Veröffentlicht 27. November 2024 von Ben Skuse
Physiknobelpreis 2024: Wo die KI-Revolution ihren Anfang nahm
Als am 10. Dezember 1901 die ersten Nobelpreise verliehen wurden, war Wissenschaft ein ganz anderes Unterfangen als das, was wir heute kennen und erfahren. Zwar besteht der Kern der Wissenschaft weiterhin im Streben nach Erkenntnis und Verstehen der Realität und unserer Umwelt, aber die moderne Wissenschaft ist in den meisten Fällen inter- und multidisziplinär. Ein so grundlegender Wandel in der Art und Weise, wie Wissenschaft betrieben wird, wirft jedoch Fragen auf: Können die wissenschaftlichen Disziplinen – Chemie, Physik und Physiologie oder Medizin (seit 1969 auch Wirtschaftswissenschaften) –, denen die Preisträger/innen zugeordnet werden, heutzutage noch klar voneinander abgegrenzt werden? Existieren diese Disziplinen überhaupt noch als getrennte Bereiche?
In jüngster Zeit hat die Verbreitung von maschinellem Lernen und „Großen Sprachmodellen“ (oft unter dem Oberbegriff KI zusammengefasst) den Forscher/innen ein brillantes neues Werkzeug zur Erweiterung der wissenschaftlichen Kenntnisse und des wissenschaftlichen Verständnisses an die Hand gegeben. Angesichts der zunehmend zentralen und wachsenden Rolle der KI stellt sich die Frage, ob bedeutende Entwicklungen in diesem Bereich vom Nobelkomitee als wissenschaftliche Errungenschaften anerkannt oder lediglich als technologische, rechnerische oder mathematische Fortschritte abgetan werden sollten.
Die unaufhaltsame Ausbreitung der KI in allen Bereichen von Wissenschaft und Gesellschaft wirft auch viel tiefer gehende Fragen auf: Wird die KI auch weiterhin von Forscher/innen in Richtung wissenschaftlicher Entdeckungen gelenkt, oder könnte sie irgendwann die Führung übernehmen und den Menschen in seiner Entwicklung und Entscheidungsfindung vorangehen, angesichts ihrer beeindruckenden Leistungsfähigkeit und der Fähigkeit, sich in weitaus kürzeren Zeiträumen weiterzuentwickeln als unsere eigene menschliche Intelligenz? Und wenn Letzteres geschieht, könnte diese Machtverschiebung nicht nur in der Wissenschaft, sondern in der gesamten Gesellschaft stattfinden und vielleicht sogar eine existenzielle Bedrohung für die Menschheit darstellen?
Diese und viele weitere Fragen wurden dieses Jahr in den Vordergrund gerückt, als das Nobelkomitee den emeritierten US-Professor John Hopfield von der Princeton University und den emeritierten Professor Geoffrey Hinton von der University of Toronto, Kanada, mit dem Physiknobelpreis 2024 „für ihre wegweisenden Entdeckungen und Erfindungen, die das maschinelle Lernen mit künstlichen neuronalen Netzen ermöglichen“, auszeichnete und den Chemienobelpreis 2024 an drei weitere KI-Pioniere vergab: John Jumper und Demis Hassabis, die bei Google DeepMind mit AlphaFold2 eine KI zur Vorhersage von Proteinstrukturen entwickelt haben, und David Baker, der mithilfe von KI völlig neue Proteine entworfen hat.
Bei dem letztgenannten Trio, das computergestützte Werkzeuge für die Vorhersage und das Design von Proteinstrukturen bereitstellt, war die Verbindung zur traditionellen Disziplin der Chemie ziemlich offensichtlich – Proteine steuern und treiben alle chemischen Reaktionen, die die Grundlage des Lebens bilden. Doch um zu verstehen, warum die Pionierarbeit von Hopfield und Hinton auf dem Gebiet des maschinellen Lernens der Physik zugeordnet wurde, bedarf es etwas mehr Überlegung.
Die Geburtsstunde Künstlicher Neuronaler Netze
Nach seiner Promotion in theoretischer Festkörperphysik folgte Hopfield zunächst den Spuren seiner Eltern – beide Physiker – und spezialisierte sich auf die Wechselwirkung von Licht mit Festkörpern. Ende der 1960er Jahre änderte der US-amerikanische Theoretische Physiker jedoch seinen Kurs und wandte sich der Schnittstelle zwischen Physik und Biologie zu. Ab 1982 spezialisierte er sich auf die Neurobiologie, ein Gebiet, in dem sich theoretische Physik, Neurobiologie und Informatik überschneiden.
Sein erster Beitrag zur Neurobiologie – ein Artikel mit dem Titel Neural networks and physical systems with emergent collective computational abilities – war zukunftsweisend. Darin führte er das nach ihm benannte Netzwerk ein, eines der ersten künstlichen neuronalen Netze, sowie eine erste Demonstration dafür, wie Computer eine Schicht verbundener Knoten nutzen konnten, um Informationen zu speichern und abzurufen.
