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Veröffentlicht 10. November 2016 von Susanne Dambeck

Langlebigkeit: zehn erstaunliche Aspekte

Steigende Lebenserwartung seit 1840: anfangs sank vor allem die Kindersterblichkeit, ab Ende des 19. Jahrhunderts wurden Infektionen mit Impfungen bekämpft, im 20. Jahrhundert mit Antibiotika. Quelle: US National Institute on Aging, mit Daten von der Human Mortality Database
Steigende Lebenserwartung seit 1840: Anfangs sank vor allem die Kindersterblichkeit, ab Ende des 19. Jahrhunderts wurden Infektionskrankheiten mit Impfungen bekämpft, im 20. Jahrhundert mit Antibiotika. Quelle: US National Institute on Aging, mit Daten von der Human Mortality Database

In den entwickelten Ländern steigt die durchschnittliche Lebenserwartung weiterhin unbeirrt um drei Monate pro Jahr für Frauen, etwas langsamer für Männer. Auch die Entwicklungsländer konnten seit der Mitte des 20. Jahrhunderts deutliche Anstiege verzeichnen, aber es gab auch Rückschläge wie die HIV-Epidemie in Afrika.
Diesen Trend der linear steigenden Lebenserwartung existiert in Europa und den USA seit dem mittleren 19. Jahrhundert, und er hat eine langlebige wissenschaftliche Debatte ausgelöst: Wird es endlos so weitergehen? Oder gibt es eine natürliche Obergrenze für menschliches Leben? Der neueste Beitrag zu diesen Fragen stammt aus dem Albert Einstein College of Medicine in New York.

 

1. Älteste Gruppe wächst nicht mehr
In dieser Studie analysiert der amerikanisch-niederländische Genetiker Jan Vijg die Daten der ‚Human Mortality Database‘, einer Datenbank mit Sterbedaten aus 38 Ländern, die von deutschen und amerikanischen Forschern gemeinsam betrieben wird. Da die durchschnittliche Lebenserwartung weiterhin ansteigt, benötigten die Forscher eine andere These, um einer möglichen künftigen Abremsung auf die Schliche zu kommen. Sie sagten sich: Wenn es keine absolute Obergrenze gäbe, dann müsste eigentlich die Gruppe mit dem größten Zuwachs immer älter werden. Das stimmt aber nicht. Stattdessen stellten sie fest, dass diese Gruppe seit ungefähr 1980 bei 99 Jahren stagniert, seitdem ist deren Alter nur minimal gestiegen. Diesen Plateau-Effekt interpretieren sie als einen ersten Hinweis auf eine Verlangsamung des Anstiegs.

 

2. Hochbetagte selten älter als 115
Um weitere Effekte in diese Richtung zu finden, untersuchte Jan Vijg und seine Mitarbeiter als nächstes die Daten der Langlebigkeits-Datenbank (International Database on Longevity), die vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock betrieben wird. Achtung: Jetzt geht es um das Alter einzelner Individuum, im vorigen Punkt ging es um Altersgruppen. Das Vijg-Team fand heraus, dass seit den 1990er Jahren kaum jemand älter als 115 Jahre wurde, mit wenigen Ausnahmen. Das maximale Alter steigt also kaum noch – ein weiterer Hinweis auf eine Verlangsamung. „Es erscheint mir sehr wahrscheinlich, dass wir eine ‚Decke‘ erreicht haben“, kommentiert Vijg. „Wir müssen konstatieren: Das war’s. Die Menschen werden nicht mehr älter werden als 115.“

 

3. In Japan laufen die Uhren anders
Die Langlebigkeits-Datenbank, auf deren Daten sich das Team von Vijg bezieht, wurde vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung eingerichtet, das auch die ‚Human Mortality Database‘ mit betreibt. Gründungsdirektor James Vaupel teilt allerdings die Interpretation seiner Kollegen aus New York nicht. Einer seiner Einwände lautet: In Japan, einem sehr wichtigen Land für Demografen, wird die Altergruppe mit der höchsten Wachstumsrate weiterhin immer älter, ebenso in einzelnen europäischen Ländern. In einem früheren Artikel schrieb Direktor Vaupel zusammen mit Jim Oeppen: Vorhersagen, dass „die steigende Lebenserwartung an eine Decke stößt… wurden bereits vielfach gemacht und widerlegt.“

 

Jedes dritte Baby, das heute in Großbritannien zur Welt kommt, wird voraussichtlich seinen 100. Geburtstag feiern können, mein die britische Nationale Statistikbehörde. Foto:  iStock.com/David Freund
Jedes dritte Baby, das heute in Großbritannien zur Welt kommt, wird voraussichtlich seinen 100. Geburtstag feiern können, laut der britischen Nationale Statistikbehörde ONS. Foto: iStock.com/David Freund

