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Veröffentlicht 4. Juli 2014 von Hanno Charisius

Die Molekularbiologie des Fußballspiels

Kein Fußballer könnte zum Spiel antreten, wenn nicht gleichzeitig in jeder seiner Zellen ein fein justiertes und sehr schnelles Spiel zwischen Molekülen stattfinden würde. Die Nobelpreisträger John Walker, Hartmut Michel und Peter Agre erklären ein paar Regeln.

Sobald die deutsche Elf heute Abend ins Estádio do Maracanã Rio De Janeiro Stadion einläuft, werden sich hunderte von Kameras auf die Spieler richten. Den Hochleistungsoptiken wird dann nicht einmal der kleinste Schweißtropfen entgehen, selbst wenn der am anderen Ende des Grüns von Philipp Lahms Nase tropft – falls der überhaupt antritt.

Was auch den besten Fernsehkameras entgeht, ist das Zusammenspiel von Molekülen, das mindestens so kunstvoll ist, wie das Dribbling von Mario Götze oder Franck Ribery aber, weitaus zuverlässiger funktioniert als das Flankenspiel der Deutschen. Und sie stehen auch – anders als Thomas Müller in den letzten beiden Spielen – immer an der richtigen Stelle. Spätestens hier wird der Vergleich zwischen Menschen und Molekülen aber ungerecht. Denn es gibt sehr viele Molekül-Kopien in einer Zelle aber natürlich nur einen Thomas Müller auf dem Platz.

Fürs Fußballgucken gab es bislang noch keinen Nobelpreis, fürs Moleküleschauen schon ziemlich viele. Ohne die Arbeit von mindestens drei der 36 nach Lindau gereisten Laureaten wüssten wir vielleicht heute noch nicht, warum uns warm wird, wenn wenn wir uns bewegen, warum wir schwitzen, warum wir Wasser trinken und Luft atmen müssen. Peter Agre wurde im Jahr 2003 für die Entdeckung der Aquaporine geehrt. Das sind Poren in den Zellmembranen, die für den Wasserhaushalt des Körpers unerlässlich sind. John Walker bekam seinen Preis 1997 dafür, dass er als erster heraus fand, wie Zellen das Molekül Adenosintriphosphat (ATP) herstellen, das der wichtigste Energielieferant für nahezu alle Vorgänge im Körper ist. Hartmut Michel schließlich fällt etwas aus der Reihe. Er bekam seinen Nobelpreis 1988 dafür, dass er den Aufbau des Photosyntheseapparts von Purpurbakterien ergründet hat. Menschen betreiben keine Photosynthese. Michel nutzte aber später die von ihm und seinen Kollegen entwickelten Methoden, um auch die Struktur und Funktion des Enzyms Cytochrom-c-Oxidase (COX) zu beschreiben, das eine Schlüsselrolle spielt im Energiestoffwechsel.

All diese Prozesse spielen sich an Membranen ab, die entweder die Zellen umhüllen oder Organellen im Zellinneren. Damit Informationen und Substanzen durch diese Barrieren dringen können, werden sie von Proteinen durchspannt, die verschiedenste Funktionen haben. Viele arbeiten wie Pumpen, andere lösen ein chemisches Signal aus, wenn sie einen Reiz empfangen. Wie wichtig sie für die Gesundheit sind, belegt Hartmut Michel mit einer eindrucksvollen Zahl: „80 Prozent unserer Medikamente interagieren mit Membranproteinen.“ Fünf Nobelpreise listet er auf, die bereits für die Arbeit an solchen Proteinen vergeben worden sind. Und er glaubt, dass es noch mehr werden.

Hartmut Michel in Lindau 2014 ©Christian Flemming/Lindau Nobel Laureate Meetings
Hartmut Michel in Lindau 2014 ©Christian Flemming/Lindau Nobel Laureate Meetings

Das COX-Enzym verbraucht praktisch den gesamten Sauerstoff, den der Körper aufnimmt. Es verknüpft Sauerstoff mit Wasserstoff zu Wasser und schleust gleichzeitig Protonen durch die Mitochondrienmembran. Dadurch entsteht ein Konzentrationsgefälle zwischen den beiden Seiten der Membran, das dem Enzym ATP-Synthase dazu dient, den universellen biologischen Energielieferanten ATP herzustellen. Dabei gelangen Protonen auf die andere Seite der Membran und stehen den Oxidasen wieder zur Verfügung.

