Veröffentlicht 13. April 2018 von Lisa Vincenz-Donnelly
„Die Wissenschaft muss sich auf einen Marathon einstellen!“
Am 22. April 2017 fand in mehr als 600 Städten weltweit der March for Science statt. Die Vize-Präsidentin des Kuratoriums der Lindauer Nobelpreisträgertagungen und ehemalige Präsidentin des European Research Council Helga Nowotny war Erstunterzeichnerin des Aufrufs zum Vienna March for Science. Sie hielt am 22. April die Abschlussrede in Wien. Auch Verhaltensbiologin Elisabeth Oberzaucher setzte sich aktiv für den March for Science ein: Gemeinsam mit ihrem Science-Buster-Kollegen Martin Puntigam moderierte Sie die Abschlusskundgebung des March for Science in Wien. Wir haben mit den beiden Wissenschaftlerinnen darüber gesprochen, warum tausende Menschen auf die Straße gegangen sind, um sich für die Wissenschaft und eine faktenbasierte Politik einzusetzen.
Wie war die Stimmung beim March for Science in Wien? Waren hauptsächlich Wissenschaftler dort?
Helga Nowotny: Die Stimmung war ausgezeichnet: Mehr als 2000 Menschen sind mit marschiert. Darunter waren nicht nur Wissenschaftler, auch Bekannte und Familienmitglieder waren mitgekommen.
Elisabeth Oberzaucher: Als ich im Votivpark ankam, bin ich als erstes einem amerikanischen Wissenschaftler begegnet. Er hatte zuvor auf einem Kongress in Wien gesprochen und hat sich anschließend die Zeit genommen, auch noch zum Marsch zu kommen. Es sind also nicht nur Wiener marschiert. Besonders schön war auch, dass sehr viele Kinder dabei waren.
Warum unterstützen Sie den March for Science?
Elisabeth Oberzaucher: Die Wissenschaft ist unsere größte und wichtigste Hoffnung, nicht zuletzt, da im Moment häufig von „alternativen Fakten“ die Rede ist. Das Problem ist, dass Wissenschaft mit Meinung gleichgesetzt wird und so in der öffentlichen Wahrnehmung ihre eigentliche Bedeutung verliert. In der Wissenschaft werden mit sehr gewissenhaften Methoden gearbeitet und Erkenntnisse gewonnen. Gleichzeitig können wir aber auch den Anspruch an die Wissenschaft, letztgültige Antworten zu liefern, nicht erfüllen. Doch unsere Erkenntnisse werden immer fundierter und immer stabiler.
Helga Nowotny: Seit langem heißt es, die Wissenschaft habe Fakten, und die Gesellschaft habe Werte. Diese Trennung müssen wir endlich aufheben – sie ist nicht mehr gültig! Denn auch die Wissenschaft beruht auf Werten. Einer dieser Werte ist die Freiheit, Fragen zu stellen und ins Unbekannte vorzustoßen. Gleichzeitig fallen Fakten nicht vom Himmel, sondern sind das Ergebnis eines langen Prozesses wissenschaftlichen Arbeitens. Als Wissenschaftler müssen wir besser vermitteln, wie wir zu Fakten kommen. Wir müssen den Menschen eine größere Urteilsfähigkeit zutrauen und ihnen auch dabei helfen, diese Urteilsfähigkeit zu erlangen. Das ist nötig, wenn wir Informationen in Wissen verwandeln wollen.
Müssen Wissenschaftler also mehr kommunizieren? Hat vielleicht ihre Zurückhaltung zur aktuellen Situation beigetragen?
Helga Nowotny: Natürlich kann man immer mehr kommunizieren, aber die Wissenschaft ist nicht völlig isolierbar von dem, was in der Gesellschaft vor sich geht. Und wenn die Politik die Wissenschaft auf die Seite schiebt oder versucht sie zu funktionalisieren, dann schafft sie Platz für Populisten aller Art. Die Wissenschaft muss einsehen, dass sie sich nicht völlig vom politischen Geschehen verabschieden kann. Denn sie ist Teil der Gesellschaft. Es gilt, das eigene Profil zu schärfen, und dabei hilft es natürlich, intensiver zu kommunizieren.
Elisabeth Oberzaucher: Man muss die Wissenschaftler etwas in Schutz nehmen und sich klar machen, was sie alles leisten müssen. Jeder erwartet die eierlegende Wollmilchsau. Sie sollen hervorragend kommunizieren können, ausgezeichnete Lehrveranstaltungen halten, gute Mentoren sein, in großer Menge und hoher Qualität publizieren und dazu auch noch gute und kreative Forscher sein – und all das am besten noch in perfektem Deutsch und Englisch. Auch ökonomisches Wissen ist gefordert, um Forschungsprojekte zu leiten. Wenn wir erwarten, dass alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler exzellente Kommunikatoren sind, dann fordern wir tatsächlich zu viel. Die Wissenschaftskommunikation – die Brücke zwischen den vielzitierten Elfenbeintürmen und der Gesellschaft zu schlagen – ist eine große Leistung, die wir anerkennen, aber nicht von jedem erwarten sollten.
Die Initiative zum March for Science in Washington, D.C. entstand als direkte Reaktion auf die Politik von US-Präsident Trump. Warum sind jetzt parallel auch Menschen in Wien oder München auf die Straße gegangen?
