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Veröffentlicht 9. Dezember 2021 von Phil Thornton

Der Preis für Wirtschaftswissenschaften 2021: Natürliche Experimente für gesellschaftliche Fragen

Der Zufall entscheidet, an welchem Tag man geboren wird. Im Hinblick auf Stichtage kann dies gewisse Auswirkungen haben – der Ausgangspunkt für ein natürliches Experiment. Foto/Credit: daneger/iStockphoto

Die Verleihung des Preises der Schwedischen Reichsbank für Wirtschaftswissenschaften in Gedenken an Alfred Nobel 2021 an drei Professoren, die ihre Karriere der Durchführung von Experimenten im realen Leben gewidmet haben, ist ein Zeichen für die Vorherrschaft der so genannten Revolution der Glaubwürdigkeit.

Eine Hälfte des Preises ging an David Card, Professor an der University of California, Berkley, die andere Hälfte erhielten Joshua D. Angrist, Professor am Massachusetts Institute of Technology und Guido W. Imbens, Professor an der Standford University.  

Revolutionierte empirische Forschung

Drei Jahrzehnte lang waren sie die treibende Kraft, wenn es darum ging, sich von der Wirtschaftstheorie zu lösen und zu zeigen, welche Schlussfolgerungen über Ursache und Wirkung aus natürlichen Experimenten gezogen werden können. Genau gesagt aus Situationen im realen Leben, in denen zufällige Ereignisse oder politische Entscheidungen ähnliche Bedingungen wie in einer klinischen Studie schaffen.

Eva Mörk, Mitglied des Komitees für den Preis für Wirtschaftswissenschaften, erklärte, dass der Preis für die Beantwortung von Fragen zur Kausalität verliehen würde, speziell, wenn es nicht möglich ist, randomisierte Experimente durchzuführen, was in den Sozialwissenschaften oft der Fall ist. „Ich denke, das hat die Art und Weise, wie wir empirisch arbeiten, völlig revolutioniert.“ In der offiziellen Verkündung erklärten die Mitglieder des Preiskomitees, der Ansatz der drei Ökonomen habe sich auf andere Bereiche ausgeweitet und die empirische Forschung revolutioniert.

Antworten auf wichtige Kausalfragen

Bei der Bekanntgabe des Preises sagte Peter Fredriksson, Vorsitzender des Preiskomitees für Wirtschaftswissenschaften, dass die Studien von Card zu zentralen Fragen der Gesellschaft und die methodischen Beiträge von Angrist und Imbens gezeigt hätten, dass natürliche Experimente wertvolles Wissen und Informationen liefern. Er fuhr fort: „Ihre Forschung hat unsere Fähigkeit, wichtige kausale Fragen zu beantworten, maßgeblich verbessert. Daraus folgt ein großer Nutzen für die Gesellschaft.“

Seit den frühen 1990er Jahren hatte Card eine Reihe von Studien durchgeführt, die zeigten, dass es möglich ist, wichtige Fragen mit Hilfe von natürlichen Experimenten in den Bereichen der Arbeitsökonomie zu beantworten, z.B. die Auswirkungen von Mindestlöhnen, Einwanderung und Bildung.

Beispiele für natürliche Experimente

Eine seiner wichtigsten Studien mit seinem verstorbenen Forschungspartner Alan Krueger verglich die Löhne von Fast-Food-Mitarbeitern in den benachbarten US-Bundesstaaten Pennsylvania und New Jersey. Letzterer führte einen höheren Mindestlohn ein. Entgegen der damals vorherrschenden Meinung stellte Card fest, dass eine Erhöhung des Mindestlohns nicht unbedingt zu weniger Arbeitsplätzen führte. Tatsächlich stieg die Beschäftigung in den Fast-Food-Restaurants in New Jersey im Vergleich zu Pennsylvania an.

Er fand auch heraus, dass ein Zustrom von Einwanderern nur minimale Auswirkungen auf das Beschäftigungsniveau einheimischer Arbeitnehmer*innen mit niedrigem Bildungsniveau hatte, wobei er Daten aus der Massenimmigration von 125.000 Kubaner*innen nach Miami im Jahr 1920 verwendete. Ein weiteres Experiment zeigte, dass die Ressourcen in den Schulen für den künftigen Erfolg der Schüler*innen auf dem Arbeitsmarkt weitaus wichtiger seien als bisher angenommen.

Angrist und Krueger versuchten zu ermitteln, wie viel Nutzen die Menschen aus zusätzlichen Ausbildungsjahren ziehen. Sie stützten sich dabei auf die Tatsache, dass Schüler*innen, die früher im Jahr geboren werden, die Schule laut US-Gesetz früher verlassen können als diejenigen, die später im Jahr geboren werden. Diejenigen, die früher geboren werden, erhielten tendenziell weniger Bildung und verdienten später auch weniger. Die beiden Forscher schätzten, dass ein zusätzliches Ausbildungsjahr zu einer Einkommenssteigerung von 9% führt.

Die Interpretation der Daten ist schwierig

Dies führte jedoch zu der Befürchtung, dass die Daten aus einem natürlichen Experiment schwer zu interpretieren seien, was die Frage aufwirft, ob die Ergebnisse möglicherweise eher das Ergebnis einer Korrelation als einer Kausalität sind. Wird beispielsweise die Verlängerung der Schulpflicht allen zugutekommen, wenn einige Schüler ohnehin geblieben wären? Profitieren diejenigen Schüler, die sich für eine längere Schulzeit entscheiden, am meisten davon?

