Veröffentlicht 21. Januar 2016 von Susanne Dambeck
Der lange Weg zum Fusionsreaktor
Mit der Kernfusion verbindet sich das jahrzehntealte Versprechen einer unerschöpflichen und umweltfreundlichen Energiequelle, emissionsfrei und ohne die Langzeitstrahlung gängiger Kernkraftwerke. Die Grundidee ist denkbar einfach: Wie in der Sonne sollen Wasserstoff-Atome zu Helium verschmelzen, wobei enorme Energiemengen freigesetzt werden. Fusionsforscher hoffen, in Großanlangen solche Sonnen-Bedingungen auch auf der Erde nachzubauen.
Andererseits werden diese Versprechen seit ungefähr sechs Jahrzehnten wiederholt, und es gibt immer noch keinen Forschungsreaktor, der mehr Energie produziert als verbraucht. Interessanterweise wird ein solcher Reaktor immer ‚in fünfzig Jahren‘ versprochen – egal, wann man gefragt hat. Im Moment liegt die Prognose für ein solches Kraftwerk, das diesen Namen auch verdient, laut vorsichtiger Schätzungen ungefähr um Jahr 2060. Und über das Fusions-Großexperiment ITER hört man zumeist nur Meldungen über massive Verzögerungen und Kostenexplosionen. Wo steht also die Fusionsforschung heute? Irgendwo zwischen euphorischen Werbetexten und komplizierten Realitäten.
Letzten Monat wurde ein erfolgreicher Start der Wendelstein 7-X Anlage als großer Erfolg der Fusionsforschung gefeiert. Doch auch dieses Experiment ist weit davon entfernt, Energie zu produzieren, ganz im Gegenteil: Das Aufheizen des Plasmas auf geplante 100 Millionen Grad Celsius und die Kühlung der Magnetspulen auf Supraleitfähigkeit verschlingen Unmengen Energie. Worin besteht also der große Durchbruch, der im Dezember 2015 weltweit beachtet wurde? Zunächst müssen hier einige Grundbegriffe und Eigenheiten der Fusionsforschung erklärt werden.
Physiker sprechen von ‚Plasma‘ als dem vierten Aggregatzustand, neben den klassischen Zuständen fest, flüssig und gasförmig. Er entsteht, wenn Gase soweit erhitzt werden, dass sich die äußeren Elektronen von den Atomen oder Molekülen lösen, wodurch eine große Zahl geladener Teilchen entsteht: Diese machen das Plasma elektrisch leitfähig. Die Leitfähigkeit wiederum ermöglicht den Einschluss des Plasmas innerhalb eines Magnetfeldes. Ein solcher Einschluss ist nötig, denn heißes Plasma darf die Innenwände eines Experiment-Reaktors nicht berühren: es kühlt dann schlagartig ab und der Versuch ist vorbei. Nur die leichten Elemente des Periodensystems geben Energie ab, wenn ihre Kerne fusionieren (Elemente leichter als Eisen), die schweren Elemente hingegen absorbieren bei einer Kernfusion Energie. Umgekehrt wird nur bei der Kernspaltung schwerer Elemente Energie freigesetzt – das geschieht in den existierenden Kernkraftwerken.
Seit den Anfängen der Fusionsforschung haben sich zwei verschiedene Bauweisen durchgesetzt: der Tokamak- und der Stellarator-Typ. Die Ideen für den Tokamak stammen aus der Sowjetunion, für den Stellarator aus Princeton, USA. Beide Typen sehen torusförmig aus, doch im Tokamak ist das Magnetfeld innen im Torus stärker als außen, weshalb geladene Teilchen nach außen streben und sogar entweichen könnten, was das ganze Experiment instabil macht. Um die Teilchen innerhalb des Torus zu halten, muss das Plasma ‚verdrillt‘ werden, was mit Hilfe eines Stroms erreicht wird, der direkt durch das Plasma geleitet wird. Dieser Strom setzt wiederum eine ganze Reihe Effekte in Gang, die das Plasma ebenfalls instabil machen. Deshalb können Tomakak-Anlagen bislang nur kurze Zeit am Stück laufen. Doch die größten und leistungsfähigsten Fusions-Anlagen funktionieren nach dem Tokamak-Prinzip, so auch der in Bau befindliche ITER.
Der Stellarator-Typus löst hingegen das Problem der nach außen driftenden Partikel durch eine innovative Bauweise: Der Torus ist in sich so stark verdreht und gekrümmt, dass jeder Plasma-Partikel sich mal an der Innenseite, mal an der Außenseite befindet. Durch dieses Design entsteht gleichzeitig eine stabilisierende ‚Verdrillung‘ des Plasmas. Im Stellarator muss also kein Strom durchs Plasma fließen, er kann im Prinzip dauerhaft in Betrieb sein. Allerdings gibt es im heißen Plasma noch viel mehr Effekte als den Drift nach außen und die erwünschte Verdrillung. All diese Effekte müssen bei in einem innovativen Reaktor-Design berücksichtigt werden, um eine längere Laufzeit zu ermöglichen – und dem Endziel, der Energiegewinnung, ein Stück näher zu kommen.
