Veröffentlicht 20. August 2015 von Susanne Dambeck
Bohr & Heisenberg: Zwei Physiker im besetzten Kopenhagen
Zwei Männer spazieren durch einen Park in Kopenhagen. Es ist ein Septembertag im Kriegsjahr 1941. Beide sind Physiker und beide Nobelpreisträger. Seit Jahren sind sie Kollegen, außerdem enge Freunde. Werner Heisenberg ist der eine, der führende Kopf im Uranprojekt der deutschen Wehrmacht. Der andere ist Heisenbergs langjähriger Mentor, der Däne Niels Bohr. Gemeinsam hatten sie 15 Jahre zuvor grundlegende Gesetze der Quantenmechanik formuliert.
An diesem Herbsttag sind sie ins Freie gegangen, um nicht abgehört zu werden: Bohr wird im besetzten Dänemark vom deutschen Geheimdienst überwacht, die Deutschen misstrauen ebenso seiner politischen Einstellung wie seiner Herkunft, denn Bohrs Mutter stammte aus einer jüdischen Familie. Jeder politische Satz, der gesagt wird, oder jedes vermeintliche Geheimnis, das ausgeplaudert wird, kann nicht nur Bohr, sondern auch Heisenberg gefährlich werden, weil auch dieser davon ausgehen muss, dass alles sofort nach Berlin gemeldet wird.
Was haben die beiden großen Physiker an jenem Tag besprochen? Darüber streiten die Historiker noch 75 Jahre später. Es gibt kein Protokoll des Gesprächs. Jahrelang galt als beste Quelle ein Brief Heisenbergs an den Autor Robert Jungk zehn Jahre später, der für sein Buch „Heller als tausend Sonnen“ führende Atomphysiker zu ihrer Arbeit befragt hatte; Auszüge dieses Briefes wurden im Anhang des Buchs veröffentlicht. Heisenberg deutet hierin an, dass er anregen wollte, dass die führenden Atomforscher beider Seiten ihre jeweiligen Herrschenden überreden sollten, keine Atombomben zu bauen, und zwar mit dem Argument, dass dies mit solch einem enormen technischen und finanziellen Aufwand verbunden sei, dass es in den wenigen Kriegsjahren nicht zu schaffen sei.
Niels Bohr hat dieser Darstellung zeitlebens widersprochen. Laut Heisenberg habe er zunächst still, dann erschrocken auf alle Argumente reagiert. Heisenberg erläutert selbst, dass er nur vorsichtige Andeutungen machen konnte, „um mein eigenes Leben nicht zu gefährden“ – er hätte in Berlin wegen Hochverrat angeklagt werden können. Falls es solche Andeutungen gab, dass die Kriegsparteien beide den Bombenbau unterlassen sollten, hat Bohr sie nicht verstanden.
Das mysteriöse Gespräch inspirierte den britischen Autor Michael Frayn zu dem Theaterstück „Copenhagen“, das 1998 in London und zwei Jahre später am Broadway Premiere hatte. Das Bühnenstück entfachte auch eine erneute Fachdebatte über das Treffen. Als Reaktion darauf veröffentlichte die Bohr-Familie bis dato unveröffentlichte und nie abgeschickte Briefe Bohrs an Heisenberg. Darin widerspricht er allen Aussagen vehement. Er hätte während des ganzen Besuchs den Eindruck gewonnen, dass Heisenberg nicht nur vom Sieg der Deutschen überzeugt sei, sondern selbstbewusst der Meinung war, in absehbarer Zeit eine Atombombe bauen zu können. Dies hat Bohr verständlicherweise erschreckt und verstört. Wie ist nun dieser Widerspruch zu erklären?
Man darf die Zeit nicht vergessen, in der diese Unterhaltung stattfand: Dänemark war seit anderthalb Jahren besetzt, ungefähr zur selben Zeit waren die Niederlande, Belgien und Frankreich von deutschen Truppen eingenommen worden, ein Vierteljahr vor dem Gespräch war die Wehrmacht in die Sowjetunion einmarschiert – Hitlers Siegeszug schien unaufhaltsam. In Kopenhagen sah sich Bohr zunehmend in einer bedrängten Lage: misstrauisch beäugt, bespitzelt und immer kurz vor einer Verhaftung. Auch allzu Menschliches kann eine Rolle gespielt haben: ein ehemaliger Schüler, also Heisenberg, betont vor seinem Lehrer gerne seine eigenen Leistungen – gleichzeitig konnte dieses Prahlen für Heisenbergs eigentliche Absichten wie ein Schutzschild wirken, zumindest, wenn man dessen Aussagen Glauben schenken möchte. Doch für Bohr war anscheinend kaum erkennbar, was Propaganda und was versteckte Botschaft war, bzw. ließ sich letztere nicht entschlüsseln.
Die nie abgeschickten Briefe von Bohr entfachten wiederum eine Debatte unter Historikern. Martin Heisenberg, Sohn des Nobelpreisträgers und führender Neurobiologe, betonte damals, dass man seinen Vater anhand der historischen Tatsachen beurteilen solle. Schließlich hat dieser Mitte 1942 den NS-Rüstungsminister Albert Speer überzeugt, dass der Bau einer Atombombe innerhalb weniger Jahren in Deutschland nicht möglich wäre. Daraufhin verlor das Uranprojekt an Priorität.
Am Ende des Theaterstücks von Frayn wird sogar angedeutet, dass das Missverständnis oder zumindest die Missstimmung zwischen den beiden Physikern möglicherweise zum Wohle der Menschheit gewesen sei: Hätten die beiden intensiv über die technische Machbarkeit einer Atombombe gesprochen, wäre vielleicht die eine oder andere Fehlannahme von Heisenberg aufgedeckt worden – und es hätte womöglich doch noch ein großes deutsches Atomprogramm gegeben.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Heisenberg eine der tragenden Säulen der bundesdeutschen Wissenschaftslandschaft, zum Beispiel als Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik, heute Werner-Heisenberg-Institut. Außerdem mischte er sich gerne in gesellschaftliche und wissenschaftliche Debatten ein, er war jahrelang Regierungsberater für Wissenschaftspolitik sowie Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung. Er nahm 15 Mal an der Lindauer Nobelpreisträgertagung teil und hielt acht Vorträge.
Niels Bohr floh zwei Jahre nach dem schicksalhaften Treffen, im September 1943, nach Schweden, und erbat beim schwedischen König Asyl für seine jüdischen Landsleute. Bereits einen Monat später reiste er durch die USA und besuchte das amerikanische Atombombenprojekt in Los Alamos. Bohr gehörte zwar nicht zum festen Forscherteam, beriet aber die Physiker bei mehreren Besuchen.
Nach dem Krieg kehrte er nach Dänemark zurück und wurde wieder Institutsleiter in Kopenhagen. Die Freundschaft zu Heisenberg blieb nach dem Krieg bestehen, zumindest gab es gegenseitige Geburtstagsgrüße und Familienbesuche. Nach seinem ersten Lindau-Vortrag im Sommer 1962 erlitt er einen leichten Schlaganfall, im folgenden November verstarb er im Alter von 77 Jahren an Herzversagen. Heisenberg überlebte seinen Freund um rund 13 Jahre.
Bild in Slider-Grafik: Straßensperre der deutschen Besatzer, 1940 im besetzten Kopenhagen. Foto: H. Lund Hansen/Nationalmuseet Kopenhagen. (CC BY-SA 2.0)