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Veröffentlicht 25. April 2019 von Meeri Kim

Eine neue Generation von Superkollidern

In den frühen 60er Jahren schien die führende Theorie der Elementarteilchen und ihrer Wechselwirkungen — die jetzt Standardmodell genannt wird — vor dem Zusammenbruch zu stehen. Nach der Entwicklung der Quantenelektrodynamik wollten die Physiker die schwache Wechselwirkung verstehen. Mehrere auf der Quantenfeldtheorie basierende Vorschläge tauchten auf, aber alle hatten einen großen Haken. Sie funktionierten nur, wenn die Teilchen keine Masse besaßen, was für die drei schweren Teilchen, die die schwache Wechselwirkung vermitteln, sehr weit entfernt von der Realität war.

Die bahnbrechende Arbeit dreier unabhängiger Gruppen im Jahr 1964 brachte eine Lösung, die das Standardmodell vor dem Abstellgleis rettete und unser Verständnis des Universums voranbrachte. Der von diesen Physikern beschriebene Mechanismus beinhaltet, dass Teilchen ihre Masse durch eine Wechselwirkung mit einem unsichtbaren Skalarfeld erhalten, das später Higgs-Feld genannt wurde.

Nahezu ein halbes Jahrhundert später entdeckte ein Team, das am Large Hadron Collider (LHC) am CERN-Labor in der Schweiz arbeitete, das Teilchen, das mit dem Higgs-Feld assoziiert ist, das schwer fassbare Higgs-Boson. Ein Jahr später erhielten François Englert und Peter Higgs — zwei der Physiker, die den Mechanismus präsentiert hatten — den Physik-Nobelpreis im Jahr 2013 für ihre somit bestätigte Theorie, wie Teilchen ihre Masse beziehen.

Das Auffinden des Higgs-Bosons, dem letzten unentdeckten Mosaikstein des Standardmodells, erhielt weltweite Aufmerksamkeit und Lob. Es bleibt das Kronjuwel unter den zahlreichen Errungenschaften, die mit dem LHC während seines zehnjährigen Betrieb erzielt wurden. Der Beschleuniger selbst ist ein Wunderwerk, der bis heute der größte und leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger der Welt ist.

 

Eine Welt nach dem LHC

Eine neue Generation von ‚Superkollidern‘ ist aber im Anmarsch, den LHC vom Thron zu stoßen. Gruppen in China und der Europäischen Union haben jüngst Pläne für Teilchenbeschleuniger bekanntgegeben, die die Größe, Leistung und Geschwindigkeit des vorherigen Weltrekordhalters in den Schatten stellen werden. Im Jahr 2018 veröffentlichte ein Team an Pekings Institut für Hochenergiephysik (IHEP) einen konzeptionellen Designbericht für den China Electron Positron Collider (CEPC) mit einem 100km langen unterirdischen Tunnel. Am Anfang dieses Jahres enthüllten Physiker am CERN einen Entwurf für ihren eigenen Future Circular Collider (FCC) mit 100km Umfang. Beide werden den LHC mit seinem 27km lange Umfang klein erscheinen lassen.

Es gibt einige, die bezweifeln, ob diese Multimilliarden-Dollar-Megaprojekte ihre extorbitanten Kosten rechtfertigen werden. Der erste Teil des FCC-Projekts, ein Elektron-Positron-Beschleuniger, beläuft sich auf etwa 9 Milliarden Dollar. Die Schätzung für den CEPC beträgt etwa 6 Milliarden Dollar. Die eigentliche Frage ist aber, was die nächste Generation der Superkollider in Sachen wissenschaftlicher Ergebnisse beisteuern wird? Anders gesagt, wie wird die Welt nach dem LHC wirklich aussehen?