Ein Hopfield-Netzwerk speichert Bilder und andere Informationen als Muster, inspiriert vom Konzept eines Spin-Glases, bei dem magnetische Momente zufällig und widersprüchlich miteinander interagieren. Es teilt die gleiche dynamische Beschreibung wie ein vereinfachtes Spin-Glas. Damit wird die Art und Weise nachgeahmt, wie Erinnerungen im Gehirn gespeichert werden. Darüber hinaus kann es ein Bild abrufen, wenn es mit einem ähnlichen Bild angeregt wird – eine Fähigkeit, die als assoziatives Gedächtnis bezeichnet wird.
Krabbeln, sitzen, stehen, gehen und laufen lernen
Währenddessen entwickelte Hinton eine ungewöhnliche (zumindest für die damalige Zeit) Spezialisierung an der Grenze zwischen Informatik und der Funktionsweise des Gehirns und vertiefte sich in experimentelle Psychologie und KI. In einem Artikel von 1985 – A learning algorithm for Boltzmann machines – baute Hinton (zusammen mit seinen Mitautoren David Ackley und Terrence Sejnowski) auf Hopfields Forschung auf und integrierte Ideen aus der statistischen Physik, um Wahrscheinlichkeiten in eine geschichtete Version des Hopfield-Netzwerks zu integrieren.
Dieses weiterentwickelte Netzwerk besteht häufig aus zwei Schichten: einer sichtbaren Schicht, in die Informationen eingespeist und wieder ausgelesen werden, und einer verborgenen Schicht, die das Gesamtverhalten des Netzwerks beeinflusst. Diese „Boltzmann-Maschine“ – benannt nach der das System beschreibenden Boltzmann-Gleichung, die der österreichische Physiker Ludwig Boltzmann im 19. Jahrhundert entwickelte, um das Verhalten eines idealen Gases zu erklären – war ein konzeptioneller Durchbruch. Zum ersten Mal wurde gezeigt, dass ein künstliches neuronales Netz aus Daten lernen, Bilder kategorisieren und sogar neue und originelle Bilder erzeugen kann, wenn es mit einer Sammlung ähnlicher Bilder trainiert wird.
Die künstlichen neuronalen Netze, die Hopfield und Hinton in den 1980er Jahren entwickelten, würden heute als rudimentär bezeichnet werden. Sie ebneten jedoch den Weg für Technologien wie „Maschinelles Sehen“ (Computer Vision), Empfehlungssysteme und generative KI, die heute die Wirtschaft und das tägliche Leben revolutionieren.
Mit Blick auf den Physiknobelpreis ist es vielleicht am wichtigsten, dass die Technologien des maschinellen Lernens und der KI, die aus Hopfields und Hintons frühen Arbeiten hervorgingen, mittlerweile unverzichtbar für die physikalische Forschung sind. Ob es nun darum geht, riesige Datenmengen aus dem Large Hadron Collider zu durchforsten, um die Signaturen von Teilchen in den Trümmern hochenergetischer Kollisionen zu erkennen, oder Modelle zu entwickeln und zu optimieren, die Klimamuster vorhersagen oder den Energieverbrauch senken, viele moderne Forschungsaufgaben wären ohne künstliche Hilfe schlichtweg nicht durchführbar.
Gefahren ansprechen
Auch wenn die beiden Nobelpreisträger die Auszeichnung mit Freude und Stolz entgegennehmen, sind sie nicht unempfänglich für die Bedenken hinsichtlich der Gefahren, die mit den KI-Technologien, an deren Entwicklung sie maßgeblich beteiligt waren, verbunden sind.
Insbesondere Hinton hat sich sehr deutlich dazu geäußert. Er trat sogar 2023 von seinem Posten bei Google zurück, um sicherzustellen, dass er sich frei zu diesen Themen äußern kann. „In Bezug auf die existenzielle Bedrohung, wenn diese Dinge außer Kontrolle geraten und überhandnehmen, glaube ich, dass wir uns an einem Wendepunkt der Geschichte befinden. In den nächsten Jahren müssen wir herausfinden, ob es einen Weg gibt, mit dieser Bedrohung umzugehen“, warnte er in dem traditionellen Telefoninterview kurz nach der Verleihung des Nobelpreises. „Ich denke, es ist jetzt sehr wichtig, dass die Menschen daran arbeiten, wie wir die Kontrolle behalten können.“
Hopfield äußerte sich in seinem Nobel-Interview ähnlich besorgt: „Ich teile seine Bedenken. Man ist immer beunruhigt, wenn Dinge sehr, sehr mächtig erscheinen und man nicht versteht, warum sie das sind, was bedeutet, dass man nicht versteht, wie man sie kontrollieren kann, oder ob Kontrolle überhaupt ein Thema ist, oder welches Potenzial KI hat.“