Veröffentlicht 29. Oktober 2015 von Susanne Dambeck
Die vielen Themen des Steven Chu
Im November 2008 erhielt Steven Chu, Direktor des Lawrence Berkeley National Laboratory (LBNL), einen Anruf des frisch gewählten Barack Obama: Er wolle Chu in Chicago treffen. Nach eigener Aussage hatte Chu zunächst keine große Lust, spontan dorthin zu fliegen, ließ sich aber überzeugen, weil Obama sagte, dass er ein wirklich interessantes Angebot für ihn hätte. Zu dieser Zeit hatte Chu das LBNL in nur vier Jahren zu einer Innovationsschmiede für Energietechnologie gemacht. Schließlich trafen sich die beiden Männer, redeten eine Stunde lang – und Chu wurde in der US-Geschichte der erste Minister mit Nobelpreis. Er selbst erzählte diesen Sommer in Lindau von dieser Begegnung.
In seiner vierjährigen Amtszeit etablierte Chu unter anderem ein neues Förderprogramm für erneuerbare Energien mit dem Namen ARPA-E (Advanced Research Projects Agency–Energy). Hierbei geht es um Hochrisikoinvestitionen in Technologien, die zwar voraussichtlich in neun von zehn Fällen zu keinem Durchbruch führen werden. Aber ein Zehntel aller Projekte hat vielleicht die Chance, weitreichende Veränderungen im Energiesektor anzustoßen. Außerdem gründete er drei Forschungsgruppen innerhalb seines Ministeriums, sogenannte „Innovation Hubs“. Chu reaktivierte zudem die Förderung von Sonnenenergie mit dem SunShot-Prorgramm und half bei der Gründung des „US-China Clean Energy Research Centers“ (CERC).
Bei all diesen Aktivitäten bestand Chus wichtigste Rolle darin, die richtigen Experten an den Tisch zu holen „und anschließend mit Zähnen und Klauen dafür zu kämpfen, dass die Bürokratie sie nicht fertig macht“ (ebenfalls aus seinem Lindau-Vortrag 2015). Während der Deepwater-Horizon Ölpest 2010 bat Präsident Obama seinen Energieminister Chu, dem BP-Konzern beim Versiegeln der unterirdischen Ölquelle zu helfen, obwohl eigentlich der Innenminister zuständig war. Wieder bestand Chus Rolle darin, die passenden Experten zu finden.
Steven Chu brachte seine Neugier und Kreativität, seine Beharrlichkeit und seine Führungsqualitäten als Forscher mit in die Politik. Aber warum war er überhaupt in die Politik gegangen, warum hat er sich das angetan? Die Antwort lautet: Klimaschutz ist für Chu eine Herzensangelegenheit. Er erklärte auf der Lindauer Tagung 2013: „Wenn die Notwendigkeit die Mutter aller Erfindungen ist, dann ist der Klimawandel die Mutter aller Notwendigkeiten.“ Und als Experimentalphysiker war er zur rechten Zeit am rechten Ort, als es in Obamas erstem Kabinett darum ging, Innovationen, deren Finanzierung und neue Zielvorgaben zusammen zu bringen. So forderte der neue Energieminister, dass es bis zum Jahr 2020 Solarmodule geben soll, die ein Watt elektrischer Leistung für einen Dollar produzieren können. Außerdem strebt eine Initiative von Obama und Chu ein amerikanisches Elektroauto an, das erstens nicht mehr als 25.000 US-Dollar kosten darf, zweitens 300 Meilen mit einer „Tankfüllung“ fährt und drittens binnen kurzer Zeit aufzuladen ist.
Obwohl Steven Chu in seinem Politikfeld viel anstoßen konnte, ist er doch im Innern ein Grundlagenforscher geblieben: Sogar als Energieminister leitete er noch eine Forschungsgruppe und schrieb nachts und am Wochenende Fachartikel. Seinen Nobelpreis hatte er viel früher erhalten, bereits 1997 im Alter von nur 49 Jahren, für „das Kühlen und Festhalten einzelner Atome durch Laserstrahlen“. Er teilte diesen Physiknobelpreis mit Claude Cohen-Tannoudji und William D. Phillips, die ähnliche Versuche wie Chu und seine Kollegen durchgeführt hatten.
