisse eigentlich waren. Das erscheint umso unverständlicher, wenn man sich in den Briefwechsel einliest und die Zeit nachvollzieht, in der Otto Hahn schon mal eine Einladung ablehnte, die Lise Meitner nicht berücksichtigte – da sie Jüdin war – mit dem deutlichen Hinweis, dass er sich nicht mit fremden Lorbeeren schmücken möge und alleine nicht zur Verfügung stünde.

„Das Leben muss nicht leicht sein, wenn es nur inhaltsreich ist. Und dieser Wunsch ging in Erfüllung.“ (Zitat Lise Meitner)

Die Vergangenheit lässt sich nicht mehr umschreiben – unter Umständen konnte Otto Hahn Lise Meitners Kritik an den „Da-Gebliebenen“ nicht verkraften. Lise Meitner ließ den Kontakt zu Otto Hahn nie abbrechen, verriet aber auch ihre Haltung nicht. Etwas pathetisch könnte man sagen, dass sie zwar um den Nobelpreis gebracht wurde, aber dass das ihrem Nachruhm nicht geschadet hat. Vielleicht sogar im Gegenteil: Sie kann als Vorbild einer noblen Wissenschaftlerin dienen, der es nur um die Forschung ging, die aber dabei – wie auf ihrem Grabstein steht – „niemals ihre Menschlichkeit verlor“.

 

Stephanie Hanel

Stephanie Hanel is a journalist and author. Her enthusiasm for the people behind science grew out of her work as an online editor for AcademiaNet, an international portal that publishes profiles of excellent female scientists. She is an interested observer of new communication channels and narrative forms as well as a dedicated social media user and science slam fan.