Für die Forscher des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik in Greifswald muss das ‚first plasma‘ in ihrem Wendelstein 7-X Experiment am 10. Dezember 2015 wie ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk gewesen sein: Für eine Zehntelsekunde konnten sie Helium-Plasma bei einer Temperatur von ungefähr 10 Millionen Grad in einem Stellarator-Magnetfeld stabil halten. Vorher mussten die Magnetspulen auf supraleitende Temperaturen gekühlt werden, während das Helium im Vakuumgefäß stark erhitzt wurde. „Wir beginnen mit einem Plasma aus dem Edelgas Helium“, erklärt Prof. Thomas Klinger, der Projektleiter. „Erst im nächsten Jahr wechseln wir zu dem eigentlichen Untersuchungsobjekt, einem Wasserstoff-Plasma, denn mit Helium ist der Plasmazustand leichter zu erreichen.“ In den nächsten Jahren soll vor allem das Stellarator-Magnetfeld getestet werden, Fusions-Experimente sind vorerst nicht geplant.
Das ITER-Experiment wird zurzeit neben dem Atomforschungszentrum in Cadarache in Südfrankreich gebaut; die Abkürzung steht für ‚International Thermonuclear Experimental Reactor‘. Die Bauherren sind sieben internationale Partner: die Europäische Union, Russland, die USA, China, Japan, Indien und Südkorea. Im Jahr 2005 hieß es noch, dass ITER ungefähr 5 Milliarden Euro kosten sollte, aber bereits fünf Jahre später war von 15 Milliarden Euro die Rede, mit einer Aussicht auf ‚first plasma‘ im Jahr 2027. Inzwischen wird mit weiteren Kostensteigerungen und Verzögerungen gerechnet. Damit bekommt ITER die unrühmliche Auszeichnung, die teuerste terrestrische Forschungskooperation aller Zeiten zu sein – nur die Internationale Raumstation ISS ist teurer.
Wie konnte es dazu kommen? Im Jahr 2013 veröffentlichte Prof. William Madia, selbst ein anerkannter Fusionsforscher, einen internen Bericht über die ITER-Managementfehler. Er und sein Team kommen zu dem Schluss, dass vor allem nationale Egoismen und eine nur schwach ausgeprägte Bündelung von Autorität für die Probleme der Vergangenheit verantwortlich waren. So werden zum Beispiel die supraleitenden Kabel in sechs verschiedenen Ländern produziert und anschließend nach Südfrankreich transportiert – das ginge deutlich effektiver mit einer Produktion vor Ort. Doch es gibt eine Vorgeschichte: Eigentlich hatte die EU den Zuschlag für die Kabelproduktion bekommen. Um sich gegenseitig keine Konkurrenz zu machen, schlossen sich alle Produzenten in ein Konsortium zusammen und wollten der ITER-Leitung die Preise diktieren. Als Reaktion spaltete diese den Auftrag in sechs Einzelaufträge – dann waren wieder die einheimischen Industrie-Lobbyisten am Zug.
Die ITER-Leitung hätte den Madia-Bericht gerne geheim gehalten, aber er fand seinen Weg in die Öffentlichkeit. Er endet mit 11 Empfehlungen, darunter die Forderung nach einem neuen Generaldirektor. In dieser Position begann nun der Franzose Bernard Bigot im März 2015 mit dem ITER-Bürokratieabbau – und in Cadarache wird endlich gebaut, jahrelang gab es hier nur eine große Brachfläche, dann eine Bodenplatte. In der Vergangenheit haben diese Verzögerungen und Kostensteigerungen zwar für schlechte Presse gesorgt, doch all diese Probleme sind letztlich politische Probleme und können kaum der Fusionsforschung selbst angelastet werden.
Vorläuferstudien für ITER wurden in England am Joint European Torus (JET) in Culham, Oxfordshire durchgeführt. Wichtige Details wie die Beryllium-Beschichtung der Kacheln im Vakuumgefäß, oder der ‚Staubsauger‘, mit dessen Hilfe überzählige Helium-4-Atome abgesaugt werden, stammen ursprünglich aus der JET-Anlage. Bereits 1997 erzielte sie einen Weltrekord, indem hier 16 Megawatt thermische Energie erzeugt wurden, während 24 MW nötig waren, um das Experiment zu starten. Das sind immerhin rund 66 Prozent: sicherlich nicht perfekt, aber es tut sich was in der Fusionsforschung. Schon im Jahr 2003 wurde in Culham mit kleinen Mengen Tritium experimentiert, ab 2018 sollen Versuchsreihen mit einem Deuterium-Tritium-Gemisch starten – der Brennstoff, aus dem auch die ITER-Träume sind.
Während sich also die Öffentlichkeit noch über Kostensteigerung und Managementfehler bei ITER aufregt, kommt die praktische Fusionsforschung langsam aber sicher in Fahrt.