4. Höchste Lebenserwartung, niedrigste Geburtenrate
Wegen der höchsten Lebenserwartung weltweit kann Japan als Lieblingsland der Demografen bezeichnet werden: Gegenwärtig beträgt sie 86,8 Jahre für Frauen und 80,5 Jahre für Männer. Gleichzeitig weist Japan eine der niedrigsten Geburtenraten der Welt auf, zusammen mit Südkorea, Deutschland, Italien, Spanien und Griechenland. Die Zahlen einer Art Bevölkerungs-Uhr, kürzlich auf einer Website der Universität Tokyo installiert, ergeben, dass voraussichtlich im Jahr 3776 das letzte japanische Kind geboren werden wird, wenn kein Trend sich umkehrt – und spätestens hundert Jahre später werden die Japaner komplett aussterben. Manche Hochrechnungen ergeben auch, dass in Japan bereits 2050 über eine Million Hundertjährige leben könnten.

 

5. Kann Altern rückgängig gemacht werden?
In allen Tiermodellen kann die Lebensspanne verlängert werden, sei es durch genetische Veränderungen, durch Nahrungsumstellung oder bestimmte Proteine. Viele Forscherteams weltweit arbeiten mit unterschiedlichen Spezies an dieser Frage, so auch mehrere Gruppen an Vaupels Institut in Rostock. Warum sollten Menschen bei diesem Thema die absolute Ausnahme sein? „Es gibt keine Zeitbombe, die in einem bestimmten Alter losgeht“, kommentiert Direktorin Linda Partridge vom Max-Planck-Institut für Biologie des Alterns die Ergebnisse ihrer New Yorker Kollegen. Auch sie hat sich auf Alterungsprozesse spezialisiert und darauf, wie man diese aufhalten oder rückgängig machen kann. In den letzten Jahren gab es tatsächlich ein paar spektakuläre Versuche, bei denen das Altern von Mäusen und von menschlichen Zellkulturen mit Telomerase rückgängig gemacht werden konnte.

 

6. Tiere, die nicht altern
Manche Spezies altern nicht, das heißt, ihre Sterblichkeit steigt mit zunehmendem Alter nicht an und sie erfreuen sich gleichbleibender Gesundheit. Prof. Annette Baudisch studierte solche Tiere, zum Beispiel Rotkelchen oder den Süßwasserpolyp Hydra vulgaris. Leider gehören wir Menschen nicht in diese Gruppe, auch den meisten Labortieren ist das nicht vergönnt. Doch diese ungewöhnlichen Tiere könnten manche Eigenschaften haben, die Wege zeigen, wie man das menschliche Altern bekämpfen kann, das sich aus vielen verschiedenen Faktoren zusammensetzt: verlangsamte biologische Prozesse, schrumpfende Organe, Ablagerung von Alterspigment, angesammelte Gendefekte, usw.

 

Rita Levi Montalcini war eine italienische Neurobiologin. Sie erhielt den Medizinnobelpreis 1986 für die Entdeckung des Nervenwachstumsfaktors, zusammen mit Stanley Cohen. Im April 2012 feierte sie ihren 103. Geburtstag. Foto: Peter Badge
Rita Levi Montalcini war eine italienische Neurobiologin. Sie erhielt den Medizinnobelpreis 1986 für die Entdeckung des Nervenwachstumsfaktors, zusammen mit Stanley Cohen. Im April 2012 feierte sie ihren 103. Geburtstag. Foto: Peter Badge

7. Medizinischer Fortschritt
Mehrere Forscher haben kritisch angemerkt, dass das Team um Jan Vijg künftige Fortschritte in der Medizin nicht eingerechnet hätte, die sich auch gegen die genannten Alterungsprozesse richten könnten, sowie die Behandlung heute tödlicher Krankheiten stark verbessern werden. „Die Ergebnisse dieser Studie sind absolut korrekt, sie besagt allerdings nichts über die Medizin der Zukunft, sie bewertet nur die Fähigkeiten der heutigen und gestrigen Medizin“, erklärt Aubrey de Grey, ein Gerontologe von der SENS Research Foundation in Mountain View, Kalifornien. Umgekehrt sind aber potentiell negative Trends auch nicht eingerechnet, wie die weltweit um sich greifende Epidemie der Fettleibigkeit, die einen steilen Anstieg von Diabetes-Fällen nach sich zieht, ebenso die neue Erkrankung Nicht-alkoholische Fettleber, die bald die häufigste Ursache für Lebertransplantationen in den USA sein wird.