Schon als Doktorand an der University of California in Berkeley hatte Chu einen ausgefeilten Laser gebaut, mit dem er offene Fragen der Quantenphysik angehen wollte, zum Beispiel zur Natur schwacher Wechselwirkungen zwischen Elementarteilchen. Nach Abschluss seiner Doktorarbeit wechselte er zu den berühmten Bell Laboratories in New Jersey, wo er begann, einzelne Atome mit Laserstrahlen extrem abzukühlen und „festzuhalten“. Chu und seine Kollegen entwickelten ein neuartiges Instrument mit insgesamt sechs Laserstrahlen, die jeweils paarweise angeordnet in die drei Raumrichtungen deuteten. In dieser „Falle“ konnten Atome mit bislang unerreichter Genauigkeit studiert werden. Nach einem erneuten Wechsel an die kalifornische Stanford-Universität entwickelte Chu ein „Atomspringbrunnen-Interferometer“, in dem sich Atome im freien Fall studieren lassen, das ermöglicht eine sehr genaue Messung der Schwerkraft, was schließlich zur Entwicklung extrem genauer Atomuhren beitrug.
Schon vor seinem Wechsel ans LBNL 2004 hatte sich Chu dem Studium biologischer Moleküle zugewandt. Seine Arbeitsgruppe schaffte es beispielsweise, kleine Plastikkügelchen an die Enden einzelner DNA-Moleküle zu kleben. Mit Hilfe eines fluoreszierenden Farbstoffs und eines speziellen Lasers konnten die Forscher nun ein solches DNA-Molekül unter dem Lichtmikroskop betrachten und sogar bewegen (es sah aus wie ein Videospiel, und seine Doktoranden machten laut Chu tagelang nichts anderes). Aktuell forscht Chu an vielen Fronten: Sein Team in Stanford schaffte es, die Auflösung eines Lichtmikroskops auf 0,5 Nanometer zu senken. Außerdem konnten die Forscher „live“ den Signalweg eines Proteins namens „Ras“ beobachten, das als Protoonkogen bekannt ist und bei vielen Krebserkrankungen eine wichtige Rolle spielt. Sie fanden heraus, dass die Dimerbildung für die Krankheit eine entscheidende Rolle spielt. Also schlugen sie die Entwicklung von Krebsmedikamenten vor, die einen solchen Zusammenschluss zweier Moleküle verhindern.
Nach seinem vierjährigen „Urlaubssemester“ in der Politik (Chu über Chu) kehrte er nach Stanford zurück und forschte nicht nur zur hochauflösenden Fluoreszenzmikroskopie, sondern interessiert sich auch für Neurowissenschaften – wieder ein neues Themenfeld. An seiner Universität gibt es eine informelle Forschergruppe, die neurowissenschaftliche Fragen diskutiert und Lösungen sucht. Diese Gruppe entwickelte beispielsweise ein Verfahren, mit dem sich einzelne Zellen im lebenden Organismus verfolgen lassen, beispielsweise Krebszellen. Sie verwenden dafür winzige fluoreszierenden Farbstoffpartikel aus Seltenen Erden. In Kombination mit der STED-Methode der Lichtmikroskopie wollen die Forscher nun „dem lebenden Gehirn beim Denken zusehen“. Für diese Aufgabe hat die Gruppe zusätzlich Nanopartikel aus Diamanten entwickelt.
Doch Chu wäre nicht Chu, wenn er nicht noch viele andere Eisen im Feuer hätte. Beim Thema Nanotechnologie befasst er sich nicht nur mit der Bildgebung in der Biologie, sondern auch mit Lithium-Ionen-Akkus. Heute haben diese Akkus meist Anoden aus Silizium oder Graphit, weil Lithium als Anode sich zu stark erhitzt, zu reaktiv ist und sich außerdem ausdehnt, was zum Kurzschluss des ganzen Akkus führen kann. Wenn man eine Lithium-Anode jedoch mit einer hauchdünnen Schicht aus Kohlenstoff-„Kuppeln“ überzieht, kann sie ohne diese störenden Effekte arbeiten – das Ergebnis wäre eine wesentlich effizientere Akku-Bauweise. Das bringt uns wieder zurück zu Chus Zielvorgaben als Energieminister: sichere, leichte und vor allem bezahlbare Akkus nicht nur für Elektroautos, sondern auch für Privathaushalte und sogar für Energieversorger, um Schwankungen bei der Erzeugung durch erneuerbare Energiequellen auszugleichen.
Der vielseitige Steven Chu nahm bislang an fünf Lindauer Nobelpreisträgertreffen teil und hielt insgesamt vier Vorträge: Jeder einzelne Vortrag behandelt völlig unterschiedliche Themen, alle Präsentationen sind informativ und unterhaltsam. Chu hat schon zur Quantenphysik, Molekularbiologie und hochauflösende Mikroskopie geforscht, dann kümmerte er sich um Energietechnologie und Energiepolitik, schließlich engagierte er sich im Klimaschutz (und das eine oder andere Thema habe ich sicherlich vergessen). Auf eines können wir uns jedoch verlassen: Steven Chu wird sich immer wieder mit neuen spannenden Dingen befassen. Wir in Lindau freuen uns, bei künftigen Nobelpreisträgertreffen mehr darüber zu erfahren.