Zum einen eröffnet die Entdeckung des Higgs-Bosons ein neues Forschungsfeld an dem Teilchen selbst. Dem konzeptionellen Designbericht nach ist die größte garantierte physikalische Zielsetzung des FCC, ein besseres Verständnis für das Higgs-Boson zu entwickeln. Das Team möchte die fundamentalen Ursprünge des Higgs-Feldes, wie auch den Ursprung der Masse und die Selbstwechselwirkungsparameter seines entsprechenden Teilchens angehen. Der FFC könnte ein Fenster in neue, verborgene Bereiche jenseits des Standardmodells aufstoßen, da die Theorie die dunkle Materie, die mehr als 80 Prozent der gesamten Materie ausmacht, nicht erklärt. Zusätzlich könnte der Superkollider die Gründe für die mysteriöse Materie-Antimaterie-Asymmetrie erkunden, die unsere Existenz erst ermöglicht.

Ins Leben gerufen im Jahr 2013 startet das FCC-Projekt mit dem Bau eines 100km langen unterirdischen Tunnels, der einen hochpräzisen Elektron-Positron-Beschleuniger (FCC-ee) hoher Luminosität aufnimmt. Der Beschleuniger wird Elektronen und ihre Gegenstücke aus Antimaterie bei Energien bis zu 360 GeV zusammenstoßen lassen, und damit detaillierte Untersuchungen zu den Z-, W-, Higgs- und Top-Teilchen ermöglichen. Er würde beispielsweise präzise Messungen der Massen der Z- und W-Bosonen gestatten, wie auch eine genauere Analyse des Higgs-Bosons.

Die erste Phase, die etwa um 2040 herum begänne, beinhaltet, den Beschleuniger vier Jahre lang bei 91 GeV laufen zu lassen, um 10^13 Z-Bosonen zu erzeugen. Danach wird der FCC-ee bei 160 GeV betrieben werden, um zwei Jahre lang 10^8 W+ und W- Teilchen zu erzeugen. Für die drei Jahre danach wird er eine Million Higgs-Bosonen bei einem 240 GeV-Betrieb produzieren. In der letzten Phase wird der Beschleuniger auf seine Spitzenenergie von 360 GeV gebracht, um über einen Zeitraum von fünf Jahren eine Million Top- und Anti-Top-Paare zu erzeugen.

Nachdem der FCC-ee-Teil des Projektes ausgelaufen ist, besteht der Vorschlag, dass derselbe 100km Tunnel umgebaut werden kann, um einen 100 TeV Proton-Proton-Beschleuniger (FCC-hh) zu beherbergen. Bei siebenmal höheren Energien als beim LHC könnte der FCC-hh völlig neue Teilchen mit größeren Massen bis zu mehreren zehn TeV generieren. Der konzeptionelle Designbericht konstatiert, dass der neue Beschleuniger „ein direktes Entdeckungspotenzial von mehr als dem fünffachen des LHC besitzen wird“, wenn Teilchen wie Z‘- oder W‘-Eichbosonen, die neuen Fundamentalkräften entsprechen, oder Gluinos und Squarks in supersymmetrischen Theorien gesucht würden. Der FCC-hh würde seinen Betrieb in den späten 2050er Jahren aufnehmen und etwa 17 Milliarden Dollar kosten.

 

Higgs-Boson-Ereignis aus Kollisionen zwischen Protonen im CMS-Detektor am LHC. Bei der Kollision in der Mitte zerfällt das Teilchen in zwei Photonen (gestrichelte gelbe Linien und grüne Türme). © CMS/CERN

Chinas Higgs-Fabrik

Auch wenn der Vorschlag des FCC erfolgversprechend klingt, könnte ein weiterer Superkollider die Ziellinie schneller erreichen. China hofft, seinen CEPC bis 2030 zum Laufen zu bringen, ein Jahrzehnt früher als der FCC. Der Beschleuniger wurde bereits „eine Higgs-Fabrik“ genannt, die in sieben Jahren mehr als eine Million Higgs-Bosonen produzieren wird. Er besteht aus einem 100km langen unterirdischen Tunnel mit einem Doppelring-Beschleuniger. Elektronen- und Positronenstrahlen werden in entgegengesetzte Richungen in separaten Strahlrohren umlaufen und an zwei Kreuzungspunkten aufeinander prallen.