 

8. Unerwartet sinkende Lebenserwartung
Schon heute gibt es bei bestimmten Bevölkerungsgruppen in der entwickelten Welt einen Rückgang der Lebenserwartung. Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton konnte zusammen mit Prof. Anne Case zeigen, dass weiße Amerikaner mittleren Alters ohne höhere Bildung heute früher sterben als in vergangenen Jahren. Alle anderen US-amerikanischen Bevölkerungsgruppen erfreuen sich nach wie vor einer steigenden Lebenserwartung, nur für diese Gruppe hat sich der Trend umgekehrt. Die Forscher fanden heraus, dass vor allem Alkohol-, Drogen- und Medikamentenmissbrauch, sowie Selbstmorde für diese erschreckende Trendumkehr verantwortlich sind.

 

9. Hundertjährige sind Ausnahmen
Eine neue Studie der AOK Nordost zeigte mal wieder, dass Hundertjährige eine ganz besondere Gruppe sind: Ein Drittel der untersuchten Patienten über 100 zeigte keinerlei Anzeichen von Demenz, drei Viertel waren überhaupt nicht depressiv, knapp ein Viertel nahm nicht regelmäßig Medikamente, und erstaunliche 65 Prozent hatte im Studienjahr 2015 keinen Tag im Krankenhaus verbracht. Gerontologen können sicher viel von dieser ungewöhnlichen Gruppe lernen – aber sie eignet sich nicht unbedingt, um den allgemeinen Alterungsprozess zu beschreiben.

 

10. Länger leben mit Nobelpreis
Wer einen Nobelpreis erhält, bekommt gleichzeitig bis zu zwei Jahre Lebenszeit hinzu. Die beiden britischen Ökonomen Matthew Rablen und Andrew Oswald wollten der Frage nachgehen, warum weltweit die Reichen und Berühmten länger leben als die Armen und Unbekannten. Das Phänomen ist zwar seit Jahrhunderten bekannt, aber die ursächliche Erklärung ist nur unzureichend erforscht. Also suchten sie eine Gruppe, die schlagartig eine große Portion ‚Status‘ erhält – und fanden die Nobelpreisträger. Tatsächlich bedeutet der prestigeträchtige Preis, dass die Empfänger durch den ‚positiven Status-Schock‘ bis zu zwei Lebensjahre dazugewinnen, sogar verglichen mit Forschern gleichen Alters aus dem gleichen Land, die ebenfalls für einen Nobelpreis nominiert waren.

 

Nur die Zukunft und künftige Studien werden klären können, ob die Menschheit tatsächlich schon die ‚Decke‘ der Lebenserwartung erreicht hat oder nicht. Wenn man jedoch nicht nur die Menge an Jahren betrachtet, sondern auch die Lebensqualität, wird schnell klar, dass zusätzliche Jahre nicht immer auch gesunde Jahre sind. Ganz im Gegenteil: Mehr Lebensjahre bedeuten häufig auch mehr Krankheitsjahre. Deshalb schließt Jan Vijg seine Studie auch mit dem Hinweise auf die ‚Gesundheitsspanne‘, Englisch ‚health span‘, auf die wir uns künftig konzentrieren sollten, anstatt immer nur auf die quantitative Lebensspanne zu achten.

 

Bewegung und Sport sind unverzichtbar, wenn man gesund alt werden möchte. Ferner ist es wichtig, sein Gewicht zu halten, wenig Zucker und rotes Fleisch, dafür aber viele Ballaststoffe zu essen, wie sie in Rohkost, Obst, Gemüse und Vollkornprodukten enthalten sind. Und man sollte häufig andere Menschen treffen, Spaß haben und Spiele Speilen - um eine beginnende Demenz im Zaum zu halten. Foto: iStock.com/Horsche
Bewegung und Sport sind unverzichtbar, wenn man gesund alt werden möchte. Ferner ist es wichtig, das Gewicht zu halten, wenig Zucker und rotes Fleisch, dafür aber viele Ballaststoffe zu essen. Und man sollte regelmäßig andere Menschen treffen, mit ihnen Spaß haben und Spiele spielen – auch, um einer Demenz vorzubeugen. Foto: iStock.com/Horsche

Susanne Dambeck

Susanne Dambeck is a science writer in English and German, and author of several nonfiction childrens' books. A political scientist by training, she has worked in politics, television and as a biographer. Apart from scientific findings, she is interested in people and in storytelling in different languages.