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Veröffentlicht 6. Juni 2019 von Maria Żurek

„Nur weil ich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort war“: Der Umgang mit dem ‚Hochstapler-Syndrom‘

Auch nach Jahren noch erinnere ich mich sehr gut an meine erste Lehrveranstaltung in mathematischer Analyse an der Universität. Unser Professor hatte einen kleinen Test vorbereitet, um festzustellen, wie viel wir neuen Studierenden über die ‚Infinitesimalrechnung‘ wissen. Ich betrachtete das Blatt Papier mit den vielen zu lösenden Aufgaben und begann mit der Arbeit. Letztendlich konnte ich nur die Hälfte der mathematischen Probleme lösen. Das war alles, was mir möglich war. Während der Pause fragte ich meine neuen Studienkollegen, wie es ihnen mit dem Test ergangen war. Und was war ihre Antwort? „Das war doch leicht, fandest du nicht?“ Das war einer dieser Momente, in denen mein innerer Kritiker mich herauszufordern begann: „Leicht? LEICHT!? Jeder hier weiß offensichtlich schon, wie man Differentialgleichungen löst. Was haben die dann hier noch zu suchen?“ Während meiner Studienzeit erlebte ich Hunderte solcher Situationen. Ich fühlte mich unter lauter großstädtischen Genies aus prestigeträchtigen Gymnasien wie eine Betrügerin. Für die anderen war alles einfach und so sah ich sie selbst in Vorlesungen über schwierigste Quantenmechanik verstehend nicken. Meine Stipendien und Auszeichnungen waren reine Glückssache. Meine Fehler, die Sackgassen in meiner Arbeit, meine Misserfolge, die aberwitzigen Arbeitszeiten und all die dummen Sprüche über Frauen in der Physik bestätigten mich darin, dass ich in dieser verrückten akademischen Welt tatsächlich nur eine vom Glück begünstigte, hart arbeitende Frau war.

Vor ungefähr einem Jahr erhielt ich die folgende E-Mail: „Sehr geehrte Frau Dr. Żurek, wir freuen uns, Ihnen eine Stelle als Postdoktorandin am Berkeley Lab anbieten zu können.“ Und was war meine erste Reaktion? „Die denken wahrscheinlich, dass ich ganz nett bin. Und deshalb ist ihnen nicht aufgefallen, dass ich für diese Stelle ungeeignet bin.“ Ja, genau das war mein erster Gedanke, obwohl ich objektiv betrachtet fundierte Forschungserfahrung mitbrachte, sehr gut auf die Bewerbung vorbereitet war und ich mir vollauf der Tatsache bewusst war, dass meine Reaktion mit dem ‚Monster‘ zu tun hatte, das man als ‚Hochstaplersyndrom‘ bezeichnet.

Das Hochstaplersyndrom verstehen

Beim Hochstaplersyndrom handelt es sich um ein psychologisches Phänomen, bei dem Betroffene ihre eigenen Leistungen in Frage stellen. Sie erklären ihren Erfolg mit Glück, einem guten Timing oder einer perfekten Täuschung anderer in dem Sinne, dass man sich als intelligenter verkauft, als man selbst zu sein glaubt. Dieser Zustand ist mit der Angst verbunden, andere könnten einen als vermeintlichen ‚Betrüger‘ entlarven.

Nicht selten entsteht daraus ein charakteristischer Kreislauf. Sie sollen beispielsweise ein Abstract für eine Konferenz einreichen und entwickeln störende angstähnliche und/oder stressbedingte Symptome in Kombination mit einem geringen Selbstwertgefühl. Sie sind ganz sicher, dass Ihre Ergebnisse nicht gut genug sind und vergleichen sich mit Kollegen. Sie verfallen entweder dem Pfad einer übermäßig intensiven Vorbereitung (sie arbeiten wahnsinnig hart, bleiben lange am Arbeitsplatz, verlieren das Gespür für Ihre Work-Life-Balance …) oder Sie zögern das Schreiben Ihres Abstracts hinaus, bis schließlich in letzter Minute ein panikgesteuerter Motivationsausbruch eintritt. Dann reichen Sie Ihr Abstract endlich ein und erleben danach ein Gefühl der Erleichterung und Zufriedenheit, das aber nicht lange anhält. Selbst wenn Ihr Vorgesetzter Ihre Arbeit lobt und Ihr Abstract angenommen wurde, betrachten Sie den eigenen Erfolg entweder ausschließlich als Ergebnis harter Arbeit, nicht aber als Folge echten Könnens oder tatsächlicher Fähigkeiten, oder als simples, reines Glück. Im Ergebnis wird der Betrüger in Ihrem Innern bestärkt, bis Sie damit beginnen, sich auf die Präsentation für die Konferenz vorzubereiten und der Kreislauf von Neuem beginnt.