Wir atmen also, damit die molekularen Maschinen in unseren Zellen einwandfrei funktionieren können. Die Enzyme sind nach Milliarden Jahren Evolution bereits soweit optimiert, dass nach Auffassung von Hartmut Michel nur noch der Sauerstofftransport von den Lungen bis zu den COX-Enzymen die Leistungsfähigkeit von Sportlern beschränkt.

John E. Walker in Lindau 2013 ©Rolf Schultes / Lindau Nobel Laureate Meetings
John E. Walker in Lindau 2013 ©Rolf Schultes / Lindau Nobel Laureate Meetings

Auch die ATP-Synthasen eignen sich nicht wirklich zur Leistungssteigerung von Athleten. Ein Mensch setzt unter Alltagsbelastung pro Tag etwa sein eigenes Körpergewicht an ATP um, bei großer Belastung kann das deutlich mehr werden. Weil die Zellen zusammen nur gut ein halbes Pfund davon speichern können, müssen die ATP-produzierenden Molekülmaschinen den ganzen Tag über ununterbrochen laufen. Wird der Körper gefordert, bildet er zwar mehr Mitochondrien und kann dadurch mehr Energie erzeugen. Wenn das ausgereizt ist, sieht auch John Walker nur noch beim Sauerstofftransport noch wirkliches Verbesserungspotential. Die Lungen nehmen genug auf, aber es kommt nicht soviel davon bei den Mitochondrien an, wie diese verbrauchen könnten. Das sei unter anderem ein Grund dafür, dass Erythropoetin so beliebt ist als Dopingmittel, sagt Walker. Dieses Hormon fördert die Blutbildung, und damit mehr Zellen, die den Mitochondrien den nötigen Sauerstoff liefern.

Durch körperliche Aktivität steigt allerdings auch die Menge sogenannter Radikale, bei denen Sauerstoff hochreaktive Verbindungen eingegangen ist, im Gewebe an. Diese haben seit ihrer Entdeckung einen schlechten Ruf, weil sie zum Beispiel für Schäden am Erbgut und an den molekularen Maschinen der Zellen verantwortlich gemacht werden. Warum Sport dennoch – zumindest wenn er wohldosiert betrieben wird – nachweislich gesundheitsfördernd ist, sei ein Paradoxon, so Walker. Die Rolle der reaktiven Sauerstoffspezies im Körper müsse noch einmal grundlegend überdacht werden.

Die Proteine, denen sich Peter Agre gewidmet hat, durchbohren nicht die Hülle der Mitochondrien, sondern die der Zellen selbst. Wie so viele Entdeckungen, von denen die Laureaten in Lindau in der vergangenen berichteten, waren auch die Aquaporine ein Zufallsfund. Eigentlich wollten er und seine Kollegen ein ganz anderes Molekül untersuchen, aber die Porenproteine tauchten so hartnäckig in ihren Proben auf, dass Agre sie sich irgendwann genauer anschaute. „Wir hatten keine Ahnung, was es tut. Wir haben das Aquaporin nicht entdeckt, es hat uns gefunden.“

Peter Agre in Lindau 2014 ©Rolf Schultes / Lindau Nobel Laureate Meetings
Peter Agre in Lindau 2014 ©Rolf Schultes / Lindau Nobel Laureate Meetings

Inzwischen steht fest, dass es nicht nur eine Sorte von Aquaporinen gibt, sondern viele verschiedene. Viele Gewebearten haben ihre eigenen Wasserporen. Agre bezeichnet sie als Kanalisation des Körpers. Nur durch sie können wir schwitzen, um unsere Körpertemperatur zu regulieren. In der Niere filtern sie Wasser. Im Gehirn und in den Augen sorgen sie für den korrekten Flüssigkeitsstand. Auch Speichelzellen und die roten Blutkörperchen brauchen Wasserporen, um ihren Flüssigkeitshaushalt schnell regulieren zu können. Und bevor Tränen die Wange herunter kullern, sickern sie durch Aquaporine in den entsprechenden Drüsen. Nicht nur Säugetiere besitzen diese Poren in ihren Zellhüllen, sondern auch Bakterien und Pflanzen.

Die Fußballspieler in der brasilianischen Nachmittagssonne wird es vielleicht nicht besonders interessieren, warum sie schwitzen können. Wichtig ist, dass sie es tun. Nicht nur, damit sie Tore schießen, sondern auch, damit sie in der Hitze des Spiels nicht umfallen.

 

Hanno Charisius

Hanno Charisius is a science journalist and biologist by training. He writes for a variety of German language public media and co-authored books about biohackers and the human gut microbiome.