Dies veranlasste Angrist und Imbens, die sowohl enge Freunde als auch Kollegen sind (Angrist war sogar Imbens Trauzeuge bei seiner Hochzeit im Jahr 2002), zu erforschen, ob es möglich ist, aus natürlichen Experimenten präzise Rückschlüsse auf Ursache und Wirkung zu ziehen.

Sie lösten methodische Probleme, um zu zeigen, dass man aus dieser Art von Experimenten tatsächlich genaue Schlussfolgerungen über Ursache und Wirkung ziehen kann. Damit schufen sie einen transparenten Rahmen für diese Art der Forschung, der das Vertrauen in dieses wissenschaftliche Vorgehen gestärkt hat.

Data social science
Die Analyse von Daten aus natürlichen Experimenten steht im Mittelpunkt des Wirtschaftspreises 2021. Foto/Credit: Laurence Dutton/iStockphoto

Ihre Leistungen stießen auf große Anerkennung. So schrieb Professor Jörn-Steffen Pischke von der London School of Economics im VoxEU-Blog: „Die Methodik der natürlichen Experimente hat nicht nur in der Arbeitsökonomie, sondern auch in vielen anderen Bereichen der Wirtschaftswissenschaften Einzug gehalten.“ Trevon D. Logan, Wirtschaftsprofessor an der Ohio State University, twitterte: „Sie haben eine neue Phase in der Arbeitsökonomie eingeläutet, die nun alle Bereiche des Fachs erreicht hat.“

Viele Ökonom*innen stellten mit Bedauern fest, dass der 2019 verstorbene Alan Krueger mit ziemlicher Sicherheit auch diesen Preis erhalten hätte. Doch Nobelpreise und der Wirtschaftspreis der Schwedischen Reichsbank werden normalerweise nicht nach dem Tod verliehen. Dani Rodrik, Professor für internationale politische Ökonomie an der Harvard University, schrieb in einem Tweet: „[Ich] kann nicht umhin, als an Alan Krueger zu denken, der sicherlich neben Card geehrt worden wäre.“

Der Preis für experimentelle Forschung im Jahr 2019

Der Preis 2021 war der letzte, der für Arbeiten vergeben wurde, die auf realen Experimenten beruhen. Bereits im Jahr 2019 wurden Abhijit Banerjee und Esther Duflo vom MIT und Michael Kremer von der Harvard University für ihre experimentelle Forschung in der Entwicklungsökonomie ausgezeichnet. Sie führten einen neuen Ansatz ein, um verlässliche Antworten auf die Frage zu erhalten, wie die weltweite Armut am besten bekämpft werden kann.

David Card

David Card ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of California, Berkeley (Jahrgang 1950), und Direktor des Labor Studies Program am National Bureau of Economic Research. Er wurde 1956 in Guelph, Kanada, geboren. Seinen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften erhielt er 1983 von der Princeton University. Im Jahr 1995 wurde er mit dem John-Bates-Clark-Preis der American Economic Association ausgezeichnet.

Joshua D. Angrist

Joshua D. Angrist ist Professor am Ford-Lehrstuhl für Wirtschaftswissenschaften am MIT und Research Associate am National Bureau of Economic Research. Er wurde 1960 in Columbus, Ohio, geboren. Er besitzt die US-amerikanische und israelische Staatsbürgerschaft. Seinen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften erhielt er 1989 von der Princeton University. Er ist Mitbegründer und Direktor der Blueprint Labs des MIT.

Guido W. Imbens

Guido W. Imbens ist Professor für Angewandte Ökonometrie und Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Stanford Graduate School of Business. Er wurde 1963 in Geldrop in den Niederlanden geboren. Er besitzt sowohl die US-amerikanische als auch die niederländische Staatsbürgerschaft. Seinen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften erhielt er 1991 von der Brown University.

Phil Thornton

Phil Thornton ist leitender Berater auf freiberuflicher Basis bei Clarity Economics, einem Beratungs– und Schreibservice, den er nach seiner 15-jährigen Laufbahn als Zeitungsjournalist gründete. Clarity Economics (www.clarityeconomics.com) befasst sich mit allen Geschäfts– und Wirtschaftsbereichen, wie beispielsweise der Makroökonomie, dem Welthandel, den Finanzmärkten, der Fiskalpolitik sowie Steuern und Regulierung. Seine Artikel wurden in einer Reihe von namhaften Publikationen wie The Wall Street Journal, The Independent, Independent on Sunday, The Guardian, The Times, The Daily Telegraph, Financial Director, Emerging Markets, City AM sowie PM-Select veröffentlicht. Zudem schreibt er regelmäßige Wirtschaftskolumnen für Procurement Leaders. Jüngste Projekte beinhalten eine Reportserie für Business in the Community, die die Stellung von ethnischen Minderheitengruppen innerhalb der britischen Belegschaft thematisiert. Hinzu kommen die Ausarbeitung von Vorschlägen zur Reform des EU-Haushalts für Business for a New Europe sowie eine Auswertung des britischen Finanzsystems für The Centre for the Study of Financial Innovation (CSFI). 2010 gewann Thornton die Auszeichnung Future Journalist of the Year im Zuge der WorkWorld Media Awards. Drei Jahre zuvor wurde ihm der Titel Print Journalist of the Year verliehen. Bis 2007 war er acht Jahre lang Wirtschaftskorrespondent bei der Londoner Zeitung The Independent.