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Veröffentlicht 9. Dezember 2014 von Yasin Emanee

Kailash Satyarthi: der Retter der Kindheit

Die Geschichte des Friedensnobelpreisträgers und seines dreißigjährigen Kampfes für Kinderrechte.

Die Kindheit wird meist als der Lebensabschnitt gesehen, der einen Menschen am stärksten prägt. Begierig nehmen wir das Wissen, die Erfahrung und Bildung anderer auf, um all das, verarbeitet und verändert, an die nächste Generation weiter geben zu können. Wenn man also das geschützte Aufwachsen eines Kindes stört, dann beeinträchtigt das nicht nur die Qualität von dessen Kindheit, sondern seine ganze Entwicklung wird gehemmt. Das wiederum betrifft das ganzes Leben – und ebenso das Leben aller Menschen, die ansonsten von diesem Menschen positiv beeinflusst worden wären.

Der Friedensnobelpreis 2014 ging an Kailash Satyarthi (gemeinsam mit Malala Yousafzai). Der studierte Elektrotechniker hat sich das Retten der Kindheit zur Lebensaufgabe gemacht: Schätzungen zufolge hat er 80.000 Kinder aus ausbeuterischen Verhältnissen befreit. Indien ist das Land, in dem Kinderarbeit weltweit am verbreitetsten ist, vor allem in den weniger gewerkschaftlich organisierten Wirtschaftszweigen. Auf dem Subkontinent hat Herr Satyarthi nahezu Unvorstellbares erreicht. Nach der Verleihung des Friedensnobelpreises wird seine Arbeit jetzt weltweit gewürdigt. Aber auch früher schon wurde er für seinen unermüdlichen Einsatz für die Schwächsten der Gesellschaft ausgezeichnet, zum Beispiel 1994 mit dem Aachener Friedenspreis.

Satyarthi at a public Hearing on education in 2013. Credit: Bachpan Bachao Andolan.
Satyarthi bei einer Kundgebung in 2013. Bild: Bachpan Bachao Andolan.

Für seinen Kampf gegen die Ausbeutung von Kindern hat er die soziale Bewegung „Bachpan Bachao Andolan“ ins Leben gerufen, kurz BBA, die man mit „Rettet-die-Kindheit Bewegung“ übersetzen könnte. Ziel ist „die Errichtung einer kinderfreundlichen Gesellschaft, in der alle Kinder frei sind vom Joch der Ausbeutung und eine kostenlose und hochwertige Bildung erhalten“. Anfangs standen Proteste und Demonstrationen im Vordergrund, um ein Problembewusstsein für das Thema Kinderarbeit zu schaffen. Dann wurden verschiedene Akteure wie Regierungen, Gesetzgeber und Gewerkschaften einbezogen, schließlich entstand die Dachorganisation „South Asian Coalition on Child Servitude“ (SACCS), die hunderte Initiativen dieser Art bündelt.

Auf große Resonanz stößt seine Kampagne „Child Friendly Villages“: Geschätzte 800 Millionen Inder leben in Dörfern, bei einer Gesamtbevölkerung von über einer Milliarde. Und gerade in ländlichen Gebieten ist Kinderarbeit ein großes Problem, da sie dort weniger sichtbar ist und damit kaum kontrollierbar scheint. Durch die Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden sowie durch die Gründung von Kinderparlamenten, genannt „Bal Panchayat“, werden die Ideen von Freiheit und Bildung in die Dörfer getragen. In den Kinderparlamenten können die Kinder nicht nur ihre Anliegen vortragen und werden dann vom Dorfrat angehört, sondern ihre gewählte Vertreter gehen in den Dörfern auch von Tür zu Tür und bestehen darauf, dass jedes Kind zur Schule geschickt wird, auch die Mädchen – diese Basisbewegung ist ein überaus erfolgreiches soziales Experiment.

