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Veröffentlicht 2. Juli 2019 von Ben Skuse

Die eigentlich dunkle Seite: Warum eine nicht-so-konstante Konstante Dunkle Materie und Dunkle Energie erleuchten konnte

Nobelpreisträger Adam Riess bei seinem Vortrag auf der 69. Lindauer Nobelpreisträgertagung. Photo/Credit: Patrick Kunkel/Lindau Nobel Laureate Meetings

Für Nobelpreisträger Adam Riess war der zweite Tag der 69. Lindauer Nobelpreisträgertagung besonders arbeitsreich, zählten doch ein Vortrag, die Mitwirkung an einer Podiumsdiskussion und ein offener Austausch mit jungen Wissenschaftlern zu seinen Aktivitäten. Dabei war er nicht nur sehr gefragt, weil er die Lindauer Tagungen in diesem Jahr zum ersten Mal besucht, sondern auch, weil er sich in seiner Arbeit kosmologischen Fragen zuwendet, die wir uns alle schon einmal gestellt haben: Wann ist das Universum entstanden? Wie wird es enden? Und woraus besteht es?

Die nobelpreisgekrönten Forschungsergebnisse von Ries – er teilte sich den Nobelpreis mit Saul Perlmutter und Brian Schmidt – gaben fundierte Anhaltspunkte für eine Antwort auf die zweite Frage. Auf dem Weg dahin konzentrierten sich die Forscher auf einen der wichtigsten Parameter in der Kosmologie, die Hubble-Konstante. Die Hubble-Konstante wird benötigt, um Größe und Alter des Universums einschätzen zu können. Sie beschreibt die Rate der Expansion des Universums seit dem Urknall.

Wissenschaftler wussten bereits, dass die Hubble-Konstante eigentlich keine Konstante ist (sie verändert sich mit der Zeit, ist aber dieselbe und somit in ihrer räumlicher Dimension konstant). In ferner Vergangenheit war die Expansionsrate des Universums wesentlich größer, um dann mit zunehmender Ausdehnung des Universums abzunehmen.

Völlig überraschend war daher die Entdeckung von Riess und Schmidt sowie Perlmutter (unabhängig von ihnen), dass sich die Expansion des Universums tatsächlich beschleunigt und sein ultimatives Schicksal darin besteht, sich immer weiter auszudehnen. „Diese Entdeckung war wirklich ungeheuer spannend, erschütternd, aufwühlend, umwälzend … jedes Adjektiv beschreibt das zutreffend”, erinnerte er sich. „Die entscheidende Frage wird aber damit nicht wirklich beantwortet: Warum beschleunigt sich die Expansion des Universums?”

Die aktuelle Arbeit von Riess kann möglicherweise Aufschluss über diese Frage geben. Seine Untersuchungen beschäftigen sich erneut mit der Hubble-Konstante. Als Edwin Hubble seine gleichnamige Konstante vor 90 Jahren vorstellte, ergaben seine Berechnungen H0 = 500 km/s/Mpc, was, wie wir heute wissen, eine deutlich zu hoch angesetzte Schätzung war. Bis in die 1960er Jahre war sie bereits auf 100 km/s/Mpc geschrumpft und verringerte sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte weiter.

Unlängst haben Riess und seine Kollegen vom SH0ES-Team (Supernovae H0 for the Equation of State) die Hubble-Konstante mit 74 km/s/Mpc gemessen. Dabei liegt die Messunsicherheit bei 1,9 Prozent. Um zu einer solchen Genauigkeit zu gelangen musste sein Team, so Riess, einen starken ‘kosmischen Entfernungsmesser’ bauen. Diese Methode umfasst exakte Entfernungsmessungen zu nahen Galaxien und wendet sich dann immer weiter entfernten Galaxien zu. Für relativ nahe Galaxien nutzte das Team Standardkerzen, die als Cepheiden-Veränderliche bezeichnet werden. Das sind häufig vorkommende Sterne, die in vorhersehbaren Perioden pulsieren, die ihre intrinsische Helligkeit anzeigen. Für Galaxien in weiterer Entfernung konnten die Wissenschaftler zudem wesentlich hellere, aber seltenere kosmische Maßstäbe verwenden: explodierende Sterne vom Typ Ia-Supernovae. Durch einen Vergleich dieser Entfernungen mit Messungen des Lichts einer ganzen Galaxie konnten sie dann berechnen, wie schnell sich der Kosmos ausdehnt: die Hubble-Konstante.

Trotz seiner Genauigkeit stimmt dieser Wert aber überraschenderweise nicht mit dem Wert überein, der mit einer anderen Schlüsseltechnik für die Berechnung der Expansionsrate des Universums ermittelt wurde. Mithilfe des Planck-Satelliten der ESA, der den kosmischen Mikrowellenhintergrund untersucht – das verbliebene Nachglühen des Urknalls – berechneten Forscher, u.a. der Nobelpreisträger George Smoot, wie schnell sich das Universum im Alter von nur 380.000 Jahren ausdehnte. Diesen Wert extrapolierten sie auf heute und kamen so auf eine Hubble-Konstante von 67 km/s/Mpc.

Diese Diskrepanz stellt ein großes Problem für das aktuelle Modell des Universums dar, das als ΛCDM bezeichnet wird.  „Sollte sich diese Diskrepanz tatsächlich bestätigen, müssen wir nach neuen physikalischen Erkenntnissen im ΛCDM suchen”, sagte Riess.

