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Veröffentlicht 27. Mai 2016 von Maximilian Totzauer

Jenseits des Standardmodells: Sterile Neutrinos und Dunkle Materie

Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Von diesem Wunsch getrieben hätte Goethes Faust sicher Gefallen am heutigen Standardmodell der Teilchenphysik gefunden: Es beschreibt die fundamentalen Bausteine der uns umgebenden Materie und auch ihre grundlegenden Wechselwirkungen untereinander. So hilft es uns zu verstehen, wie sich aus den Grundbausteinen immer komplexer werdende Strukturen ergeben -von Nukleonen, Atomkern und -hülle bis hin zu hochkomplizierten Molekülen.

In seiner Vorhersagekraft ist das Standardmodell der Teilchenphysik herausragend: Ein ganzes Kaleidoskop von fundamentalen Teilchen wurde in der Entwicklung des Standardmodells vorhergesagt und später experimentell bestätigt. Den vorläufigen Abschluss fand diese Suche im Jahre 2012, als am Large Hadron Collider (LHC) der lang ersehnte, letzte fehlende Baustein des Standardmodells gefunden wurde – das Higgs-Boson. Für dessen Vorhersage vor etwa 50 Jahren wurde Peter Higgs und François Englert der Nobelpreis für Physik 2013 verliehen.

Aber nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ ist das Standardmodell beeindruckend: In der sogenannten Quantenelektrodynamik, einem Teilgebiet des Standardmodells, können bestimmte im Labor sehr genau messbare Eigenschaften von Teilchen mit einer relativen Genauigkeit von 10-9 erklärt werden, also einer Abweichung von 1:1.000.000.000!

Auch wenn das Standardmodell eine sehr erfolgreiche Theorie ist, so wissen wir – ganz wie Doktor Faust – dass unser Wissen unvollständig ist: Die Suche nach den innersten Bausteinen und Kräften unseres Kosmos ist noch nicht beendet. Denn inzwischen haben wir eine lange Liste an Beobachtungen, die im Standardmodell nicht erklärbar sind. Es kann also nur eine effektive Teilbeschreibung eines umfassenderen Modells sein.

 

François Englert 2015 in Lindau. Foto: R. Schultes/Lindau Nobel Laureate Meetings
François Englert 2015 in Lindau. Foto: R. Schultes/Lindau Nobel Laureate Meetings

 

 Dunkle Materie und unentschlossene Neutrinos

Solche Phänomene, die nicht ins Standardmodell passen, werden im Physikerjargon ‚Beyond Standard Model‘ oder einfach nur ‚BSM‘ genannt. Zwei Phänomene sind meiner Ansicht nach besonders interessant:

 

1. Dunkle Materie.

Dunkle Materie heißt so, weil wir sie nicht sehen können, und zwar weder mit elektromagnetischer Strahlung im sichtbaren Bereich, noch in anderen Wellenlängenbereichen, die uns heute dank technischer Erweiterung unserer Augen zur Verfügung stehen. Nun wird man sich berechtigterweise fragen, warum Physiker an Materie glauben, die sie nicht sehen können.

Für Dunkle Materie gibt es einen erschlagenden Katalog an Hinweisen, der in jedem Indizienprozess überzeugen würde. All diese Indizien beruhen darauf, dass Masse Gravitation verursacht.

So beobachtet man etwa, dass sich Spiralgalaxien – wie auch unsere Milchstraße – zu schnell um sich selbst drehen. Diese Mechanik, die im Grunde den gleichen Gesetzen folgt wie die Rotation des Mondes um die Erde oder der Erde um die Sonne, ist nicht alleine durch die Anziehungskraft der sichtbaren Masse in der Galaxie erklärbar. Aber auch auf anderen Längenskalen im Universum macht man Beobachtungen, die die gleichen Schlüsse über die Existenz und Häufigkeit der Dunklen Materie zulassen: Wir wissen, dass die sichtbare Materie etwa 5% der Energie im Universum ausmacht, Dunkle Materie jedoch 20%. Die restlichen 75% sind Dunkle Energie, ein weiteres Phänomen ‚BSM‘; ein Thema für sich.

