Veröffentlicht 13. März 2019 von Jude Dineley
Grundlagenforschung: Was hat die Physik eigentlich je für uns getan?
Ich gebe zu, ich stelle diese Frage mit einem Augenzwinkern, denn mir ist der unermessliche Nutzen der physikalischen Grundlagenforschung für die Menschheit selbstverständlich bewusst. Es war schließlich genau das, woran Alfred Nobel feierlich erinnern wollte, als er die nach ihm benannte Auszeichnung ins Leben rief. In manchen Fällen ist dieser Nutzen jedoch offenkundiger als in anderen.
Denken wir nur an die kleine blaue Leuchtdiode, für deren Erfindung Isamu Akasaki, Hiroshi Amano und Shuji Nakamura 2014 den Nobelpreis für Physik erhielten. Ihre Entwicklung hatte enorme Auswirkungen, denn dieses Leuchtmittel bildete das letzte Puzzlestück, das notwendig war, um die alte Technik – Glühbirnen und Leuchtstofflampen – durch LEDs zu ersetzen.
Zwar sind Leuchtdioden gerade einmal so groß wie ein Fingernagel, dennoch übersteigt ihre Lebensdauer die einer Glühbirne um das 100-Fache. Gleichzeitig verbraucht sie nur einen Bruchteil des Stroms, was nicht nur den CO2-Ausstoß senkt, sondern auch die Stromrechnung. Besonders wer abgelegen wohnt oder nur über begrenzte finanzielle Mittel verfügt, profitiert von diesem Leuchtmittel, das sich unabhängig vom Stromnetz aus erneuerbarer Energie speisen kann.
Hier hatte die physikalische Forschung ein genau definiertes Ziel, ihr Einfluss auf die Gesellschaft war vorhersehbar und die Technologie konnte sich rasch im Alltag etablieren. Doch nicht immer ist ihr Nutzen so eindeutig bzw. unmittelbar. In der physikalischen Grundlagenforschung tätige Wissenschaftler möchten für gewöhnlich nicht die Welt verändern, sondern vielmehr das Universum besser verstehen.
Die zweifache Nobelpreisträgerin Marie Curie machte aus ihrer Motivation keinen Hehl. Auch wenn dies in der Öffentlichkeit immer wieder anders dargestellt wurde, war ihr Ziel keineswegs Krebspatienten zu helfen: „Wissenschaftliche Arbeit darf nicht vom Standpunkt der unmittelbaren Nützlichkeit betrachtet werden. Sie muss um ihrer selbst willen erfolgen, wegen ihrer Schönheit“, erklärte sie im Jahr 1921.
Können Sie sich vorstellen, dass man heutzutage einen Politiker mit derartigen Äußerungen überzeugen könnte, ein neues Teleskop oder einen Teilchenbeschleuniger zu finanzieren? Eher nicht. Doch so romantisch diese Sätze auch klingen mögen, sie sind durchaus wahr. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass Grundlagenforschung eine Art Wissenspipeline für die angewandte Forschung ist (und umgekehrt). Ohne sie hätte es zahlreiche Fortschritte – nicht nur in der Physik –schlicht und einfach nicht gegeben.
Erfolge mit Langer Vorgeschichte
Ein klassisches Beispiel hierfür ist die GPS-Technologie. Mit ihrer Hilfe werden heute Verkehrsflugzeuge navigiert; man kann damit aber auch einfach nur nachverfolgen, wo genau sich der Pizzabote gerade befindet. Im Jahr 2017 besaß diese Technologie einen geschätzten Marktwert von 38 Milliarden US-Dollar, Tendenz steigend. Hier war Albert Einsteins vor mehr als einem Jahrhundert entwickelte Relativitätstheorie von ausschlaggebender Bedeutung, ebenso wie auch auch andere Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung, die zur Entwicklung der Atomuhr führten.
Noch unmittelbarer kann sich die zur Anwendung als Detektoren, Materialien und Algorithmen in der Grundlagenforschung entwickelte High-End-Technologie außerhalb des akademischen Umfelds als nützlich erweisen. Ein berühmtes Beispiel ist die von australischen Astronomen entwickelte Wi-Fi-Technologie. Heute jeden Tag milliardenfach angewendet, wurde diese Technologie ursprünglich im Rahmen der wissenschaftlichen Suche nach ultraschwachen Radiosignalen aus winzigen schwarzen Löchern entwickelt, wobei die schwarzen Löcher letztendlich nie gefunden wurden.
Zeig Mir das Geld!