Helga Nowotny: Es ist wichtig, zu betonen, dass es ein Marsch für die Wissenschaft und nicht gegen etwas war. Natürlich hat die aktuelle politische Situation in den USA unterschwellig eine Rolle gespielt, aber der Marsch kann nicht auf eine Anti-Trump-Demonstration reduziert werden. Es ging vielmehr darum, etwas für die Wissenschaft zu tun.
Elisabeth Oberzaucher: Ich sehe das genauso. Die politische Situation in den USA war ein Auslöser, der Keim. Darum herum entwickelt sich nun etwas Größeres: Wir haben den Weckruf gehört, reflektieren die Situation und diskutieren, wie wir sie verbessern können. Es entwickelt sich zunehmend ein Bewusstsein dafür, dass wir alle die Wissenschaft brauchen, um diese schwierigen Zeiten zu meistern.
Welche Gefahren birgt die „postfaktische“ Mentalität, welche diese schwierigen Zeiten zu prägen scheint?
Helga Nowotny: Wir sehen vor allem durch die ständig wechselnden Positionen von US-Präsident Trump, wie instabil und volatil die geopolitische Situation geworden ist. Das hat weltweite Auswirkungen. Teil der „postfaktischen“ Mentalität ist der verantwortungslose Umgang mit stabilen Erkenntnissen, der gerade jetzt angesichts der enormen globalen Probleme – betrachten wir nur den Klimawandel – extrem gefährlich ist.
Elisabeth Oberzaucher: Es gibt in der Ökologie ein oft zitiertes Dilemma: die ‚Tragedy of the Commons‘. Es geht darum, dass gemeinschaftlich verwaltete Ressourcen Probleme bergen, wenn sie auf individuelle Ziele stoßen. Individuen trachten stets danach, für sich das Maximum herauszuholen. Beispiele sind die Überfischung der Meere oder die Ausbeutung fossiler Brennstoffe. Dies führt zu einer Überausbeutung der Ressourcen und letztlich zu einem Zusammenbruch des ganzen Systems. Dank wissenschaftlicher Erkenntnisse können wir solche Phänomene besser verstehen und auf deren Grundlage intervenieren. So kann Wissenschaft eine solide Grundlage für die Entwicklung von Maßnahmen bilden. Mit einer postfaktischen Mentalität dagegen pickt man sich selektiv Argumente aus der allgemeinen Diskussion heraus und nutzt diese – der ‚Tragedy of the Commons‘ folgend –, um seine individuellen Ziele voranzutreiben. Wir müssen aus dem Übermaß an Argumenten die tatsächlich wissenschaftlich fundierten Fakten hervorheben, damit individuelle Ziele nicht mit postfaktischen Argumenten untermauert werden können.
Helga Nowotny: Wissenschaft wird gerne aufgegriffen, wenn sie gute Nachrichten zu verkünden hat. Wenn es aber darum geht, unangenehme Wahrheiten zu vermitteln, muss sich die Wissenschaft auch der Widerstände bewusst sein – kognitive, aber auch gesellschaftliche, ökonomische und interessengeleitete.
Sie beobachten die Interdependenz von Wissenschaft und Gesellschaft seit langer Zeit. Ist die aktuelle Situation einzigartig in der Geschichte?
Helga Nowotny: Einzigartig ist die starke Verflechtung mit wirtschaftlichen Prozessen. Das Streben nach Wirtschaftswachstum ist nach wie vor eine treibende Kraft in der Politik, und aus Sicht von Politikern sind Wissenschaft und Technik die Motoren dieses Wachstums. Die großen Fortschritte bei den intelligenten Technologien beispielsweise sind durchaus beeindruckend, doch wir müssen uns auch dem Problem wegfallender Arbeitsplätze stellen.
Wie geht es jetzt nach dem March for Science weiter? Sind Sie optimistisch, dass sich mit der aktuellen Bewegung etwas ändert?
Elisabeth Oberzaucher: Wenn es denn eine Bewegung wird. Der March for Science ist nur ein Anfang. Wir müssen jetzt weiter daran arbeiten, die angesprochenen Ziele zu verfolgen. Es ist wichtig, dass wir Äcker bestellen, die wir Wissenschaftler bis dato unbestellt gelassen haben. Ein Beispiel sind die sozialen Medien – eine Kommunikationsform, die wir bisher noch viel zu wenig nutzen. Hier müssen wir uns in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Auch die interdisziplinäre Kommunikation sollten wir stärker fördern. Durch die technologischen Innovationen entstehen zweifelsohne auch Fragestellungen, die ethische Implikationen haben. Also müssen wir als Wissenschaftler sehr viel mehr über unsere Disziplingrenzen hinausdenken. Es gilt, die Wissenschaft zu öffnen, sowohl nach innen als auch nach außen. Das ist ein fortwährender Prozess. Doch wenn wir dran bleiben, dann wird sich die Lage auch verbessern. Da bin ich sehr optimistisch.
Sind Sie auch so optimistisch, Frau Nowotny?
Helga Nowotny: Dies ist der Beginn eines Prozesses. Ich denke, da waren sich alle einig, die am March for Science beteiligt waren. Da gestern der Wiener City-Marathon stattgefunden hat, würde ich gerne diese Metapher verwenden. Mit einem March ist es nicht getan: Die Wissenschaft muss sich auf einen Marathon einstellen!