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Veröffentlicht 8. Juli 2010 von Markus Pössel

Grenzen der Physik: David Gross

Es ist ein beunruhigendes Zeichen, dass David Gross exakt diesen Vortrag im Großen und Ganzen auch vor zehn Jahren hätte halten können. Oder sogar noch eher. Es ging um Gross‘ eigenes Fachgebiet, die Teilchenphysik, denn, wie er gleich am Anfang klarstellte: Die Vortragszeit sei zu kurz, um umfassender über die Grenzen der Physik zu reden; bei seinen üblichen Vorträgen sei er nach einer halben Stunde gerade mal mit den Witzen fertig. (Sein Kollege Gerard ‚t Hooft hatte sich für seine halbe Stunde stattdessen für den Rundumschlag entschieden, war dabei dann aber notgedrungen arg an der Oberfläche geblieben.)

Es beginnt bei einer „wunderbaren Theorie“, dem Standardmodell der Teilchenphysik, das die herkömmlichen bekannten Elementarteilchen (Elektron und Verwandte, Neutrinos, Quarks) und drei der zwischen ihnen wirkenden Kräfte (elektromagnetische Kraft, schwache Kernkraft und starke Kernkraft; die Gravitation bleibt außen vor) in der Tat mit beachtlicher Präzision beschreibt. Laut Gross sollten wir ob dieser Leistungsfähigkeit eigentlich von der „Standardtheorie der Teilchenphysik“ reden — na ja, ich kann im Gegenteil gut verstehen, warum es „Standardmodell“ heißt: Wir haben es eben doch mit einer von vielen möglichen Ausprägungen der zugrundeliegenden Theorie („Eichtheorie“) zu tun. Man kann auf derselben theoretischen Grundlage unzählige andere Modelle formulieren, die sich, was Anzahl und Eigenschaften der Elementarteilchen und Kräfte angeht, erheblich vom Standardmodell unterscheiden. Warum unsere Welt nun gerade durch das Standardmodell beschrieben wird und nicht durch eine der Alternativen, weiß niemand. In vielerlei Hinsicht hat mir daher das Bild des Standardmodells, das ‚t Hooft in seinem Vortrag zwei Stunden früher gezeigt hat, deutlich besser gefallen:

Die Setzkasten-Darstellung drückt sehr schön die andere Seite des Standardmodells aus: ein recht komplexes Ordnungsschema für die Elementarteilchen und Kräfte; andere Ordnungsschemata sind möglich.

Nach einigen weiteren Ausführungen zur Genauigkeit der Vorhersagen kommt Gross dann zu den Problemen, den offenen Fragen, den Grenzen der Teilchenphysik: Der Frage, ob/wie sich die Kräfte des Standardmodells in vereinheitlichter Weise beschreiben lassen, die Frage nach der Massenskala des Standardmodells, und, von außen durch die Astronomen herangetragen, die Frage danach, welches die Teilchen der dunklen Materie sein könnten. Als letztes, so Gross, werde er sich dann noch einem spekulativen Ansatz widmen, der das Potenzial habe, alle diese Probleme zu lösen.

Darauf, dass sich die verschiedenen Wechselwirkungen überhaupt zusammenfassen, also vereinigen lassen, kommt man, da sich ihre intrinsischen Stärken bei höheren Energien immer weiter einander annähern. Auch die Elementarteilchen haben gerade solche Eigenschaften, als würde ihre Vielfalt aus einem bei diesen höheren Energien gültigen einfacheren Klassifikationsschema hervorgehen. Freilich liegt die bewusste hohe Energie weit jenseits dessen, was heutige und absehbar zukünftige Teilchenbeschleuniger erreichen können. Oder sind die Übereinstimmungen, ist das Zusammenlaufen der Kräfte nur ein Zufall? Ohne Experimente, so Gross, könne man da erst einmal nur nach seiner Intuition, oder Erfahrung, oder Weisheit (oder Dummheit, wie er noch hinzufügte) gehen. Hm. Sind das wirklich die einzigen Möglichkeiten? Es gibt schließlich noch die Möglichkeit, dass eine vereinheitlichte Theorie Vorhersagen macht, die sich auch ohne direkten experimentellen Zugriff auf die Vereinheitlichungs-Energieregion prüfen lassen. Nur, dass es eben bis heute (noch) nicht gelungen ist, eine solche Theorie zu finden.

Dann schob Gross noch nach: So ganz funktioniert die Vereinigung dann doch nicht, denn bei genaueren Messungen laufen die drei Kräfte ganz knapp vorbei. (Ein Umstand, der weiter unten noch eine Rolle spielen wird.)

Zum zweiten Problem: Der Massenskala der schwachen Kernkraft. Im Standardmodell kann man sich vereinfacht vorstellen, dass Elementarteilchen sich gegenseitig anstoßen oder anziehen, indem sie sich „Kraftteilchen“ zuschicken. Und die Kraftteilchen der schwachen Kernkraft, die W-Bosonen (entdeckt von Carlo Rubbia, der hier im Publikum saß), besitzen im Vergleich mit der oben erwähnten Vereinheitlichungsenergie sehr wenig Masse.