Da das Standardmodell jedoch keinen passablen Kandidaten für die Dunkle Materie liefert, welcher alle Anforderungen erfüllen würde, muss es unvollständig sein.

 

2. Neutrinooszillationen.

Neutrinos und ihre Antiteilchen, die Antineutrinos, sind elektrisch neutrale Elementarteilchen. Auch sie wurden vor etwa 85 Jahren zunächst theoretisch vorhergesagt und dann deutlich später experimentell bestätigt. Wir wissen, dass Neutrinos in drei Varianten vorkommen: Es gibt Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos, und jeweils das passende Antineutrino dazu.

Neutrinos spielen bei vielen Kernprozessen eine Rolle, also zum Beispiel bei der Kernfusion in der Sonne oder bei der Kernspaltung in Reaktoren. Der Reaktor in einem durchschnittlichen Kernkraftwerk erzeugt in etwa zehn Trilliarden Antineutrinos pro Sekunde, während die Sonne nochmals um viele Größenordnungen mehr davon produziert. Im Kernreaktor werden Elektron-Antineutrinos erzeugt. Nach ihrer Geburt verlassen die Neutrinos mit nahezu Lichtgeschwindigkeit den Reaktorkern, da sie nur sehr schwach mit der Reaktorhülle interagieren, und daher quasi nicht gestoppt werden können.

Mit großen und hochsensiblen Detektoren lassen sich jedoch ein paar Neutrinos in einiger Entfernung nachweisen. Dabei stellt man fest, dass sich Elektron-Antineutrinos während ihrer Reise in Myon- und Tau-Antineutrinos umgewandelt haben. Diese Beobachtung ist unter dem Namen ‚Neutrino-Oszillationen‘ bekannt und lässt darauf schließen, dass Neutrinos eine Masse haben. Für ihre Arbeit an entsprechenden Experimenten erhielten Arthur McDonald und Takaaki Kajita 2015 den Nobelpreis für Physik.

Dass Elementarteilchen eine Masse haben, ist prinzipiell durch den Higgs-Mechanismus verstanden worden. Das Besondere an der Masse der Neutrinos ist nun, dass ihre Masse laut Standardmodell eigentlich gleich null sein müsste. Diese Aussage beruht auf dem absoluten Grundpfeiler des Standardmodells, der sogenannten Eichinvarianz. Dieses Prinzip besagt anschaulich, dass physikalische Realitäten sich nicht ändern dürfen, wenn verschiedene gedachte Beobachter im Universum lokal einen anderen ‚Maßstab‘ wählen. Schließlich ist auch die Entfernung von Berlin nach London immer die gleiche, ob man nun in Kilometern, Meilen oder Lichtjahren messen will. Auch hier wird wieder deutlich, dass das Standardmodell nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann.

 

Das kosmische Spinnennetz

Nun ist es offensichtlich, dass das Standardmodell erweitert bzw. verändert werden muss, um diese Beobachtungen hinreichend zu erklären. Und was liegt dabei näher als der Versuch, möglichst viele neue Phänomene mit möglichst wenig neuer Theorie zu erklären?

So beschäftigt sich die Arbeitsgruppe von Dr. Georg Raffelt am Max-Planck-Institut für Physik in München, der ich seit August 2014 angehöre, unter anderem mit Modellen, die sowohl die Neutrinomasse als auch die Frage nach der Art der Dunklen Materie gleichzeitig angehen. Dazu postulieren wir weitere Arten von Neutrinos, welche das ganze Budget an Dunkler Materie im Universum bereitstellen könnten. Diese neuen Neutrinos werden sterile Neutrinos genannt, da sie selbst im Vergleich zu den bekannten Neutrinos (aktive Neutrinos genannt), nur sehr schwach mit dem Rest des Standardmodells wechselwirken.

Eine gute Theorie sollte testbare, im Zweifel widerlegbare Vorhersagen liefern. So sollte sie in unserem Falle etwa erklären, wie die sterilen Neutrinos in der Frühzeit des Universums entstanden sind und ob die Vorhersagen aus diesem Geburtsprozess mit den heutigen Gegebenheiten im Kosmos übereinstimmen.