In seinem Vortrag in Lindau deutete Riess nur an, worin diese neue Physik bestehen könnte, und machte damit umso neugieriger auf die nachfolgende Podiumsdiskussion (verheißungsvoll angekündigt unter dem Titel ‘The Dark Side of the Universe’), bei der einige dieser Möglichkeiten angesprochen wurden.

Podiumsdiskussion ‚The Dark Side of the Universe‘ mit der Nachwuchswissenschaftlerin Kirsten Hall, den Nobelpreisträgern Brian Schmidt, George Smoot, Adam Riess und David Gross, moderiert von Jan-Martin Wiarda. Picture/Credit: Christian Flemming/Lindau Nobel Laureate Meetings

Die angesprochene Diskussion konzentrierte sich ausschließlich auf Dunkle Materie und Dunkle Energie, die zusammen, so vermutet man, 95 Prozent des Universums ausmachen. Dabei ist die Dunkle Energie wahrscheinlich die rätselhaftere der beiden, ist sie doch ein weitgehend ungeklärtes Phänomen eines sich überall ausdehnenden Raums, wobei die Geschwindigkeit der Expansion des Universums immer weiter zunimmt. 1997 zogen Schmidt und Riess Dunkle Energie für die Erklärung ihrer Ergebnisse heran: „Wir wussten, dass der einzige einfache Weg, das Universum zu beschleunigen, eine Form von Energie war, die schließlich als Dunkle Energie bezeichnet wurde, auch als kosmologische Konstante bezeichnet”, sagte Schmidt.

Die kosmologische Konstante wurde bekanntlich erstmals von Albert Einstein als Möglichkeit eingeführt, in seinen Gleichungen ein statisches Universum zu beschreiben. Schnell ließ er seine Version der kosmologischen Konstante jedoch fallen, als Astronomen in den 1920er Jahren entdeckten, dass das Universum alles andere als statisch, sondern expandierend ist.

Aber mit der Entdeckung der beschleunigten Expansion des Universums fand die kosmologische Konstante erneut Unterstützung, bot sie doch eine Möglichkeit, das ΛCDM-Modell anschlussfähig für das zu machen, was die Astronomen sahen. Die Ergänzung einer kosmologischen Konstante hat im Wesentlichen einen Antigravitationseffekt auf das Universum zur Folge, der es ihm ermöglicht, sich selbst auseinander zu schieben, sollte es zu einer Verlangsamung kommen.

Was dieser Antigravitationseffekt tatsächlich ist, bleibt ein vollständiges Rätsel. Zumindest für die meisten: „Mir gefällt der Begriff Dunkle Energie überhaupt nicht”, sagte Laureat David Gross, der gemeinsam mit Frank Wilczek und David Politzer, die unabhängig voneinander zu diesem Thema gearbeitet hatten, 2004 den Nobelpreis für Physik für die Entwicklung mathematischer Grundlagen erhielt, die als Quantenchromodynamik bekannt wurden. „Sie ist weder dunkel noch rätselhaft – es ist die einzige Form von Energie und Druck, die für alle Beobachter gleich aussieht.”

Nachwuchswissenschaftlerin Kirsten Hall bei der Podisumsdiskussion. Picture/Credit: Christian Flemming/Lindau Nobel Laureate Meetings

Während Dunkle Energie den Raum überall ausdehnt, hat Dunkle Materie – das zweite Rätsel – eine entgegengesetzte Bindungswirkung auf Materie im Universum. Es ist eine unsichtbare Substanz, die ein universal-kosmisches Netz bildet. Man geht davon aus, dass dieses kosmische Netz die Bildung von Galaxien unterstützt und ihr Auseinanderfliegen verhindert.

Wie für Gross in Bezug auf Dunkle Energie war es für Riess in Bezug auf Dunkle Materie wichtig, ihren dunklen Ruf herunterzuspielen: „Eine meiner Lieblingsbeobachtungen ist der Bullet Cluster, wo man zwei Galaxienhaufen sieht, die sich bei einer Kollision durchquert haben”, sagte er. „Leuchtende Materie wird erschüttert, erhitzt und etwas zurückgelassen, während sich die Dunkle Materie separiert und weiterbewegt. Und das kann man tatsächlich sehen.” Aber er fügte hinzu: “Unsere heutigen Beschreibungen von Dunkler Materie und Dunkler Energie sind sehr phänomenologisch und bieten keine umfassende Beschreibung ihrer Physik.”

Auch wenn diese beiden Bestandteile des Universums möglicherweise gar nicht so dunkel sind, wie wir dachten, gibt es noch einiges mehr über sie zu erfahren – ein guter Grund für junge Wissenschaftler, an der Lindauer Nobelpreisträgertagung 2019 teilzunehmen und die dunkle Seite des Universums zu erhellen.

Videos von den Vorträgen und Diskussionen der diesjährigen Lindauer Tagung können in unserer Mediathek angesehen werden.

Ben Skuse

Benjamin Skuse ist professioneller freiberuflicher Autor für vielfältige Wissenschaftsbereiche. Zuvor promovierte er in Angewandter Mathematik an der Universität Edinburgh und erhielt einen MSc in Wissenschaftskommunikation. Heute lebt er in West Country/Großbritannien. Er hat sich zum Ziel gesetzt, verständliche, fesselnde und überzeugende Artikel für alle Leser zu schreiben - unabhängig von der Komplexität der Themen. Seine Artikel sind bereits in New Scientist, Sky & Telescope, BBC Sky at Night Magazine, Physics World und vielen anderen Publikationen erschienen.