Ich merke eigentlich erst hier beim Schreiben, nebenbei auf meine Aufnahme von Gross‘ Vortrag horchend, dass er eine ganze Reihe von Dingen schlicht voraussetzt, die vielen seiner Zuhörer nicht bekannt/präsent sein dürften: Der Umstand, dass Elementarteilchenkräfte durch Teilchenaustausch übertragen werden. Die Äquivalenz von Energie und Masse — nur deswegen macht es Sinn, eine Energie und eine Masse, hier: die Vereinheitlichungsenergie und die Masse der W-Bosonen, zu vergleichen. Kein Wunder, dass mir einige Nicht-Physiker unter den Young Researchers in anderem Zusammenhang erzählt hatten, die Physik-Vorträge seien ja schrecklich, da verstehe man gar nichts. Um meine Leser nicht ebenso schnell zu verlieren wie Gross seine Hörer, überspringe ich seine nächsten Ausführungen und komme zu:

Problem Nr. 3: Dunkle Materie! Ich hatte in einem früheren Beitrag schon kurz zusammengefassst, was es mit dunkler Materie auf sich hat, und dass nicht klar ist, aus welcher Sorte von Teilchen diese von den Astronomen postulierte Materie besteht. Etwa in dieser Art hat Gross die dunkle Materie auch eingeführt, inklusive des schönen Bildes vom Bullet-Cluster.

Dann die Spekulation, die alle drei Probleme lösen soll: Supersymmetrie, eine abstrakte Symmetrie, die jeder herkömmlichen Teilchensorte eine Partnersorte von Teilchen zuordnet. Gross unternimmt den Versuch, die (in der Tat sehr elegante) geometrische Grundlage der Supersymmetrie, so genannte Superräume, einzuführen. Ich vermute, dass seine Erklärungen mit einigem Abstand über die Köpfe der meisten seiner Zuhörer hinweg gingen, und will sie hier gar nicht erst genauer nachzeichnen. Jedenfalls sind einige der supersymmetrischen Partnerteilchen in der Tat gute Kandidaten für Bestandteile der dunklen Materie, und wenn wir Glück haben, werden sie am LHC nachgewiesen. Und, ach ja: Bezieht man Supersymmetrie ein, dann klappt es auch wieder mit der Vereinigung der Elementarteilchen — dann laufen die drei Kraftstärke-Kurven bei hohen Energien wieder brav zusammen.

Kommen wir zu dem, was mich am meisten an diesem Vortrag ärgert. Ich habe es eingangs schon gesagt: Fast alles, was Gross da erzählt, ist uralt, ausgenommen einige der Belege für die Existenz der dunklen Materie. Das schöne Bild von den zusammenlaufenden supersymmetrischen Kraftstärke-Kurven wurde neu veröffentlicht, als ich noch im Studium war, vor rund 15 Jahren. Supersymmetrie als Ganzes und der Superraumformalismus, den Gross da vorstellt, sind noch einmal deutlich älter; dass Supersymmetrie eine „revolutionäre neue Idee“ sei, wie Gross sagt, hinterlässt in dieser Hinsicht sicher bei einer Reihe von Zuhörern einen falschen Eindruck. Neu im Vergleich zum direkt davor beschriebenen Standardmodell ja. Neu in zeitlicher Hinsicht nein.

Gross sagt nicht ausdrücklich, dass er hier brandneue, aktuelle Resultate vorstellen würde, aber es fällt schon auf, dass er — zumindest im gesprochenen Wort, seine Folien habe ich nicht abfotografiert und kann sie deswegen nicht noch einmal nachprüfen — umgekehrt keinerlei Worte darüber verliert, dass das allermeiste von dem, was er sagt, schon ziemlich alt ist. Was umgekehrt nahelegt, dass sich bei diesen fundamentalen Fragen nun schon seit einiger Zeit nichts getan hat, ein Umstand, der — gerade im Vergleich mit anderen Vorträgen, die rasante Entwicklungen der letzten Jahre nachzeichnen — unbedingt erwähnenswert ist. Wenn man die „Frontiers“, die Grenzen der Teilchenphysik so zieht, wie es Gross in diesem Vortrag tut, dann steht die Teilchenphysik eben schon seit mehr als zehn Jahren ziemlich unverändert vor diesen Grenzen. Bei einem Treffen, wo es nicht zuletzt darum geht, wie Wissenschaft gemacht wird, und wie man sich als junger Forscher viel versprechende und fruchtbare Forschungsfelder aussucht, besteht zu solcher scheinbaren Unbeweglichkeit unbedingt Diskussionsbedarf.

Was nicht heißt, dass sich zum Standardmodell und zur Teilchenphysik nicht auch neuere Dinge sagen ließen — sogar einige neue, nicht recht erklärbare Messdaten gibt es. Außerdem wären da noch: Die generelle Frage, wie es mit der Teilchenphysik weitergeht, wenn am LHC weder Higgs noch supersymmetrische Teilchen gefunden werden. Die verschiedenen Versuche, eine Theorie der Quantengravitation zu finden. Nicht zu vergessen die vielen Forschungsergebnisse derjenigen Teilchenphysiker, die sich nicht mit den Grundlagen des Standardmodells beschäftigen, sondern beispielsweise damit, wie aus diesen Elementarteilchen ein zusammengesetztes Teilchen wie ein Proton (besteht aus drei Quarks) wird. Stoff genug, um einen schönen Vortrag über die tatsächlichen Grenzen der Teilchenphysik zu halten, gäbe es. Stattdessen werden nun leider einige Zuhörer mit dem falschen Eindruck nach Hause gehen, hier aus berufenem Munde neueste Entwicklungen der Teilchenphysik erklärt bekommen zu haben.

Markus Pössel