Eine für unsere Arbeit sehr wichtige Anforderung ist die sogenannte kosmische Strukturbildung. Aus der Messung der kosmischen Hintergrundstrahlung – Nobelpreise 1978 (Arno Penzias und Robert Woodrow Wilson) sowie 2006 (George Smoot und John Cromwell Mather) – wissen wir, dass das Universum etwa 380.000 Jahre nach dem Urknall sehr homogen war. Die Materiedichte war also überall gleich, Schwankungen waren von der Größenordnungen von 1:100.000 und somit minimal. Das heutige zeichnet sich Universum jedoch durch sehr hohen Dichteunterschiede aus: Galaxien als relativ dichte Objekte gruppieren sich wiederum zu Galaxienhaufen und -superhaufen. Diese Strukturen durchspannen den Kosmos wie eine Art Spinnennetz, und dazwischen ist nichts als unvorstellbar viel leerer Raum.

 

Evolution der großskaligen Strukturen im Universum von frühen Zeiten (links) zum heutigen Zustand (rechts). Der Ausschnitt entspricht einer Längenskala von etwa dem 5000-fachen Durchmesser der Milchstraße. Deutlich zu erkennen ist die Bildung von spinnennetzartigen Strukturen. Credit: Volker Springel/Max-Planck-Institute for Astrophysics
Evolution der großskaligen Strukturen im Universum von frühen Zeiten (links) zum heutigen Zustand (rechts). Der Ausschnitt entspricht einer Längenskala von etwa dem 5000-fachen Durchmesser der Milchstraße. Deutlich zu erkennen ist die Bildung von spinnennetzartigen Strukturen. Credit: Volker Springel/Max-Planck-Institute for Astrophysics

Die Entwicklung dieser Strukturen wurde durch die Dunkle Materie angestoßen, die durch ihre eigene Gravitation kleine Dichteschwankungen über die Zeit verstärken konnte: Wo ein bisschen mehr Materie war als im Durchschnitt, war auch die Gravitation ein bisschen stärker als in weniger dichten Gebieten. Dadurch wurde noch mehr Masse dorthin gezogen, was den Effekt wiederum verstärkte usw. Dieser kosmische Matthäuseffekt war die Grundlage für die heute vorhandenen Strukturen von Galaxien und Galaxienhaufen.

Dabei ist die Geschwindigkeit der Dunklen Materie im frühen Kosmos entscheidend: Ist sie zu schnell, kann sie die überdichten Regionen schnell verlassen, die Dichteschwankungen schaukeln sich nicht so stark auf. Folglich entstehen weniger kosmische Strukturen, die heute durch die Rotverschiebung der Emissionslinien von Wasserstoff sehr gut kartiert werden können. Durch den Vergleich von Simulationen und Beobachtungen lassen sich somit die freien Parameter unserer Theorie eingrenzen.

 

What’s next?

Neben der genannten Theorie gibt es noch viele andere Versuche, die Physik jenseits des Standardmodells zu erklären. Um in Zukunft möglichst viele Theorien zu widerlegen und der bestmöglichen Beschreibung unseres Kosmos einen Schritt näher zu kommen, werden derzeit neben den theoretischen viele experimentelle Anstrengungen unternommen: Neue Neutrinodetektoren für bessere Oszillationsexperimente, aber auch bessere Detektoren, die Dunkle Materie im Labor nachweisen sollen, sind weltweit in Betrieb oder in Planung. Nicht zuletzt soll natürlich auch der LHC neue Einsichten in die Teilchenphysik liefern.

Auch wenn es noch völlig offen ist, in welche Richtung die Teilchenphysik das Standardmodell erweitern muss, so ist eine Vorhersage doch sicher: Es bleibt spannend!

Maximilian Totzauer

After having studied physics at Technical University Munich (TUM) and the Royal Institute of Technology in Stockholm, Lindau Alumnus 2016, Maximilian Totzauer has started to work on his PhD at the Max-Planck-Institute for Physics in Munich. Working in the group of Dr. Raffelt and Dr. Merle, he is investigating models that explain the dark matter in the Universe with a hypothetical new kind of neutrinos. In his private time he enjoys many kinds of music and travelling.