Credit: KailashSatyarthi.net
Bild: KailashSatyarthi.net

Außerdem hat BBA das erste soziale Gütesiegel „Rugmark“ entwickelt, heute „Goodweave International“, um durch ein Problembewusstsein bei den Konsumenten und durch Zertifizierung der Produzenten die Kinderarbeit in der indischen Teppichindustrie weitgehend zu unterbinden. Im Jahr 1998 startete Herr Satyarthi den „Global March Against Child Labour“ – eine Basisbewegung, die mit koordinierten Demonstrationen begann und in einer Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation ILO mündete. Es war die am schnellsten ratifizierte Konvention aller Zeiten, einstimmig angenommen und mittlerweile von 179 Staaten unterzeichnet, die „Regulations against the Worst Forms of Child Labour“.
Nachdem er die Nachricht über seinen Nobelpreis erhalten hatte, meinte Herr Satyarthi: „Ich bin zuversichtlich, dass dieser Preis dazu beitragen wird, das Schicksal der am meisten vernachlässigten Kinder sichtbarer zu machen. Zudem wird er Aktivisten, Regierungen und Unternehmen motivieren, noch stärker gegen Kinderarbeit vorzugehen.“

Credit: KailashSatyarthi.net
Bild: KailashSatyarthi.net

Wenn man es schafft, die Sensibilität für dieses Thema weiter zu erhöhen, wird auch der Kampf gegen Kinderarbeit verstärkt. Sowohl Dhanya Nambiar als auch Mohanish Borana waren als Nachwuchswissenschaftler bei der  64. Lindauer Nobelpreisträgertagung. Beide sind in Indien aufgewachsen und erinnern sich gut an unzählige typische Szenen, in denen sie Kindern beim Arbeiten zusehen mussten – ebenso wie Millionen andere Inder. Sie nehmen an, dass Armut und eine weit verbreitete Resignation zur Aufrechterhaltung dieser sozialen Missstände beitragen, die sie als „Krankheit der ganzen Gesellschaft“ bezeichnen.

Dhanya erinnert sich daran, wie sie als Studentin zusammen mit anderen gegen Kinderarbeit in der Mensa-Küche der Universität vorgehen wollte. Da wurde den Studenten gesagt, es handele sich hier um eine Art Wiedereingliederungsmaßname – den Kindern gehe es in der Küche besser als auf der Straße, wo sie sich alleine durchschlagen müssten und sogar Opfer von sexueller Ausbeutung werden könnten. Mohanish ergänzt: „Jedes Mal, wenn wir einem Kind in einem Restaurant zurufen: ‚Junge, bring mir noch einen Tee!‘ (‚Chotu, chaai lana jare!‘) – ein Satz, den man in allen Teilen Indiens mit hoher Wahrscheinlichkeit hören kann, auch in Gegenden mit vielen Akademikern – dann ist das nichts anderes als ein Zeichen für Ignoranz.“ Diese Haltung wird sich nur ändern, wenn wir sie an der Wurzel packen, also in den Köpfen der Einzelnen verändern, also auch bei uns selbst.

Credit: KailashSatyarthi.net
Credit: KailashSatyarthi.net

Im Jahre 1980 startete Satyarthi, ein einzelner Kämpfer mit einer tiefen Überzeugung, seine erste Rettungsaktion mit Hilfe einiger Aktivisten: Sie befreiten Kinder aus einem Steinbruch nahe der Industriestadt Faridabad südlich von Delhi. 34 Jahre später ist Laxman Singh, einer der damals Befreiten, Schatzmeister von BBA – einer von Tausenden, deren Leben sich durch Satyarthi schlagartig zum Besseren gewendet hat. Er ist ein Beispiel dafür, dass der „Kreislauf des Guten“ nachhaltig sein kann, also sich selbst erneuert. Und jedem von uns steht es frei, ein Teil dieser weltweiten Bewegung zu werden.


Aus dem Englischen übersetzt von Susanne Dambeck.

Yasin Emanee

Yasin Emanee, Lindau Alumnus 2014, is an undergraduate medical student at Gauhati Medical College, Guwahati, India with an interest in clinical research. He writes in English and Assamese and is the editor of hiscollege magazine. Since 2014 he has been writing a medical column for an online magazine (guwahaticity.in) and some of his other writings are available on his Facebook profile (facebook.com/yasin.emanee), voicesnet.org etc. He is a professional debater, ex-Google Student Ambassador (2013-14), has some anchoring experience in national scientific meets and cultural programs and sings and composes music occasionally. He is fond of science fiction, poetry and narratives, and idolises Carl Sagan and Leonardo da Vinci for their interdisciplinary and humanitarian approach to science.