Damit sachgerechte Entscheidungen bezüglich der Finanzierung von Forschungsvorhaben getroffen werden können, wurde versucht, den Wert der Grundlagenforschung zu ermitteln, was angesichts der steigenden Kosten auf diesem Gebiet von besonderer Bedeutung ist – während das Ehepaar Curie ihr Radium noch in einem alten Schuppen isolierte, kostete das Projekt LIGO, in dem erstmals Gravitationswellen nachgewiesen wurden, mehr als eine Milliarde US-Dollar.
Diese Aufgabe ist schwierig, da in den meisten Studien eine quantitative Beurteilung der langfristigen Auswirkungen im Rahmen der Grundlagenforschung gewonnener Erkenntnisse fehlt. Genau das ist aber der entscheidende Beitrag, den diese Forschung leistet. Doch ihn zu ermitteln erschien bislang kaum möglich: Wie berechnet man den Wert der Relativitätstheorie?
Der italienische Physiker Stefano Forte und die Wirtschaftswissenschaftler Massimo Florio und Emanuela Sirtori teilten diese Ansicht, als sie 2016 eine Kosten-Nutzen-Analyse des Large Hadron Colliders (LHC) durchführten. Der langfristige Nutzen von Entdeckungen sei „ein Extrabonus für künftige Generationen, ermöglicht durch die Steuerzahler von heute“, so ihr Fazit.
Trotz konservativer Berechnung fielen ihre Ergebnisse positiv und sehr deutlich aus: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Nutzen des LHC seine Kosten um 2,9 Milliarden US-Dollar übersteigt, liegt bei 90%. Grund hierfür sind in erster Linie Humankapitaleffekte – insbesondere die vorteilhaften Auswirkungen auf die berufliche Laufbahn junger Forscher infolge ihrer Tätigkeit am CERN – sowie Ausstrahlungseffekte die Technik betreffend. Ein Beispiel hierfür ist die an dem genannten Forschungszentrum entwickelte freie Datenanalyse-Software ROOT, die mittlerweile zehntausende Nutzer außerhalb der Hochenergiephysik, vor allem in der Finanzwelt, einsetzen.
Sollte die Finanzierung physikalischer Grundlagenforschung angesichts derartiger Vorteile also nicht definitiv außer Frage stehen? Die gute Nachricht ist, dass die Öffentlichkeit ihre Bedeutung mittlerweile erkennt. In einer 2014 durchgeführten Studie stimmten beispielsweise 71% der Amerikaner der Aussage zu, dass sich Investitionen in die Grundlagenforschung „für gewöhnlich langfristig auszahlen“.
Schwierige Wahl
Zumindest von der politischen Warte aus wird das Bild jedoch durch verschiedene Faktoren getrübt. Zum einen ist die Wissenschaft ohnehin im Allgemeinen nur einer von vielen Bereichen, die staatlich gefördert werden. Zudem umfasst der Zeitraum bis zur praktischen Umsetzung eines wissenschaftlichen Durchbruchs in der Größenordnung der Relativitätstheorie in eine das Leben verändernde Technologie – wir sprechen hier über Jahrzehnte – weit mehr als die Legislaturperiode, die oftmals den zeitlichen Rahmen für politische Entscheidungen bildet.
Eine Fokussierung auf die klassische angewandte Forschung mit ihren greifbareren Zielen und rascheren Vermarkungsmöglichkeiten kann insbesondere in schwierigen Zeiten verlockend sein. Infolge der globalen Finanzkrise im Jahr 2007/2008 zogen beispielsweise die Regierungen in den USA und Kanada Fördergelder aus der Grundlagenforschung ab.
Erst kürzlich verliehen die Leiter von sechs großen Forschungsorganisationen, unter ihnen die Max-Planck-Gesellschaft, ihren Bedenken in Bezug auf das nächste große EU-Finanzierungsprogramm ‚Horizon Europe‘ Ausdruck. Sorgen bereitet ihnen die ihrer Ansicht nach erfolgende Verlagerung des Förderschwerpunkts auf die angewandte Forschung, was sich unter anderem in einer vergleichsweise geringen Erhöhung der Forschungsgelder für die Grundlagenforschung bemerkbar mache. Sicherlich sind beide Arten von Forschung wichtig, doch wie bringt man sie ins Gleichgewicht?
Beim Blick in die Zukunft können wir nur träumen, wie die Grundlagenforschung unsere Welt verändern oder sogar retten könnte. An Herausforderungen wird es mit Blick auf die wachsende Weltbevölkerung und den angesichts des Klimawandels immer dringenderen Handlungsbedarf nicht mangeln. Wird der nächste wissenschaftliche Meilenstein auf dem Higgs-Boson basieren? Was wird das neue GPS? Nur eines ist sicher: Wenn wir die Früchte der Grundlagenforschung ernten wollen, müssen wir auch weiterhin den Samen für sie pflanzen. Denn in der Wissenschaft wie im Gartenbau gilt: Nur was lange währt, wird endlich gut.