Wir sind viele

Aktuelle Studien aus dem Jahr 2018 schätzen, dass rund 62 % der Erwachsenen in Großbritannien (n=3000) in ihrer Arbeit das Hochstaplersyndrom erlebt haben. Anfänglich wurde das Phänomen größtenteils mit leistungsstarken Frauen in Verbindung gebracht. Weitere Forschungsarbeiten haben aber gezeigt, dass das Gefühl weit verbreitet ist und tatsächlich ein breites Spektrum von Menschen betrifft.

Sind Sie ein Perfektionist? Beziehen Sie Ihre Bestätigung nur aus der Arbeit? Sind Sie eines dieser ‚Naturtalente‘? Müssen Sie ständig Aufgaben alleine bewältigen? All diese Charaktereigenschaften sind mit einem hohen Risiko verbunden, das Hochstaplersyndrom zu entwickeln. Das Phänomen hängt zudem oft mit familiären Verhältnissen zusammen – z. B. wenn Sie ständig mit anderen Familienmitgliedern verglichen wurden oder Erfolge erreicht haben, die in Ihrem Umfeld verächtlich gemacht wurden.

Das Hochstaplersyndrom entsteht in jedem Umfeld, in dem Verdienste bewertet werden. In der wettbewerbsintensiven, stressbelasteten akademischen Welt, in der das Dasein als Workaholic oft gefördert wird, besteht leider die große Gefahr, Hochstaplergefühle zu entwickeln. Das gilt besonders für Minderheiten und Menschen aus unterrepräsentierten Verhältnissen, die ihren Wert im akademischen Umfeld ständig unter Beweis stellen müssen. Die Folge ist, dass sie trotz ihrer Erfolge weiterhin das Gefühl haben, nicht dazuzugehören.

Wie kann dieses Monster bekämpft werden?

Es gibt nicht die generell gültige Lösung für das Hochstaplergefühl in Ihrem Innern. Ich habe für mich herausgefunden, dass Folgendes hilft:

  • Zuallererst verstehen, wann mich solche Hochstaplergefühle überfallen können: z.B. wenn ein neuer Abschnitt eines Projekts beginnt, während ‚Lern‘-Phasen in meiner Arbeit, wenn ich gerade nicht viele neue Ergebnisse vorzuweisen habe, wenn ich bei externen Veranstaltungen Präsentationen gebe oder wenn ich an meiner beruflichen Zukunft arbeite.
  • In Zeiten des Zweifels spreche ich darüber offen mit meinen beruflichen Mentoren und Vertrauten aus meinem Alltagsleben. Ehrliche Gespräche mit Kollegen, die ich schätze, haben mir vor Augen geführt, dass ich nicht die einzige bin, die gegen einen inneren Hochstapler ankämpfen muss.
  • Konzentration auf die Erledigung von Aufgaben, indem ich einen angemessenen Aktionsplan festlege, den ich mit meinen Vorgesetzten bespreche. Mit einer solchen realistischen Zielzuweisung kann ich den Hochstaplerkreislauf erfolgreich durchbrechen.
  • Lernen, wie man besser Kritik annehmen und auch negatives Feedback geben kann. Ich übe mich selbst darin, rationaler zu denken, ohne Angstgefühlen Raum zu geben. Das braucht Zeit und oft auch die Unterstützung durch einen Therapeuten. Aber man kann wirklich lernen, das Schwarz-Weiß-Denken zu reduzieren und sich selbst realistischer einzuschätzen.
  • Aktiv nach Selbstvalidierungsmöglichkeiten außerhalb meiner Arbeit suchen. Ich habe herausgefunden, dass mir die Unterstützung meiner Kollegen in der Postdoktoranden-Community und das Teilen meiner Leidenschaft für die Wissenschaft durch Kontakte Stärke verleiht und mich dabei unterstützt, mich selbst nicht nur aus dem engen Tunnelblick meiner Forschung zu betrachten.

Psychische Gesundheitsprobleme sind in der akademischen Welt weit verbreitet. Was aber wesentlich ist und oft vernachlässigt wird, ist die Diskussion darüber, wie wir unser Umfeld in der Forschung und Lehre für zukünftige Wissenschaftlergenerationen gesünder gestalten können. Wir müssen in unseren Institutionen das Bewusstsein für dieses Thema fördern und für positive Veränderungen eintreten. Es bedarf dringender Maßnahmen, um dieses Problem zu bekämpfen, das unsere gesamte wissenschaftliche Community betrifft.

Maria Żurek

#LINO19 young scientist Maria is a postdoctoral scholar in nuclear physics at Lawrence Berkeley National Laboratory, USA, who tries to understand why our Universe exists as it is. In her research, she studies the structure of matter we are all made of at the most fundamental level. Maria received her M.Sc. degree from Jagiellonian University in Kraków, Poland, where she is originally from. She received her PhD from the University of Cologne, Germany. She is a supporter of the postdoc community in her role of co-chair of the Berkeley Lab Postdoc Association and an enthusiast of outreach and science communication.