Der CEPC wird bei einer Schwerpunktenergie von 240 GeV betrieben werden, um die Higgs-Teilchen zu generieren, aber er kann auch mit 91 GeV laufen, um eine Billion Z-Bosonen, und mit 160 GeV, um 15 Millionen W-Bosonen-Paare zu erzeugen. Ähnlich wie der FCC kann der CEPC-Tunnel in der Zukunft auch einen Proton-Proton-Beschleuniger beherhergen. Der IHEP plant, 7 Jahre für die Higgs-Physik bereitzustellen, gefolgt von zwei Jahren im Z-Modus und einem Jahr im W-Modus. Etwa im Jahr 2040 wird die Installation des Super-Proton-Proton-Colliders (SPPC) im gleichen Tunnel beginnen.

In Bezug auf wissenschaftliche Ergebnisse zielt der IHEP hauptsächlich darauf ab, dem Higgs-Boson seine Geheimnisse zu entlocken. Die Produktion von einer Million Higgs-Bosonen ermöglicht Präzisionsmessungen der Higgs-Kopplung, den Wechselwirkungen zwischen dem Higgs-Feld und anderen Teilchen, das letzteren die Masse verleiht. Die Fokussierung des zweijährigen Z-Laufs wird bei genaueren Messungen der elektroschwachen Wechselwirkung sein, die die vereinigte Beschreibung des Elektromagnetismus und der schwachen Wechselwirkung darstellt. Er liefert auch eine Gelegenheit, neue Physik zu suchen, die den Ursprung der Neutrinomasse und den dunklen Bereich einschließt. Als Letztes ist es das Ziel des W-Laufs, die W-Masse mit einer Präzision von 1 MeV zu messen.

Trotz der ehrgeizigen Natur beider Projekte kann niemand vorhersagen, ob der CEPC und der FCC ihre Versprechungen von neuen Entdeckungen auch einhalten werden. Einige kritische Stimmen wurden laut – beispielsweise eine Meinungsäußerung der früheren Teilchenphysikerin Sabine Hossenfelder, die meint, dass ein großes Projekt wie der FCC zugunsten kleinerer, kostengünstigerer Experimente aufgegeben werden sollten, die uns zunächst sagen, ob sein Bau sich überhaupt lohnt.

Eines steht aber fest. Der bloße Prozess, diese kolossalen Instrumente zu bauen, unzählige Experimente durchzuführen, und an einem gemeinsamen Forschungsziel teilzuhaben, wird die wissenschaftliche Forschung, Ingenieurwissenschaften und Technologie an nie zuvor gesehenen Grenzen führen. In einer Welt, in der nationalistische Bewegungen wachsen, könnte eine internationale Zusammenarbeit wie CERN in der Zukunft zugunsten nationaler Projekte wie Chinas CEPC bedroht sein. Aber letzten Endes gibt es die Hoffnung, dass diese Bemühungen in einer Belohnung münden, die einen positiven Einfluss auf die gesamte Menschheit hat.

Meeri Kim

Dr. Meeri N. Kim, arbeitet als Wissenschaftsautorin und verfasst regelmäßig Beiträge für The Washington Post, Philly Voice und Oncology Times. Sie schreibt für den Blog "To Your Health" der Washington Post und hat zudem eine Kolumne für Philly Voice mit dem Titel "The Science of Everything". Ihre Arbeit ist auch in The Philadelphia Inquirer, Edible Philly und LivableFuture erschienen. Im Jahr 2013 erhielt Kim einen Doktortitel in Physik von der University of Pennsylvania für ihre Arbeit in der biomedizinischen Optik.