Veröffentlicht 21. November 2024 von Hanna Kurlanda-Witek
Nobelpreis für Physiologie/Medizin 2024: Kleine RNA mit großem Einfluss
Der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 2024 wird an Victor Ambros und Gary Ruvkun „für die Entdeckung der microRNA und ihrer Rolle bei der post-transkriptionalen Genregulation“ verliehen.
Ein Großteil der Energie einer Zelle wird für die Genregulation aufgewendet – die Prozesse, die bestimmen, zu welchem Zelltyp sich eine Zelle entwickelt. Das genetische Material aller Körperzellen ist zwar identisch, aber Nervenzellen haben andere Funktionen als zum Beispiel Leberzellen. Die Genregulation wird auch davon beeinflusst, was in anderen Bereichen des Körpers oder in der Umgebung geschieht. Fehlfunktionen in der Genregulation können zu Krankheiten wie Krebs führen.
Experimente in der Grundlagenforschung
microRNAs (miRNAs) sind winzige RNA-Moleküle (19 bis 25 Nukleotide lang), die eine zentrale Rolle in der Genregulation spielen. Die Entdeckung dieser Moleküle war zunächst eine Kuriosität in der Grundlagenforschung. In den 1980er Jahren waren Ambros und Ruvkun Postdocs im Labor von Robert Horvitz am Massachusetts Institute of Technology (Horvitz erhielt 2002 ebenfalls den Nobelpreis). Horvitzʼ Forschung konzentrierte sich auf die Genetik des Fadenwurms Caenorhabditis elegans – ein etwa 1 mm großer Bodenwurm mit 959 Zellen, der seit Jahrzehnten ein Modellorganismus für die Genforschung ist.
Ambros und Ruvkun untersuchten zwei mutierte Stämme von C. elegans, lin-4 und lin-14. Die Mutationen führten zu Entwicklungsanomalien bei den Würmern. Wie Ambros später schrieb: „Wir waren einfach neugierig auf eine interessante Wurm-Mutante, und alles, was wir darüber herausfanden, war unerwartet.“
Extrem kurze RNA
Das Projekt wurde fortgesetzt, auch nachdem die Wissenschaftler Horvitzʼ Labor verließen, um eigene Forschungsstätten zu gründen: Ambros arbeitete am lin-4-Gen an der Harvard University, während Ruvkun am Massachusetts General Hospital und an der Harvard Medical School das lin-14-Gen untersuchte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Ambros bereits herausgefunden, dass lin-4 das lin-14-Gen abschaltet. Nach der erfolgreichen Vervielfältigung des lin-4-Gens zeigte sich, dass es ein sehr kurzes RNA-Molekül produzierte, das keine Bauanleitung für ein Protein lieferte. In seinen Experimenten mit lin-14 wies Ruvkun nach, dass lin-14 von lin-4 nicht in der Phase der mRNA-Produktion, sondern in der späteren Phase der Proteinproduktion gehemmt wird.
Die Forscher tauschten die Gensequenzen zwischen den Laboren aus und stellten fest, dass die lin-4-Sequenz komplementär zu Sequenzen in der lin-14-mRNA war. Wie Ambros und seine Kollegen später erinnerten, „rief Victor sofort Gary an; jeder las dem anderen praktisch gleichzeitig die komplementären Sequenzen am Telefon vor. Das war ein sehr glücklicher Moment, den sie gemeinsam erlebten.“
Es wurde nachgewiesen, dass die post-transkriptionale Genregulation durch ein kleines Stück RNA, die microRNA, erfolgt. Die Forschungsteams veröffentlichten 1993 zwei Artikel in derselben Ausgabe von Cell, aber die wissenschaftliche Reaktion darauf fiel zunächst verhalten aus. Die Ergebnisse wurden weitgehend als Vorgang abgetan, der nur in Würmern abläuft.
Nicht nur in Würmern
Erst im Jahr 2000, als Ruvkun und sein Team eine weitere miRNA in C. elegans entdeckten, die durch das let-7-Gen codiert wird, begann das Interesse an miRNA zu wachsen. Bald stellte sich heraus, dass let-7 RNA-Transkripte im Gegensatz zu lin-4 auch in menschlichem Gewebe vorkommen. Im folgenden Jahr wurden neue miRNAs entdeckt, sodass inzwischen mehr als tausend Gene für miRNAs beim Menschen identifiziert worden sind. miRNAs sind an den grundlegendsten Prozessen der Zellfunktion beteiligt, wobei Mutationen von Genen, die microRNAs codieren, mit verschiedenen Störungen und Erkrankungen in Verbindung gebracht werden.
Keine Alleingänge
„Auch mit routinemäßigen Experimenten kann man neue Erkenntnisse gewinnen“, sagte Ambros kurz nach der Verleihung des Nobelpreises. Beide Wissenschaftler gaben an, dass sie ihre Experimente zu jener Zeit nicht für preiswürdig hielten – sie waren einfach an der Lösung dieses Problems interessiert. Es gab keinen Wettbewerb mit anderen Forschergruppen, und das Projekt selbst dauerte vier Jahre, sodass die Wissenschaftler genügend Zeit hatten, die Richtigkeit ihrer Ergebnisse nachzuweisen. Bemerkenswert ist auch, dass Ambros, Ruvkun und ihre Kolleg/innen ihre Arbeit mit anderen teilten und sich gegenseitig in vielerlei Hinsicht halfen. Und als ihre Forschung immer mehr Beachtung fand, freuten sie sich zu sehen, wie das Fachgebiet wuchs. „Es war ein unglaubliches Vergnügen, daran beteiligt zu sein“, so Ruvkun. Diese Haltung allein ist schon einen Preis wert.